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Neuntes Kapitel.
Über unser Wissen vom Dasein.

§ 1. Allgemeine gewisse Sätze betreffen nicht das Dasein. – Bisher haben wir nur die Wesenheiten der Dinge betrachtet, wobei wir, da diese nur abstrakte Ideen und als solche in unseren Gedanken von der partikularen Existenz abgesondert sind (indem bei der Abstraktion die eigentümliche Thätigkeit des Geistes gerade darin besteht, eine Idee unter dem Gesichtspunkte keines anderen Daseins zu betrachten als dessen, was sie im Versande hat), von dem realen Dasein überhaupt keine Kenntnis erhalten. Beiläufig mag deshalb hier bemerkt werden, daß allgemeine Sätze, deren Wahrheit oder Falschheit wir gewiß erkennen können, das Dasein nicht betreffen; sowie ferner, daß alle partikularen Bejahungen oder Verneinungen, die nicht gewiß wären, wenn sie verallgemeinert würden, nur das Dasein betreffen, indem sie nur die zufällige Verbindung oder Trennung von Ideen in existierenden Dingen angeben, die ihrer abstrakten Natur nach, soviel wir wissen, in keinem notwendigen Zusammenhang oder Widerstreit stehen.

§ 2. Unser Wissen vom Dasein ist dreifach. – Indem wir jedoch die ausführlichere Betrachtung der Natur von Sätzen und verschiedenen Prädikationsweisen einem anderen Orte vorbehalten, laßt uns jetzt dazu übergehen, nach unserm Wissen von dem Dasein der Dinge und danach zu fragen, wie wir zu diesem gelangen. Demnach sage ich, daß wir die Kenntnis unseres eigenen Daseins durch Anschauung (Intuition), die vom Dasein Gottes durch Beweis (Demonstration) und die vom Dasein anderer Dinge durch sinnliche Wahrnehmung (Sensation) erlangen.

§ 3. Unser Wissen von unserm eigenen Dasein ist intuitiv. – Was unser eigenes Dasein anbetrifft, so nehmen wir dasselbe so klar und gewiß wahr, daß es eines Beweises weder bedarf noch fähig ist, denn nichts kann augenscheinlicher für uns sein als unser eigenes Dasein. Ich denke, ich schließe, ich fühle Freude und Schmerz: kann eines von diesen mir einleuchtender sein als meine eigene Existenz? Wenn ich an allen anderen Dingen zweifle, so läßt eben dieser Zweifel mich mein eigenes Dasein wahrnehmen, und gestattet nicht, daß ich auch an diesem zweifeln sollte. Denn, wenn ich weiß, daß ich Schmerz fühle, so ist klar, daß ich von meiner eigenen Existenz eine ebenso gewisse Wahrnehmung habe wie von der Existenz des gefühlten Schmerzes; oder wenn ich weiß, daß ich zweifle, so habe ich eine ebenso gewisse Wahrnehmung von dem zweifelnden Dinge wie von dem Gedanken, den ich Zweifel nenne. Die Erfahrung lehrt uns also, daß wir ein intuitives Wissen von unserer eigenen Existenz haben und eine innere untrügliche Wahrnehmung davon, daß wir sind. Bei jedem Akte der Sinneswahrnehmung, des Schließens oder Denkens sind wir uns unseres eigenen Daseins bewußt, und bleiben in diesem Punkte hinter dem höchsten Grad der Gewißheit nicht zurück. Unmittelbare Gewißheit hat für uns nur das Dasein unseres individuellen Bewußtseinskreises mit seinem jeweiligen objektiven Inhalt, nicht aber die Existenz einer individuellen Seele oder eines individuellen Geistes, denen das Bewußtsein als ein Zustand, eine Eigenschaft, ein Thun oder ein Leiden zukäme. Allerdings enthält jedes Objekt als solches die Hindeutung auf ein wissendes Subjekt, es setzt dieses voraus, damit es selbst objektiv da sein, d. h. gewußt werden könne; aber das Subjekt setzt seinerseits ebenso die Objekte voraus, damit es überhaupt ein wissendes werden oder das Bewußtsein entstehen könne. Es erkennt sich selber nur im Wissen oder als das Wissen der Objekte, nicht direkt als das Subjekt des Wissens; es giebt kein unmittelbares Selbstbewußtsein, sondern nur ein durch das Bewußtsein der objektiven Welt vermitteltes. Aber dieses Bewußtsein der objektiven Welt scheint uns durch ein Stückchen ihrer selbst vermittelt zu werden, nämlich durch unser großes Gehirn oder unsern organischen Leib, zu dem das Gehirn als integrierender Bestandteil untrennbar gehört. (Vgl. die Anmerkung zu Buch II, Kapitel 9, § 3.) Das ist in der That nur ein innerhalb des Bewußtseins liegendes Anzeichen dafür, daß letzteres aus einem außerhalb seiner liegenden (transcendenten) principium individuationis entsprungen sei; wenn es aber unbeachtet bleibt, daß unsere leibliche Person als Objekt unser Bewußtsein schon voraussetzt, dann erscheint erstere als die Ursprungsstätte und der Sitz des letzteren, die übrige objektive Welt – oder eigentlich alles, was außerhalb unseres Gehirns liegt – dagegen als außerhalb unseres Bewußtseins oder (was für gleichbedeutend damit gehalten wird) »außer uns« existierend. Dann wird ferner das Prinzip der Individuation des Bewußtseins, was keineswegs für identisch mit dessen Subjekt zu halten ist, mit diesem verwechselt und zusammengeworfen, und es entsteht die Vorstellung eines individuellen Geistes oder einer individuellen Seele, die als unser »Selbst« in unserm Leibe wohnten, und deren das Bewußtsein ausmachenden Funktionen mit den Lebensfunktionen unseres Gehirns in einem kausalen Zusammenhange ständen. Diese Vorstellung des Spiritualismus glaubt der Materialismus freilich dadurch zu verbessern, daß er die Bewußtseinsfunktionen mit den Gehirnfunktionen unmittelbar identifiziert; abgesehen indessen davon, daß er die grundverschiedene Gestalt dieser beiden angeblich identischen Vorgänge in keiner Weise zu erklären, oder eine räumliche Existenz der Gedanken neben den Nervenzellen des Gehirns nachzuweisen vermag, übersieht auch er, daß die Materie selbst schon eine Bewußtseinsthatsache ist. Der Idealismus, für den die formalen Funktionen oder die subjektive Seite des Bewußtseins und dessen uns als Sinneseindrücke erscheinender objektiver Inhalt unmittelbar gegebene Thatsachen sind, die sich nur beobachten, aber nicht irgendwoher ableiten und irgendwie erklären lassen, muß sich jedes Urteils über die Natur des wissenden (und wollenden) Subjektes enthalten, und hütet sich deshalb auch davor, auf dieses Subjekt die Individualität und somit die Vielheit zu übertragen, die dem Anzeichen des transcendenten principii individuationis im Bewußtsein (unserer leiblichen Persönlichkeit) anhaften. Vgl. Schopenhauer, Grundlage der Moral § 22, vierter Absatz: »Diese dem Egoismus zum Grunde liegende Auffassung etc.«


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