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In diesem Jahr war der Herbst so schön, daß man ohne die fallenden Blätter und einzelnen grauen Regentagen sich fast noch im Sommer hatte wähnen können. Und sonnig war es auch in den Herzen: Ehemänner, Verlobte, Liebhaber waren zurückgekehrt, und überall erblühte den Menschen ein neuer Liebesfrühling.
Eines Tages wurde ein Schiff auf hoher See signalisiert. Welches von den beiden noch fehlenden würde es wohl sein, ach welches?
Sogleich bildeten sich Gruppen von Frauen, und mit angstvollen Herzen eilten sie schweigend an den Strand. Auch Gaud war da; bleich und zitternd stand sie neben Yanns Vater.
»Ich denke, daß sie's sind,« sagte der alte Fischer, »man sollte es sicher glauben! Das Deck ist rot und sie haben ein Marssegel aufgerollt – das sieht ganz so aus, als wenn sie's wären. Was meinst du, liebe Tochter?«
»Und doch, nein,« fuhr er plötzlich ganz niedergeschlagen fort, »nein, wir täuschen uns, sie sind's nicht; das ist nicht ihr Klüver, und sie haben auch einen Fockmast. Diesmal ist's die ›Marie-Jeanne‹. Aber sei nur getrost, mein liebes Kind, jetzt können sie nicht mehr lang ausbleiben!«
In ewig gleichem unerbittlichen Wechsel vergingen Tage und Nächte.
Gaud fuhr fort sich sorgfältig zu kleiden, nur um nicht wie das trostlose Weib eines Schiffbrüchigen auszusehen. Blickten sie andere mitleidig oder geheimnisvoll an, so war sie innerlich außer sich, und wich den Leuten mehr und mehr aus. Es war ihr zur Gewohnheit geworden, jeden Morgen nach Pors-Even zu gehen; sie nahm ihren Weg aber hinter dem Haus der Schwiegereltern weg, um nicht von Mutter und Schwestern gesehen zu werden, und dort auf der äußersten Landspitze, welche in Form eines Renntiergeweihes ins Meer hinausragt, verbrachte sie die Tage, indem sie am Fuß des Kruzifixes saß, das dem weiten Meer zugekehrt ist.
Solcher Steinkreuze giebt es viele; auf hohen Klippen aufgerichtet, scheinen sie das Meer um Gnade für die armen Menschen anstehen zu wollen, das nimmer ruhende Ungeheuer, welches die Seeleute anzieht und verschlingt, und zwar mit Vorliebe die schönsten und tapfersten.
Die niedrigen Ginsterbüsche auf der Heide um das Kreuz her waren das ganze Jahr über grün; die Meeresluft war sehr rein hier oben auf diesem letzten Fleckchen Erde; sie hatte kaum mehr den salzigen Geruch des Seetangs, führte hingegen köstlichen Herbstesduft mit sich. Weithin zeichneten sich die Einbuchtungen klar und deutlich ab; die Gestade der Bretagne sind sehr zackig, und die Zacken versenken sich in das endlose Meer, das an solchen stillen Tagen mit liebkosendem Plätschern den Fuß der Klippen bespülte; ein Spiel, das es in allen Buchten wiederholt, und weiter hinaus trübte nichts seinen Spiegel. Wie ruhig lag es da, das tiefblaue Grab der Gaos; undurchdringlich behielt es sein Geheimnis für sich, und schlug mit sanftem Wellenschlag auf den Strand.
Zu bestimmten regelmäßigen Stunden trat die Ebbe ein; dunkle Flecke wurden überall sichtbar, als wollte sich das Ärmelmeer langsam entleeren, und eben so langsam deckte sie die Flut, die höher und höher stieg im ewigen Wechsel des Kommens und Gehens der Gewässer, unbekümmert um die Toten, die ihre Fluten begruben.
Und am Fuß des Kreuzes saß Gaud und schaute nimmermüde so lang auf das Meer hinaus, bis sie nichts mehr sehen konnte.