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35. Kaltern

Bürger- und Bauernstand

Daß Tirol einmal ganz andere Zeiten gesehen hat als heute, das müßte uns die Sprache seiner Bauwerke lehren, wenn es auch nicht in den Chroniken der vergangenen Jahrhunderte ganz haarklein erzählt würde. Auf Schritt und Tritt stoßen wir im ganzen Lande auf zerfallene Edelsitze, in der reichen Weingegend zwischen Bozen und Meran ist beinahe jeder dritte Hof ein alter Adelansitz gewesen. Und wenn wir durch die heute so trostlosen, halb ruinenhaften Ortschaften Wälschtirols, des Nonsberges und Sulzberges wandern, sagt uns jedes Haus, jede Türe, jedes Tor, daß hier einmal Wohlhabenheit und Reichtum an Stelle der heute vorhandenen Armut geherrscht hat. Es ist auch eines der vielen Geschichtsmärchen, die von weltfremden Idealisten kritiklos nachgesprochen werden, daß es dem Bauern seit seiner sogenannten »Befreiung« viel besser gehe, und daß er früher unter dem Drucke der Patrimonialherrschaft so schrecklich geseufzt hätte. Für Tirol ist vielfach das Gegenteil zutreffend. Früher, da war ein wohlhabender Bauernstand der Stolz der Gutsherren, und auch eine notwendige Voraussetzung, damit er die Abgaben und Auflagen zu leisten in der Lage war. Ging es dem Einzelnen einmal schlecht, so fand er beim Grundherrn fast immer Hilfe und Unterstützung. Heute ist der Bauer wohl frei geworden, heute zehntet er nur mehr der Gemeinde und dem Staate, aber heute ist er auch frei ausgeliefert seinen Hypothekargläubigern und keiner ist da, bei dem er in Jahren der Mißernte und des Unglücks ausreichende Unterstützung fände, wohin ist die farbenprächtige, von Reichtum und Stolz zeugende Tracht verschwunden, die der Bauersmann früher Werktag und Sonntag trug? An ihre Stelle ist der in den Städten ausgemusterte Fabrikschund getreten und der freie Bauer trägt heute die Kleidung des städtischen Hausknechtes und Tagelöhners, wohin ist die Fülle der Bauernkunst, der Frohsinn des Bauerngesanges, der Reichtum bäuerlicher Heimsitten und Festbräuche?

Auch das Tiroler Bürgertum sah einst ganz andere Tage. Im 15. Jahrhundert, unter den Herzögen Friedrich IV., Sigmund und Kaiser Maximilian wurden in Tirol, namentlich in der Landeshauptstadt, Feste mit außerordentlicher Glanzentfaltung gefeiert, die oft drei bis vier Tage dauerten. Damals erlebte das Wirtsgewerbe goldene Zeiten, obwohl sich die Hoteliers von heute sehr viel auf ihre große Zimmerzahl zugute tun. Es wird aber unter ihnen nicht viele geben, die, wie einstmals alle größeren Tiroler Gasthöfe, imstande wären, ein halbes Tausend Gäste, dazu 400 bis 500 Pferde in einer Nacht unterzubringen. »Aus den städtischen Freiheiten innerhalb der schützenden Mauern, die dem Fehdegeist der empörten Zeit Trotz boten, blühte gewerbefleißiges Bürgerleben, tätiger Verkehr, Reichtum und Macht. Die Volkszahl stieg ungemein, alle einträglichen Geschäfte des Lebens mehrten sich von Tag zu Tag, die Landedeln eilten in die Städte, in die Nähe fürstlicher Hoftage, aus den Mauern ergoß sich der Überfluß der Bevölkerung in die angrenzenden Gefilde.« Das Zunftwesen blühte, fast jedes Gewerbe hatte seine Zunft, die nicht nur wie die heutigen Genossenschaften, diese künstlich wieder erweckten Zünfte, über ihre Rechte, sondern auch über die Tüchtigkeit ihrer Mitglieder wachte. Als Kuriosum sei erwähnt, daß sich in Bozen die Zunft der »Ballenzieher« bis heutigen Tages erhalten hat, während alle anderen Zünfte längst eingegangen sind und erst wieder in unseren Tagen in anderer Form zu einem Scheindasein erwachten. Während Innsbruck als Residenz der Landesfürsten emporblühte, nahm Bozen als Handelsstadt einen ungeahnten Aufschwung. Die Bozner Messen wurden von Kaufleuten aus ganz Europa besucht, das Bozner Bürgertum allmählich das reichste des ganzen Landes. Noch 1858 berichtet der Chronist von ihm: »Die geistige Ausbildung der Herrenstände, die althergebrachte Wohlhabenheit, das daraus hervorgehende Gefühl der Unabhängigkeit gibt den Bozner Bürgern eine entschiedene Charakterphysiognomie, die mit großem Unrechte dem Kurzsichtigen als Stolz, dem Mißwollenden als Übermut gilt, aber keines von beiden ist. Ihr Leben, ihre Häuser, ihre Einrichtungen sind gewählt, ihr Tisch sehr gut bestellt. Sie lieben bei feierlichen Gelegenheiten Mahlzeiten, wo ihre Küche ebenso freigebig ist, als ihr Witz in hellen Funken sprüht, als ihre Gastfreundschaft sich im glänzendsten Lichte zeigt.«

Ebenso wie sich damals mit dem Begriffe Stadt bestimmte Vorrechte für deren Bewohner verbanden, so verbanden sich mit dem Worte Bürger besondere Rechte. Die Bürger allein hatten das Recht, sich an den öffentlichen Wahlen zu beteiligen, ein selbständiges Gewerbe zu betreiben und ihre Frauen und Töchter zum Bürgertanze in das Rathaus zu führen. Alle diese Rechte waren dem gewöhnlichen Inwohner, der lediglich geduldet wurde, versagt. Bürger wurde man entweder durch Geburt oder durch Einkauf, falls man sich als Inwohner längere Zeit anständig aufgeführt hatte.

Auch das Handwerk hatte damals noch goldenen Boden, obgleich den Lieferanten von Nahrungsmitteln schärfer auf die Finger gesehen wurde als heute. In dem Ratsprotokolle der Stadt Innsbruck findet sich wiederholt die Bemerkung: »Die Metzger sind alle in den Turm geschafft worden.« Ebenso strenge ging man gegen Bäcker und Wirte vor, die bei Ausübung ihres Gewerbes einen zu großen Eigennutzen offenbarten. Dafür schätzte man sie aber auch andererseits, wenn sie die Vorschrift ihres Gewerbes gewissenhaft einhielten, höher als heutzutage. Man schämte sich nicht, die wichtigsten Straßen nach ihrer Tätigkeit zu benennen: so gab es in allen Tirolerstädten eine Fleischgasse, Sailergasse, Schlossergasse, Gerbergasse, Müllergasse, Silbergasse, Bindergasse, dazu kam dann noch gemeiniglich die Judengasse und die Pfarrgasse, befand sich eine landesfürstliche Residenz in der Stadt, auch noch die Hofgasse und meist auch die Stallgasse. Diese Namensbenennung deutet aber auch darauf hin, daß man damals in den Städten die einzelnen Gewerbe auf bestimmte Bezirke zusammendrängte, ein äußerst zweckmäßiger Vorgang, der heute nur mehr gegenüber Metzgern und Gemüseverkäufern geübt wird, immerhin aber wieder in das Programm der modernen Städteverwaltung aufgenommen wurde. Nachdem man lange Zeit sich nicht genug über die Rückständigkeit der früheren Städtebewohner wundern konnte, ist man nach und nach darauf gekommen, daß die alten Städter, wenn man von den Mißständen der allzu gedrängten Häuseranlage, die eine unvermeidliche Folge des Befestigungsgürtels war, und der sehr primitiven Abortanlagen absieht, weit zweckmäßiger, schöner und vielfach auch gesünder zu bauen verstanden, als es derzeit in den meisten Städten geschieht. So war die Trennung der Geschäftsstraßen von den Wohnstraßen, diese Forderung der modernen Städtebaukunst, ziemlich allgemein schon durchgeführt. Während die früheren Jahrhunderte aber eine Begründung dafür hatten, daß sie die Straßen so schmal halten mußten, kann es unsere Zeit nicht begründen, warum in Städten, die in zehntausend Jahren nicht auf eine Millionenbevölkerung rechnen können, wie z. B. Innsbruck, Straßen von einer Breite angelegt werden, die für den Verkehr einer Großstadt genügten und die wie ausgestorben erscheinen mit den paar Menschen, die in ihnen herumirren. Dazu womöglich noch vornheraus drei Meter breite, von einem gewaltigen Eisengitter geschützte Vorgärten, in denen einige kümmerliche Sträucher einen aussichtslosen Kampf gegen Wind, Straßenstaub und herumfliegende Papiere führen, dagegen hintenaus finstere, schmale Höfe, in denen die einzelnen Stockwerke sich gegenseitig den Teppichstaub zuklopfen. Die Straßen natürlich linealgerade, womöglich von Süden nach Norden angelegt, so daß der Föhn ohne jede Brechung mit voller Kraft hindurchblasen kann. Mit Recht sagt Josef August Lux, der sich nun schon seit Jahren erfolgreich Mühe gibt, das künstlerische Gewissen der Städteverwaltungen aufzuwecken: »Was uns an der älteren heimischen Bauüberlieferung mit Recht entzückt, ist nicht die äußere Form, sondern die vornehme Baugesinnung, die damals noch Gemeingut war. Bauen heißt bilden, wie hoch ein Volk zu bilden ist, zeigt sein Bauen.«

siehe Bildunterschrift

36. Erkerhaus in Glurns

siehe Bildunterschrift

37. Malsertor in Glurns


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