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Straßen und Plätze

In der Geometrie gilt der Satz: Die Gerade ist die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten. Im Städtebau: Die gerade Straße ist die längste Straße. Denn die Zeit ist kein absoluter, sondern ein relativer Begriff. Jeder Tourist weiß aus Erfahrung, daß eine fünfstündige Wanderung auf schlechten Wiesen- und Waldwegen lange nicht so abspannt wie ein dreistündiger Marsch auf schnurgerader Landstraße. Dieselbe Erfahrung kann jedermann auch in den großen Städten machen. Die linealgeraden Straßen der neuen Stadtteile scheinen kein Ende nehmen zu wollen, während man die gleiche Strecke in den kurzen, vielfach abgebogenen und gebrochenen Straßen der Innenstadt dem Gefühle nach viel rascher zurücklegt. Ermüdung ist eben kein rein physiologischer, sondern ein psychologischer Vorgang. Es ist allerdings nicht anzunehmen, daß die früheren Jahrhunderte aus dieser Erwägung streng lineare Straßenanlagen, wo immer es nur anging, vermieden haben. Eine Zeit, in der die Gestaltung der Städte noch nicht in den Händen von auf geometrisches und mathematisches Denken eingeschulten Ingenieurbeamten, sondern von Künstlern oder Laien lag, deren gesundes, jedem Menschen angeborenes ästhetisches Empfinden noch nicht durch die Symmetriesucht unserer Tage verkrüppelt war, mußte es als etwas durchaus Unnatürliches und Gezwungenes empfinden, die Baulinie der Gassen und Straßen ohne Rücksicht aus die gegebenen Terrain- und Besitzverhältnisse, auf Sonnen- und Schattenseite, auf nördliche und südliche Lage, auf Aussicht und Fernblick, auf Windstrich und Wetterseite mit dem Lineale zu ziehen und dies aus dem einzigen Grunde, weil die gerade Verbindung angeblich die kürzeste wäre. Es mag dahingestellt sein, ob dazu noch als besonderes Motiv die Erreichung eines geschlossenen Straßenbildes kam oder ob sich diese Wirkung nicht von selbst aus der natürlichen und den gegebenen Verhältnissen folgenden Anlage ergab, während den von unseren Ingenieuren auf dem Papiere mühsam ausgeklügelten, mit Zirkel und Maßstab entworfenen Regulierungsplänen, als gekünstelten Ergebnissen geometrischen Denkens, eine künstlerische Wirkung notwendigerweise versagt bleiben mußte. In einer Hinsicht haben die Alten gewiß mit Vorbedacht die Geschlossenheit, die raumartige Wirkung der Straßen gesichert: dadurch, daß sie für einen guten Straßenabschluß sorgten. Die Straßen der guten alten Stadt ließen niemals in dem Fußgänger das Gefühl aufkommen, daß sie gleich einer schnurgeraden Chaussee ins Endlose führen, sie schließen sich, wo immer er in ihnen stehen mag, zu einem nach keiner Seite offenen Platz ab, woraus ihre köstliche, anheimelnde Wirkung erwächst. Als eine weitere Folge dieser platzartigen Geschlossenheit und Begrenztheit ergibt sich die große Übersichtlichkeit der alten Straßen. Wie in einem großen Museum die Raumeinteilung schon allein deshalb notwendig ist, weil, fielen die Zwischenwände hinweg, der Besucher hilflos vor den unzähligen Schaustücken stehen würde und über der allzu großen Fülle nicht zum Betrachten des Einzelnen käme, so verliert sich der menschliche Blick in den langen geraden Straßen, schweift haltlos an den ungegliederten Flächen der Hauswände umher, ermüdet sich im Schauen ohne etwas zu sehen. Mit großem Feingefühl wurden in der guten Zeit des Städtebaues mit Vorliebe größere, über das Maß der benachbarten Häuserfronten hinausragende öffentliche Gebäude, besonders Kirchen, an den Abschluß der Straße hingestellt, wodurch einerseits die Raumwirkung gesteigert, andererseits aber dem Fußgänger ein leicht sichtbares Ziel, dem er zustreben mochte, vor Augen gestellt wurde. Im nachstehenden sollen einige solcher mustergültigen Straßenabschlüsse angeführt werden:

siehe Bildunterschrift

50. Straße in Schwaz

siehe Bildunterschrift

51. Bozen: Bindergasse

Abb. 50 zeigt die Hauptstraße der Stadt Schwaz, die von der hochragenden gotischen Fassade der Pfarrkirche zu einem langgezogenen Platze erweitert erscheint; Abb. 48 eine Gasse in Brixen, deren wirkungsvoller Abschluß durch einen Kirchturm gebildet wird. In der gleichen Stadt ist eine Kirche direkt in den Treffpunkt dreier Straßen gestellt, für jede von ihnen den Abschluß bildend. Einen der schönsten Straßenabschlüsse bildet das »goldene Dachl« in Innsbruck (Abb. 53), das die in die Herzog-Friedrich-Straße auslaufende Brennerstraße, wahrhaft würdig der Bedeutung dieses an geschichtlichen Erinnerungen so überreichen klassischen Verbindungsweges zwischen Deutschland und Italien, begrenzt.

siehe Bildunterschrift

52. Straße in Trient

siehe Bildunterschrift

53. Innsbruck: Das goldene Dachl

Am häufigsten wird ein guter Straßenabschluß aber auf die einfache Weise erzielt, daß ein am Straßenende postiertes Bürgerhaus etwas mehr nach vorne geschoben, manchmal auch quer herausgestellt wird. Die Verbindungsstraße biegt dann entweder in stumpfem oder zuweilen, aber seltener, auch in einem rechten Winkel vor diesem Hause ab (Abb. 46, 54, 55, 56, 57, 157). Bei Straßengabelungen stellt man häufig an die Gabel ein Eckhaus hin, das die Kante der beiden Zweiggassen scheidet, wie z. B. das schöne Erkerhaus in Hall und der Palazzo in Trient (Abb. 52). Verläuft die Straße etwas stärker gekrümmt, so schließt sie sich durch die eigene Front der im äußeren Bogen stehenden Häuserreihe von selbst ab, wie die meisten der entzückenden, prächtig konservierten Gassen Alt-Bozens (Abb. 51, 59, 64). Zuweilen kommen sogar die Berge dem mangelhaften Werke aus Menschenhand zu Hilfe und stellen sich wohlwollend in der Verlängerung der Straßenachse auf (Abb. 72). Von dekorativer Wirkung sind die in den Südtiroler Städten viel verwendeten Stützbogen gegen die im Mittelalter sehr gefürchteten Erdbeben, obgleich ihnen von den Bewohnern der Nachbarhäuser wegen Behinderung ihrer Seitenaussicht kein besonderes Wohlwollen entgegengebracht wird. Abb. 61 zeigt solche Erdbebenstützen aus der Streitergasse in Bozen. Ihr Nutzen im Falle eines kräftigen Erdzitterns erscheint aber recht zweifelhaft.

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54. Straße in Bludenz

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55. Hauptstraße in Kitzbühel

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56. Straße in Neumarkt

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57. Straße in Bruneck

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58. Straße in Klausen

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59. Bozen: Laubengasse gegen Westen

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60. Straße in Rattenberg

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61. Die Streitergasse in Bozen

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62. Brixen: Kirche als Straßenabschluß

siehe Bildunterschrift

63. Bozen: Obstmarkt gegen Norden

Wenn angängig mied man es, die Straßen völlig rechtwinklig zu kreuzen, sondern ließ lieber die Nebenstraße in einem kleinen Bogen, etwas schiefwinklig in die Hauptstraße einmünden, um allzu scharfe Verkehrskanten zu vermeiden. Allenfalls stumpfte man wohl auch die Eckhäuser ein bißchen ab, wie die Seilergasse in Innsbruck (Abb. 66) zeigt, die zugleich ein schönes Beispiel eines Straßenabschlusses gibt. Mußte aus zwingenden Gründen einmal eine Straße durchaus gerade angelegt werden, so sorgte man durch Herausrückung einzelner Häuser oder eines Häuserblocks für die Auflockerung und Gliederung der Straßenfront, welch trostlose Straßenbilder die Vergeradungswut der Gründerjahre geschaffen, demonstrieren fast alle Straßen Neu-Innsbrucks. Kasernenartig, in nüchternster Kahlheit reiht sich ein Zinskasten an den anderen. Das Fehlen ordentlicher Abschlüsse macht die Sache noch schlimmer und läßt die Straßen noch um ein gut Stück länger erscheinen, als sie ohnehin bedauerlicherweise sind. Statt der Großstadtstraße, die in den achtziger Jahren in provinzialem Stolze jede bessere Stadt schaffen wollte, was hatte man erzielt? Straßen, die in ihrer Nüchternheit den vielen gottverlassenen Vorstadtstraßen unserer Großstädte gleichen, und ein großer Aufwand, vermutlich auch an gutem Willen, ward vergeblich vertan. Daß gegen die Greuel der Vergeradung und der Austreibung jedes künstlerischen Empfindens aus der Architektur selbst die unverdorbene Schönheit der Natur nicht mehr aufzukommen vermag, beweist eine andere Innsbrucker Straße aus neuerer Zeit, die Bürgerstraße. Selbst die in voller Größe in sie hineinschauende gewaltige Nordkette vermag ihre schreckliche Öde und ihren Mangel an jeglichem Charakter nicht auszugleichen. Verzweifelt kehrt der Blick immer wieder von der Pracht des Hintergrundes zu diesen kulturlosen Fronten mit ihren willkürlich hineingebauten Fenstern zurück und man hält es nicht für möglich, daß in einer Stadt mit solch wunderbaren, ehrenvollen alten Straßen und Plätzen, mit solcher Fülle von Gediegenheit und Geschmack derartige Barbarismen verübt werden konnten. Aus dem Stadtplane von Innsbruck, der schematisch in Abb. 78 wiedergegeben ist, ersieht man sofort den Unterschied zwischen den alten und den neuen Straßenanlagen, während jene in schwachen Krümmungen, die zwar eine Vergrößerung der Entfernung nicht bedeuten, aber doch stark genug sind, die gewünschten Wirkungen zur Geltung zu bringen, verlaufen, erscheinen diese linealgerade gezogen. Doch die Zeit ist vorbei und wenn auch Innsbruck von allen Tiroler Städten die letzte war, die der modernen Baukunst die Tore öffnete, so kann heute doch mit Anerkennung festgestellt werden, daß bereits eine Wendung zum Besseren eingetreten ist. Das Hörtnagelhaus am Burggraben, das Adamhaus am Eingang zur Altstadt, das Zelgerhaus in der Anichstraße verdienen jedes Lob. Hätte dieser frische Zug nur um ein paar Jahre früher eingesetzt, so wäre uns wohl auch die Verunstaltung der Westfront der Maria-Theresien-Straße durch teils stilfremde, teils gschnasige Neubauten erspart geblieben. Aus diesem Plane ist auch des weiteren die verschiedenartige Anlage der Plätze von einst und heute zu ersehen, während es zu den unentbehrlichen Voraussetzungen des alten Platzes gehörte, daß er wohlumschlossen sei und man daher in ihm das Gefühl eines Raumes habe (man betrachte auf das hin den alten Pfarrplatz), sind die in neuer Zeit in den Städten angelegten Plätze meist nichts anderes als Kreuzungspunkte von zwei oder mehr Straßen, während die Zugänge zum guten alten Platz möglichst schmal gehalten und möglichst versteckt angelegt wurden, um eben die geschlossenen Wände nicht zu durchbrechen, läßt man heute mit wahrer Wonne möglichst viele große Straßen in ihn ausmünden. Das beste Beispiel für den guten Platz bietet wohl der Markusplatz in Venedig, der das Gefühl vollständiger Abgeschlossenheit in uns erweckt, für den schlechten hingegen der Platz de l'Etoile in Paris, in den nicht weniger als zwölf große Straßen einmünden. Kein Platz, sondern ein Kreuzungspunkt ist auch der Stachusplatz in München, der Schwarzenbergplatz in Wien. Der Wirkung des schlechten Beispieles der Großstadt konnten sich auch die Provinzstädte nicht entziehen. Der Margarethen- und Klaudiaplatz in Innsbruck, die Bahnhofplätze von Meran und Trient sind derartige Halbschöpfungen. Aber auch die ebenfalls der Gründerzeit zu verdankende Sitte, auf öffentlichen Plätzen eine mehr oder minder gut wachsende Gartenanlage zu errichten, diese sodann mit einem Gitter zu umgeben, und nur einen neckisch gekrümmten Weg von 30 m Länge zur Promenade freizulassen, ist eine Unsitte, die unseren Plätzen die letzte Möglichkeit einer nützlichen Verwendung und einer Belebung nimmt. Das kümmerliche Grün zwischen den Gittern, in denen sich bei Wind alle fliegenden Papiere der Stadt ein Stelldichein zu geben pflegen, vermag auch in einem anspruchslosen Gemüt nicht die Vorstellung eines Parkes wachzurufen, wohl aber machen die Anlagen den mühsam ausgesparten Platz illusorisch. Welches Leben entwickelt sich nicht aus dem Waltherplatze zu Bozen, aus dem Domplatze zu Trient, auf dem Piazza d'herbe zu Rovereto, aus dem Pfarrplatze zu Meran? Man lege auch dort Blumenbeete an und pflanze die beliebten und nie gedeihenden Ziersträucher und sie werden so öde sein wie der Klaudiaplatz und der Margarethenplatz zu Innsbruck. Was unseren modernen Städten not tut, sind Plätze, auf denen Platz ist. Von denen nicht nach jeder Himmelsrichtung breite Straßen entspringen und so eine nie aufhörende Zugluft garantieren. Es mangelt auch in Tirol nicht an guten Beispielen. Es seien hier angeführt: Der vorgenannte Waltherplatz in Bozen (Abb. 69 u. 73), dessen prachtvoller Raumwirkung sich keiner entzieht, der einen Abend dort verbrachte, der Obstmarktplatz (Abb. 32 u. 63) in derselben Stadt, der Domplatz in Trient (Abb. 70), der Stadtplatz in Riva (Abb. 67) mit dem Torre Apponale, dem 1278 erbauten Trutzturme der Grafen von Arco gegen die Fürstbischöfe von Trient, der Stadtplatz von Rattenberg (Abb. 9), der in seiner vollständigen Geschlossenheit einen außerordentlich gemütlichen Eindruck macht, der obere Stadtplatz von Hall (Abb. 68) mit dem alten, in letzter Zeit gut restaurierten Rathaus, der untere Stadtplatz von Hall (Abb. 76, 77 u. 82) mit dem typischen mittelalterlichen Tiroler Bürgerhaus, der Pfarrplatz in Meran. Mehr ländlichen Charakter tragen die Plätze von Klausen (Abb. 80), Glurns (Abb. 75), Imst (Abb. 83), Lienz (Abb. 71), Kaltern (Abb. 74).

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64. Bozen: Laubengasse gegen Osten

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65. Innsbruck: Kiebachgasse

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66. Innsbruck: Straßenkreuzung in der Altstadt

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67. Stadtplatz in Riva

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68. Hall: Oberer Stadtplatz mit Rathaus

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69. Bozen: Waltherplatz gegen Süden

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70. Trient: Domplatz mit Neptunbrunnen

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71. Platz in Lienz

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72. Straße in St. Ulrich

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73. Bozen: Waltherplatz gegen Norden

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74. Platz in Kaltern

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75. Platz in Glurns

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76. Hall: Unterer Stadtplatz gegen Norden

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77. Hall: Unterer Stadtplatz gegen Norden

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78. Stadtplan von Innsbruck

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79. Innsbruck: Stiftgasse

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80. Kirchplatz in Klausen

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81. Herzog-Friedrich-Straße in Alt-Innsbruck

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82. Hall: Unterer Stadtplatz gegen Osten

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83. Imst: Platz mit öffentlichem Brunnen


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