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Rosegger hat das Haus einmal »die getreueste Verkörperung der Volksseele« genannt. Ein Wort, das aus alle Zeiten und alle Völker zutrifft. Die Zinskasernen unserer Tage werden späteren Geschlechtern ebenso getreue Berichte von der maßlosen Überschätzung des Geldes und der Unterschätzung aller übrigen Lebenswerte durch die heutige Generation geben, wie die Paläste der Renaissance zu uns von Menschen sprechen, die das Geld so gering achteten, daß sie es mit vollen Händen hinausstreuten. Aber nicht nur, daß das Haus den Charakter seines Bauherrn offenbart, es nimmt die Geschichte einer ganzen Familie in sich und erzählt sie, wenn längst der Letzte des Stammes zu Grabe getragen, dem, der des Hauses Sprache zu lesen gelernt, treuer oft als das geschriebene Wort. Denn das Haus überdauert das Leben des einzelnen. Und jeder nachfolgende Besitzer drückt ihm die Eigenarten seiner Persönlichkeit ein, ändert hier und dort, verbessert dieses und jenes, baut zu und bricht ab.
Wie aus dem Einzelhaus der Charakter seiner Bewohner, so spricht aus der Ortschaft der Charakter ihrer Bevölkerung, wer die engen, unsagbar malerisch-schmutzigen Gassen Alt-Rizzas durchschreitet, wird ohne Reisebuch wissen, daß die Bevölkerung Nizzas nicht französischer, sondern italienischer Abstammung ist. Die ernsten, umrißscharfen Städtebilder Norddeutschlands, das heitere, kunterbunte Giebel- und Erkergewirre süddeutscher Städte, entsprechen beide der in vieler Beziehung so verschieden gearteten Veranlagung der Bevölkerung.
Kein Land weist aus so kleinem Flächenraum eine größere Verschiedenheit des Städtebildes auf, als Tirol, von den rein italienischen Straßen Trients bis zum grunddeutschen Salinenstädtlein Hall, von dem laubenreichen, prunkvoll gebauten Bozen bis zu dem bäuerlich-dörfischen Kitzbühel, welch ein Unterschied!
Um diesen Gegensätzen aus den Grund zu kommen, ist es notwendig, nach der Stammeszugehörigkeit der Tiroler Bevölkerung zu fragen.
Für die vielen, vielen Fremden, die Jahr für Jahr nach Tirol kommen, auf den Bergen die Schutzhütten und in den Städten die sogenannten Nationalfänger aussuchen, ist Tirol ein einheitlicher, fester Begriff, der sich mit hohen Bergen, guter Luft, frischer Butter, Andreas Hofer und Anno neun so ziemlich erschöpft. Von den Bewohnern wird im allgemeinen angenommen, daß sie bieder, zuweilen etwas einfältig, schrecklich bigott, kaisertreu und, soweit sie männlichen Geschlechts, vorzügliche Gemsjäger seien. Bezüglich des Aussehens hält man sich mit Vorliebe an Defreggers beliebte Genrebilder. Nur besonders kritisch Veranlagte bemerken zuweilen, daß Defreggers ach so schmuckvolle Tirolertypen nur auf dem Theater, nirgends aber im Lande zu erblicken sind. Schließlich darf auch noch als gemeiniglich bekannt angenommen werden, daß das südlichste Südtirol von Italienern bewohnt wird.
Wer mit dieser Bädekerweisheit Tirol durchwandert, dem kann das Land freilich nichts anderes geben, als die Fernschau von seinen Gipfeln, die frische Butter und die echten Koschatlieder der Nationalsänger. Dem erzählen weder Städte noch Dörfer ihre bis ins fernste Grau der Heidenzeit zurückreichende Geschichte, für den sind die Zäune am Wege, die Kapellen und Bildstöcke, die Gehöfte und Stadel, die stillen Wege und Straßen, diese Träger uralter Kultur, stumme Zeugen aus der Vergangenheit, der hört nicht der seltsamen Sagen und Legenden Berichte über eine Zeit, da die Täler Tirols noch von Urwäldern bedeckt waren, über die Hochalpen sich unendliche Zirbelhaine erstreckten und dort, wo heute schauerliche Kaare ihre lebensvernichtenden Schuttzungen herabstrecken, saftige Grasweiden ihre grünen Teppiche auslegten.
Daß die Berge Tirols, wie die Alpen überhaupt, schon in vorrömischer Zeit bewohnt waren, ist durch zahlreiche Funde, die bis in die Bronzezeit, ja zum Teil bis in die Steinzeit zurückreichen, sichergestellt. Über die Frage jedoch, welcher Rasse die ersten Bewohner angehörten, herrscht unter den Forschern großer Streit. Da es früher sehr beliebt war, Urvölkern, deren Abstammung man nicht festzustellen vermochte, keltische Stammeszugehörigkeit anzudichten, so reihte man auch lange Zeit die Urbevölkerung Tirols unter die Kelten ein. Zu dieser Ansicht bekennen sich aber heute nur mehr ganz wenige. Die neueren Forscher führen je nach ihrer Fachzugehörigkeit eine kleinere oder größere Zahl von Gründen dafür ins Treffen, daß Tirol einstmals von Etruskern, Ligurern, Pelasgern, Venetern bewohnt gewesen sei, ja in neuester Zeit ist auch die Meinung aufgestellt worden, daß die Bevölkerung Tirols mit demselben kaukasischen Volksstamme identisch sei, der die Berge Albaniens bewohnt. Selbst die Hypothese, daß die Urbewohner der Alpen einer den semitischen Völkern nahestehenden Rasse angehört hätten, hat Verfechter gefunden. Da es vermutlich bei dem »Gotteswort und Gelehrtenstreit, dauern fort in Ewigkeit« für absehbare Zeit sein Bewenden haben dürfte, so genügt es für unseren Zweck zu wissen, daß die Rassezugehörigkeit der Urbevölkerung Tirols in wissenschaftliches Dunkel gehüllt ist. Genauere Nachrichten sind uns erst aus der Blütezeit der Römerherrschaft in Italien zugekommen. Aus den Aufzeichnungen römischer Geschichtsschreiber wissen wir, daß die Römer mit der Nachbarschaft der wilden Alpenvölker lange Zeit hindurch große Anstände hatten, weil diese häufig verheerende Raubzüge über die Nordgrenzen unternahmen. Nachdem wiederholte Strafexpeditionen erfolglos geblieben waren, entschloß man sich in Rom, die »Räter«, das war der römische Sammelnamen für diese Bergvölker, ein für allemal zu unterwerfen. Im Jahre 15 v. Chr. marschierte eine römische Invasionsarmee unter Drusus in Tirol ein, schlug die Räter in einer Reihe von erbitterten Gefechten, erstürmte ihre Ringburgen und befestigten Dörfer und drang entlang der Etsch bis in die heutige Gegend von Meran und von dort durch den Vintschgau bis an den Bodensee, wo sie sich mit der zweiten römischen Armee, die durch die Schweiz vorgerückt, vereinigte. Nachdem schließlich auch der Widerstand Nordtirols besiegt worden war, wurde das gesamte eroberte Gebiet als Provinz Rätien mit der Hauptstadt Augusta Vindelicorum (heute Augsburg) dem römischen Reiche angegliedert.
Die Römer begannen nun sofort die neue Provinz auch kulturell dem Reiche einzuverleiben. Nicht nur, daß sie prächtige Heerstraßen, von denen noch später die Rede sein wird, bauten, an wichtigen strategischen Punkten Forts anlegten und darin ständige Besatzungen unterhielten, sie siedelten auch römische Kolonisten aus dem Reiche an der Stelle der zerstörten Räterdörfer an. Die Fruchtbarkeit des südtiroler Bodens und das prachtvolle, milde Klima waren wohl die Hauptursachen, daß die Kolonisierung der neuen Provinz so überraschend schnell gelang. In ganz kurzer Zeit blühte nicht nur eine Reihe römischer Ortschaften und Städte empor, es entstanden auch in besonders günstigen Lagen, so im Mittelgebirge zwischen Meran und Bozen auf den Hügeln von Überetsch, an den Lehnen von Neumarkt große Villenkolonien reicher römischer Familien, die aus der Glut des italienischen Sommers in die Alpen flüchteten. Tiroler Obst und Tiroler Wein wurde hochberühmt, vier Jahrhunderte blieben die Römer Herren des Landes. In dieser Zeit entstanden Tridentum (das heutige Trient), Pons Drusi (Bozen), Maja (Mais bei Meran), Sabionae (Säben bei Klausen), Brichsna (Brixen), Vipitenum (Sterzing), Matrejum (Matrei), Veldidena (Wilten bei Innsbruck), Lonicum (Lienz), Prissianum (Prissian) und viele andere kleinere Ortschaften, deren lateinische Namen sich mehr oder weniger verändert bis auf den heutigen Tag erhalten haben. Es ist nicht anzunehmen, daß in der Zeit der Römerherrschaft eine bemerkenswerte Vermischung der Rassen stattgefunden hat. Ebensowenig wie sich heute die Kolonialpolitik treibenden Nationen, die Engländer, Franzosen und Deutschen, mit der Bevölkerung der Kolonien vermischen, sind die römischen Ansiedler in den Rätern aufgegangen. Die Bewohner eroberter Provinzen waren sowohl in rechtlicher wie auch in sozialer Beziehung den römischen Staatsangehörigen untergeordnet. Mischehen sind Ausnahmefälle geblieben, um so mehr, als die rätische Bevölkerung das ackerbautreibende, bäuerliche, die römische hingegen das städtische Element bildete. War also auch während dieser vier Jahrhunderte römischer Verwaltung von einem Assimilationsprozesse zwischen der rätischen Urbevölkerung und dem italienischen Herrenvolk keine Rede, so färbte das Römertum doch im Laufe der Zeit stark ab. Am stärksten machte es sich auf sprachlichem Gebiete bemerkbar. Das alte rätische Idiom wurde im Laufe der Jahrhunderte zwar nicht vollständig, aber doch so stark romanisiert, daß eine selbständige Mischsprache, das Rätoromanische oder Rätoladinische daraus entstand. Dem gleichen Vorgang verdankt ja auch das Spanische, Französische, Rumänische sein Entstehen. Das Rätoladinische hat sich in Tirol und in einigen Teilen der Schweiz, die gleichzeitig mit Tirol unter römische Herrschaft kamen, bis zum heutigen Tage erhalten, und zwar wird es in Tirol kurzweg als »Ladinisch«, in der Schweiz als »Romanisch« bezeichnet. Für unser Thema ist es von Wichtigkeit festzuhalten, daß die Romanisierung der rätischen Sprache nicht gleichbedeutend war mit der Romanisierung des Volkes. Gerade der Umstand, daß das Lateinische nicht zur Verkehrssprache in Tirol wurde, sondern daß es nur äußerlich auf die alträtische Aussprache abfärbte, bildet den sicheren Beweis, daß die rätische Bevölkerung sich in überwiegender Mehrheit befunden und als Rasse erhalten hat.
Die Stürme der Völkerwanderung fegten das römische Reich hinweg und damit auch die römische Herrschaft in Rätien. Damals mag die Bevölkerung Tirols recht schlimme Zeiten mitgemacht haben. Germanische Völkerschaften durchzogen, alles vernichtend, wiederholt das Land. Zuerst die Ostgoten, die unter Theodorich Südtirol bis zum Brenner hinauf besetzten, Trient mit neuen Mauern umgaben und in stetem erbitterten Kampfe mit den in die hintersten Täler geflüchteten rätischen Bergbewohnern lagen.
Diese gefährlichen Reckenfahrten der kampffrohen Goten, aber besonders des »degens so vermezzen, der was geheizen Dietrich« sind in dem Heldengedichte von Laurins Rosengarten der Nachwelt überliefert worden. Aber die Herrlichkeit der Goten dauerte nicht lange. Von den Byzantinern 553 aus allen festen Plätzen geworfen, auf das Haupt geschlagen und zersprengt, flüchteten die letzten Reste des gotischen Volkes die Etsch entlang in die Berge, wo sie erst in schwer zugänglichen Seitentälern, dem Ultental, Sarntal und Passeiertal Sicherheit und Ruhe fanden und sich, hochstämmig, hellfarbig, geradsinnig bis auf den heutigen Tag unvermischt erhalten haben.
Die Byzantiner kamen kaum dazu die Früchte ihres Sieges zu ernten. Denn die Langobarden entrissen ihnen wenige Jahre später Oberitalien und damit auch die Herrschaft über Rätien.
Schon vorher waren die Alemannen und Bajuvaren in Nordtirol eingedrungen und hatten dieses, aller römischen Garnisonen entblößte Land an sich gerissen. Die Bajuvaren rückten sogar ins Eisaktal bis gegen Klausen nach Süden vor, wo sie beim Heselinenbrunnen einen großen Sieg über die römischen Besatzungstruppen errangen, dessen Gedächtnis sich in der Volkssage bis heute erhalten hat. Als die Völker Europas endlich wieder zur Ruhe gekommen waren, lagen die Verhältnisse in Tirol so:
Den Süden behaupteten bis zur heutigen Sprachgrenze bei Salurn herauf die Langobarden, den Nordosten die Bajuvaren, den Nordwesten die Alemannen. Die neuen Eroberer hielten aber nur die Haupttäler und die schönsten und fruchtbarsten unteren Hänge besetzt. In die unzugänglichen Seitentäler und in die oberen Höhen hatten die Räter sich geflüchtet und bauten dort ihre nun schon zum zweitenmal verwüsteten Wohnstätten neuerdings auf. Bei dieser Verteilung ist es im großen und ganzen bis heute geblieben. Nur daß langsam, Jahrhundert um Jahrhundert, unter dem Einflusse der deutschen Vorherrschaft die rätische Urbevölkerung mehr und mehr ihre Sprache und vielfach auch Vätersitte und Väter Brauchtum verlor. In Südtirol hingegen drang ebenso langsam das Italienische vor. Nicht durch die Räter, sondern durch die Langobarden begünstigt. Denn diese hatten, kaum in Oberitalien fest angesiedelt, alsobald begonnen, ihre Muttersprache gegen das Römische einzutauschen. Das Versinken dieses prächtigen deutschen Volkes im Romanentum gehört zu den traurigsten Kapiteln deutscher Geschichte. Durch die Langobarden ist das Römische denn auch nach Südtirol eingedrungen und hat nach und nach den zähen Widerstand des Rätoladinischen gebrochen.
Im 8. Jahrhundert dürfte man in Tirol noch ziemlich allgemein rätoladinisch gesprochen haben, im 15. Jahrhundert sprach man es noch in allen Seitentälern, im 17. im ganzen Vintschgau. Heute spricht in Tirol nur mehr die Bevölkerung der vier großen Dolomitentäler die alte Vätersprache, nämlich die Bewohnerschaft von Gröden, Buchenstein, Fassa und Ampezzo. Für diese Alttiroler hat sich der Name Ladiner eingebürgert, während man ihre Sprache kurzweg als das Ladinische bezeichnet.
Wir kommen daher zum folgenden Schlußergebnis über die heutige Bevölkerung Tirols:
Tirol wird zum weitaus größten Teile von einer Bevölkerung nichtdeutscher Abstammung bewohnt, die jedoch bis auf kleine Reste ihre eigene Sprache aufgegeben und an deren Stelle in Nord- und Mitteltirol das Deutsche, in Südtirol das Italienische angenommen hat. In den Städten und Ortschaften an der großen Durchzugsstraße von Deutschland nach Italien war die Bevölkerung rein deutsch, inwieweit eine Vermischung oder Verschiebung stattgefunden hat, ist bei dem vielseitigen Zu- und Abgang nichtdeutscher Bevölkerung schwer zu entscheiden. Das Unterinntal von Kufstein bis Schwaz weist rein bajuvarische Bevölkerung auf, das Lechtal und das westliche Vorarlberg rein alemannische.
Dieser knappe historische Rückblick war nötig, um manche Eigenarten und scheinbare Widersprüche in der Anlage der Tiroler Städte erklären zu können. Allerdings ist der Hausbau nicht allein der Niederschlag bestimmter nationaler Eigenschaften, da auch lokale Verhältnisse, so insbesondere die Eigenheit des Klimas und Baugrundes, Mangel oder Überfluß an gewissen Baumaterialien, ja teilweise sogar die Volkszugehörigkeit des Baumeisters von bedeutendem Einfluß sind. Doch wird im allgemeinen der bajuvarische Unterinntaler, wie immer er baut, sich bemühen, sein Haus mit allen durch die Gewohnheit der Geschlechter ihm ins Blut gewachsenen Eigenheiten erstehen zu lassen, wie der Italiener, wenn irgend möglich, auch im Norden von der Würfelform und dem Flachdache nicht abgeht.