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Franz Felder wohnte noch immer bei seinen Eltern. Zwar nicht mehr in dem dumpfen Keller, in dem er einen Teil seiner Jugend verbracht, aber doch immer noch in einer Hofwohnung, ohne viel Licht und Wärme. Er hatte sein eigenes Zimmer. Hier hingen alle seine Trophäen. Die Ehrenpreise, die in Gegenständen bestanden und nicht in den Klubbesitz übergegangen waren und dort das Vereinszimmer schmückten, hatte er zum Teil seiner Mutter überlassen, die mit ihnen die dürftige Armut der vorderen Wohnstube zu verdecken suchte. Dort stand das große Bierservice, die Fruchtschale aus Cuivre, der Rauchtisch und manches mehr – Dinge, die oft mehr dem guten Willen als dem Geschmack ihrer Stifter Ehre machten. Aber alles, was er sich sonst errungen in seinen vielen Kämpfen, hing hier in seinem eigenen kleinen Zimmer in Gestalt dorrender Lorbeerkränze und mehr oder minder künstlerisch ausgeführter Diplome an den Wänden, und von den bunten Schleifen leuchteten goldene Inschriften. Bis an die niedrige Decke hinauf hingen sie, und über dem Bette war fast schon kein Platz mehr für neue Ankömmlinge. Auch hatte Felder es längst aufgeben müssen, sich alle seine Urkunden einrahmen zu lassen.
Auf der Kommode in einem großen Glaskasten – dem Geschenk eines Klubfreundes, eines Schreiners, zu Weihnachten – lagen auf roter Sammetunterlage alle seine Medaillen, goldene und silberne, große und kleine, alle an ihren Schleifen, eine ganze Sammlung von nicht geringem Wert. Sie war sein höchster Stolz! – Mit welcher Liebe nahm er nicht zu den Festen Stück für Stück heraus, um es, eins nach dem andern, auf seiner Brust zu befestigen; mit welcher Sorgfalt legte er nicht jedes einzelne an seinen rechten Platz zurück! – Bei jedem neuen Siege verrückte der neue Erwerb den Platz und die Stellung der anderen, und in immer neuer Gruppierung lagerte sich um die schweren, goldenen Rundstücke erster Siege die Schar der kleinen Trabanten, alle gleich gekannt, alle gleich geliebt. Denn an jeden knüpfte sich eine unvergeßliche Erinnerung.
So viele waren ihrer geworden, daß sie längst nicht mehr auf der breiten Brust des Meisterschwimmers Platz fanden. Auf seiner letzten Photographie trug er daher nur die wichtigsten selbst – die breiten Bänder um den Hals und die großen goldenen und silbernen Münzen auf den Rockschlägen; die anderen waren auf einem Schilde reihenweise geordnet, das auf einer Art Staffelei neben ihm stand, auf die er die Hand legte. Das ganze Bild des beutebeladenen Siegers erschien ebenfalls alsbald in einer Sportzeitung und übte stellenweise auf unwissende Laien eine erheiternde Wirkung aus, die keineswegs beabsichtigt war.
Auch dieses Bild prangte in der kleinen Stube, und was außer ihm an Bildern dort noch zu sehen war, es stellte immer nur ihn dar: Franz Felder. Da war er als kleiner Junge mit seiner Rettungsmedaille auf der Brust, dick und ernst; als junges Mitglied des S.-C. B. 1879 mit der hellen Mütze und dem Zeichen seines ersten Sieges auf der Brust; ein Jahr später als neugebackener Berliner Meister – noch ohne Band um den Hals, aber doch schon gekrönt mit einem ersten Preise und mit jenem seltsamen Zug um den Mund, der auf keinem der späteren Bilder mehr fehlte. Endlich all diese Bilder der späteren Jahre, aufgenommen in all den verschiedenen Städten, wo man ihn mit zum Photographen genommen oder ihn beim Fest selbst noch schnell vor den Kasten gestellt, ehe er ins Wasser ging, immer um ein paar Zoll größer, immer etwas selbstbewußter in der Haltung, je mehr die Zahl der Zeichen auf seiner Brust wuchs – da waren sie alle bis auf dies letzte, wo die Zahl der Ehren so groß geworden war, daß er ihre Last nicht mehr selbst tragen konnte... Und da waren die anderen Bilder, die Gruppenaufnahmen, auf deren keinem er fehlte: erst mehr an der Seite, fastversteckt unter den anderen, dann immer mehr in die Miete gerückt, bis seine Person die Mitte selbst bildete – diese Aufnahmen, ausgeführt zum größten Teile von irgendeinem Amateurphotographen, mehr oder minder gut gelungen, aber jede einzelne eine liebe Erinnerung an die fröhlichen Stunden eines Ausfluges, einer Veranstaltung des Klubs, erfüllt von Gelächter und immer überstrahlt von der unversiegbaren Fröhlichkeit der Jugend.
Und endlich die Bilder, die ihn darstellten unter seinen Mitschwimmern bei den Konkurrenzen, Aufnahmen, wie sie in letzter Zeit bei den wichtigsten Hauptschwimmen gewöhnlich gemacht wurden, bevor man an den Start ging. Alle Namen, die überhaupt in der Schwimmerwelt in den letzten Jahren genannt wurden, waren da vertreten, alle die mehr oder minder gefährlichen Gegner, alle, mit denen er, Franz Felder, gerungen, alle, die er besiegt hatte... Er kannte sie alle und lächelte, wenn sein Blick auf ihren Gesichtern ruhte. Im Momente der Aufnahme noch ruhig, fast gleichgültig – wie verändert waren sie alle wenige Minuten später, wo es drauf und dran ging! – Wie verschieden waren diese nackten, nur mit dem Trikot bekleideten Gestalten: der eine lang und hoch aufgeschossen wie ein Turm und sehnig wie ein Pferd; der andere kurz und untersetzt mit mächtigen Schenkeln und einer phänomenalen Brustweite; der dritte ebenmäßig und schlank, in nichts fast seine Kraft verratend; und immer war es Felder, der diesem Dritten glich. Auf allen Bildern stand seine schöne, schlanke Gestalt hoch aufgerichtet und ruhig unter den anderen, und seine ernsten und mutigen Augen verliehen seinem Gesicht einen Zug von Leidenschaftlichkeit und Intelligenz, den man vergebens auf denen der anderen suchte...
Schließlich füllte eine Ecke des Zimmers ein großer Stoß von Programmen und Zeitungen: die Programme der Wettschwimmen, an denen er teilgenommen, und die Zeitungen, die über sie berichtet hatten. Es war schon ein ganzer Haufen, und Felder hatte ihn sorgfältig gesammelt. Koepke hatte ihm dabei geholfen und sorgte dafür, daß nichts fehlte.
So hatte er alles um sich herum in dem kleinen Raum, was seines Lebens ganzen Inhalt ausmachte, und darum fühlte er sich wohl in ihm.
Seine Familie bedeutete ihm schon seit langem nur so viel, als sie ihm diese Heimat erhielt. Ihre Interessen waren nur noch in wenigen äußerlichen Dingen die seinen. Jeder ging seine eigenen Wege, und man war es beiderseits zufrieden. Wenn er seiner Mutter zur Ausschmückung des Vorderzimmers die Wertpreise überließ, so tat er es nicht nur, weil sie ihn in seinem kleinen Zimmer beengten, sondern hauptsächlich, weil er auf sie weit weniger Wert legte als auf seine Diplome und Medaillen. Er wußte nichts mit ihnen anzufangen.
Ganz Herr seiner selbst, mit eigenem Schlüssel zu eigenem Eingang, kam und ging er, wie er wollte, und längst war jeder Anspruch seiner Familie an seine Zeit verstummt. Von den heranwachsenden Geschwistern zeigte keiner besondere Lust zu seinem Sport; daher interessierten sie ihn nicht. Sie gehörten für ihn zu dem »anderen Teile« der Menschheit.
So war die einzige Veränderung in seinem äußeren Leben eigentlich nur die, daß er seine Stellung aufgegeben. Als seine Beteiligung an den ausländischen Konkurrenzen immer wieder die Bitte um Urlaub nötig machte, wurde der sonst ziemlich geduldige Chef unwirsch, und vor Felders englischer Reise sagte er ihm, er möge zwar ein großer Schwimmer sein, aber das könne ihm doch für seinen eigentlichen Beruf nichts nützen, und er möge lieber seinem Sport etwas weniger Zeit opfern... Wie der kleine Junge vor Jahren unter den Worten des Rektors, so bäumte sich jetzt der gefeierte Meisterschwimmer auf; aber er war zu stolz geworden, um überhaupt ein Wort der Entgegnung zu verlieren. Er ging. Wenn man nicht wußte, wer er war, so sollte man es bleiben lassen oder es lernen. – Daß er zeitweilig ohne Stellung war, kümmerte ihn wenig. Als er dann von England kam, war er durch die ihm gebotene Ehrensumme jeder augenblicklichen Not enthoben, und er arbeitete von da an nur, wenn es ihm gefiel...
Größer war die innerliche Veränderung, die mit ihm vorgegangen war in diesem Jahre. Als er von England als der unangefochtene Meister Europas zurückkehrte, fiel sie zum ersten Male seinen Klubbrüdern auf. Ernst und schweigsam war er eigentlich immer gewesen, aber nie hatte sich seine große Gutmütigkeit und Freundlichkeit verleugnet. Jetzt war etwas Strenges und Hartes in sein Wesen gekommen, das ihm nicht eigen gewesen war. Wie er gegen sich war, so wurde er nun auch gegen andere.
Auch seine Unbefangenheit war nicht mehr dieselbe. Er wußte, was er seiner Würde schuldig war, und war eifersüchtig auf sie. Er verlangte, daß sie respektiert werden sollte, und hatte angefangen, darauf zu achten. Leichtigkeit im Umgang hatte er nie besessen, aber die Schwerfälligkeit seines Wesens war nie so hervorgetreten wie jetzt, wo er nicht mehr im Hintergrunde stand. Bei den Sitzungen glaubte er an den Beratungen teilnehmen, in die Verhandlungen eingreifen zu müssen. Da ihm die Gabe der Rede jedoch völlig abging, so vermochte er sich nur unbeholfen auszudrücken, und man fand allgemein mit Recht, daß er besser täte, zu schweigen wie bisher. Dennoch hatte man so viel Achtung vor ihm und seinem leidenschaftlichen Ernst, seiner hingebenden Liebe zur Sache, daß man ihn geduldig anhörte.
Eine bisher fremde Ungeduld hatte ihn ergriffen; er wollte immer weiter und weiter, ohne doch recht Zuwissen, wohin noch. Bei den meisten Mitgliedern des Klubs aber, besonders bei den älteren, machte sich eine gewisse Ermüdung nach so vielen großen und lauten äußeren Erfolgen geltend, und sie verlangten mit größerer Entschiedenheit nach einer einheitlichen Ausbildung des Ganzen, nach einer ruhigeren Entwickelung als bisher.
Noch hatte Felder nichts an Freundschaft und Achtung verloren. Im Gegenteil: seine Siege hatten ihm begeisterte Bewunderer erworben, die mit ihm durch dick und dünn gingen und bei denen er alles galt. Aber man fand den Verkehr mit ihm nicht mehr so bequem wie früher. Man fühlte, hier mit Bedauern, dort mit Unmut, daß er nicht zufrieden war.
Und so war es auch: in dieser Zeit, die nach beispiellosen Erfolgen die glücklichste und schönste seines Lebens hätte sein müssen, war er nicht glücklich.