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»S'ist Sommerzeit, und die Heide blüht,
Der Waldpfad schimmert im Sonnenschein.
O Heimatfriede, o Kiefernduft!
Kehr ein, kehr ein!«
Ein wonniger Maimorgen war angebrochen und legte seinen duftigen Schimmer über die steinernen Mauern eines alten Mönchsklosters in der Mark Brandenburg. Auf den Obstbäumen lag, wie frisch gefallener Schnee, die junge Blüte, und die weiß und roten Zweiglein blickten neugierig in das weit geöffnete Bogenfenster. Dort saß der Abt am eichenen Schreibtisch, über die kunstvoll geschriebene Chronika des Konvents gebeugt. Die Bienen summten in den Wipfeln der alten Klosterlinde, und unten, dem ehrwürdigen Wächter des Hauses zu Füßen, da schimmerte und duftete es von Veilchen, und die kleinen goldenen Himmelsschlüssel wiegten die Köpfchen im Morgenwind, als wollten sie den Tag des Herrn, den Sonntag Misericordias Domini, einläuten.
Bernhardus von Ribbeck blickte hinaus. Einen weiten, lieblichen Ausblick hatte man von dort oben, und oft ließ der Mann in der Kutte die großen, gedankenvollen Augen in die Ferne schweifen, als gedächt er vergangener Zeiten.
Dicht an die Klosterwiesen schloß sich die Heide, eine weite, braun schimmernde Fläche, von einzelnen Birkenbäumchen unterbrochen, die wie ein zarter, lichtgrüner Schleier darüber schwebten. Dunkle Kiefernwälder, die ihren würzigen Duft in die Ebene sandten, streckten sich meilenweit durch die einsamen Heideflächen und warfen ihre tiefen Schatten auf die stillen Sümpfe der Mark. Riesenhafte Binsenbüschel schwammen wie kleine Inseln in den dunklen Wassern; an den schlüpfrigen Ufern unter dem Schutz der Kiefern streckten mächtige Farrenkräuter die gefiederten Blätter in den Frühlingstag hinaus, und die Drosseln sangen um die Wette.
Wenn man den Sandweg bis zum Ende verfolgte, sah man ein weißes, zinnenreiches Schloß liegen, licht wie die Frühlingsblume in der Heide aufgewachsen; rechts davon erhob an einem silbernen Wasserstreifen das alte Tangermünde die grauen Türme über dem Elbestrom.
Der Mönch lauschte hinaus; es waltete jene Mittagsruhe draußen, in welcher kein Ton ungehört verklingt, jene geheimnisvolle Stille, die am hellen Tage ihre Traumbilder über Wald und Heide webt. Eine Lerche stieg empor und schmetterte aus voller Brust ihr Lied – sonst war alles still, nur die Kiefern rauschten über Sumpf und Sand, und ein Falter flatterte im Sonnenschein. Es war ein Tag, wie der Märker ihn liebt, klar und feierlich, und das Lied der Heidesängerin über den Wipfeln. Dem von den Rosengestaden des Südens kommenden Fremdling mochte die Mark einförmig und öde scheinen, er aber behielt seine Heimatliebe im Herzen und kehrte, wenn er die Schätze der Erde geschaut, heimwehkrank nach der geliebten Scholle zurück.
Der Abt von Fischbeck war ein echter Märker; man hätte denken sollen, die hohe, freie Stirn hätte eher in Wald und Flur, als in die Klostermauern, und die starke Rechte besser auf den Knauf eines Schlachtschwertes, als in das stille Schreibgemach des heiligen Konvents gepaßt. Das Mönchskleid umschloß eine stolze, ritterliche Gestalt, um eines Hauptes Länge überragte Bernhardus von Ribbeck die frommen Brüder. Ein paar lichte, blaue Augen sahen geistvoll ins Leben, um den Mund lagerte ein Zug des Schmerzes, der von harten Kämpfen zeugte, aber die reine Stirn war frei und redete von Siegen mit dem Schwerte des Geistes. Er war sehr jung für die Würde eines Abtes, der einer Schar alter und junger Mönche zu gebieten hatte, aber wer ihn einmal unter den Brüdern gesehen, der begriff es, daß Bernhardus von Ribbeck, und kein anderer, Abt von Fischbeck war. In rechter Weise wußte er eines jeden Gaben zu verwerten und begegnete allen mit Liebe und Freundlichkeit. Daneben war sein Urteil klar und haarscharf und von der strengsten Gerechtigkeit und Wahrhaftigkeit. So wagte keiner, seine Würde anzutasten, und auch ein graues Haupt beugte sich gern dem klaren, auf das Wort Gottes gegründeten, durch Gebet und Wachsamkeit geschärften Urteil des jugendlichen Vorgesetzten; ja, die Schar der Mönche sah mit einer Liebe und Begeisterung zu ihrem Abt auf, die ihresgleichen suchte, und die Klosterzucht zu Fischbeck war weit gerühmt.
Als er heute die Chronik durchsah und den Tag seines Eintritts verzeichnet fand, zog die Zeit seines Hierseins an ihm vorüber wie ein langer Traum, der noch nicht zu Ende ist. Sinnend blickte er auf das Pergament und gedachte vergangener Tage. –
Vor acht Jahren, im Jahre des Heils 1524 war es, als am heiligen Christabend ein Herrenkind an die Klosterpforte zu Fischbeck klopfte. Der Pförtner, Bruder Laurentius, hatte ihm geöffnet und mit seiner mächtigen Laterne verwundert den jungen, vornehmen Gesellen, der als Weihnachtsgast zu ihm kam, beleuchtet, dann hatte er ihm freundlich den schneebedeckten Mantel abgenommen und ihn vor den Abt geführt. Alexander Mathesius, der damalige Abt, aber hatte erstaunt auf den Jüngling geblickt, der ihn um das Mönchsgewand gebeten. Zweiundzwanzig Jahre alt, schön und von altem märkischen Adel – so pflegte selten einer ohne große Not an das stille Heidekloster zu klopfen. Prüfend sah er ihm in das junge, traurige Antlitz, das deutlich die Spuren eines großen vor kurzer Zeit erlebten Schmerzes trug, und bald saß der Junker neben dem ehrwürdigen Manne, der ihm längst lieb und bekannt war, und erzählte ihm die Geschichte seines Lebens. Lang war sie nicht, aber reich an Leid und Enttäuschung.
»Ihr kennt ja meine Sippe, hochwürdiger Herr,« begann Bernhardus von Ribbeck, »Vater und Mutter sind mir früh gestorben, Geschwister habe ich nicht und bin der letzte von diesem Zweige der Familie. Die Ribbeck sterben nicht aus, wenn ich ledig bleibe – und 's ist gut so, denn ich kann nicht anders, Hochwürden! Ich muß es Euch sagen, wie's alles ist, damit ich's vom Herzen habe, verzeiht, wenn es zu lange währt!«
Der Abt legte freundlich die Hand auf seine Schulter, und Bernhardus fuhr fort: »In dem Städtlein Jerichow in der Mark wohnte am Stadttor in einem alten Patrizierhause der Ritter Heinrich von Gerlach mit seinem einzigen Töchterlein Ingeburg. Sie war der Spielkamerad meiner früh verstorbenen Schwester und so auch der meine, denn wo Maria Anna war, da zog ich mit als ihr getreuer Vasall. Wir waren oft in Jerichow, aber die kleine Ingeburg kam auch auf unsere Burg und besuchte ihre »Rehböcke,« wie sie uns benannte. Am meisten jedoch ritten wir Geschwister hinüber, denn der vereinsamte Ritter trennte sich ungern von dem Sonnenschein seines Hauses, dem die Krone fehlte; sein holdes Weib, Elisabeth von Itzenplitz, war nach einem Jahr der glücklichsten Ehe gestorben. Ich habe nie ein schöneres Kind gesehen als Ingeburg Gerlach; das Mägdlein hatte ein Antlitz wie die Jungfrau Maria, wundervolle dunkle Augen blickten träumerisch in die Welt, und das schwarze Haar legte sich in leichten Wellen um die weiße Stirn und fiel wie ein langer seidener Mantel über die zarten Schultern herab.«
»Es gab nichts Lieblicheres,« fuhr Bernhardus in seiner Erzählung fort, »als wenn Ingeburg mit meinem blonden Schwesterlein zusammen in der Rosenlaube saß und die zarten Blüten sich wie ein lichter Kranz um die holden Gestalten legten, die wie zwei kleine gefangene Prinzessinnen hinter der Dornenwand von dem Königsohn träumten. Der kam denn auch bald mit Lanze und Schwert, und Klein-Ingeburg flog mir als mein Bräutchen um den Hals, wenn ich sie aus dem Zauberschlaf befreit und wachgeküßt. Dann zogen wir heim auf unser Königsschloß, einen Luginsland, der in den Wipfeln der alten Linde hinter dem Hause angebracht war und zu dem ein Holztreppchen hinaufführte. Da saßen wir dann unter den blühenden Zweigen, sie hatte ihr süßes Gesichtchen mit dem Rosenkränzlein und Schleier an meine Schulter gelehnt, und ich hielt meine kleine Königin glückselig im Arm. Maria Anna brachte alle Puppen, die in dem alten Hause aufzutreiben waren, die saßen im schönsten Putz um uns herum und bildeten den Hofstaat. Sie selbst hatte eine Sammetschleppe der verstorbenen Frau von Gerlach um, und war die Königin-Mutter.
»Wenn wir groß sind, dann spielen wir wieder Hochzeit, nicht wahr?« sagte die kleine Königin.
»Ja, Frau Ingeburg,« – so ließ sie sich am liebsten nennen, – »aber dann komme ich in Wirklichkeit und frage dich, ob du meine Königin sein willst; willst du dann auch ja sagen?«
»Ja, das will ich!« jubelte das Mägdlein, »und dann sitzen wir wieder zusammen im Lindenbaum, und du steckst mir ein goldenes Ringlein an den Finger und ich dir!« Dann küßten wir uns, ich umfaßte Frau Ingeburg, und wir tanzten um die alte Linde herum, daß der Königin das Rosenkränzlein und dem König die Krone von Flittergold vom Kopf flog – gerade in den Schoß der Königin-Mutter. Die Linde aber schüttelte ihre Zweige, und durch die Blätter rauschte es: »Kinder, Kinder, was muß eure alte Urgroßtante erleben!« Das versicherte Maria Anna ganz deutlich gehört zu haben.
So verfloß unsere Jugendzeit wie ein schöner, sonniger Morgen. Ich war sechzehn Jahre alt geworden, Ingeburg elf. Das Mägdlein blühte auf wie eine süße, reine Frühlingsblume und wurde von Tag zu Tag schöner. Ihre Demut und Freundlichkeit erwarb ihr aller Herzen, und alles freute sich, wenn die Rose von Jerichow, so hieß sie bei Hoch und Gering, mit ihrem Vater ausging oder aus dem Fenster ihres kleinen Turmgemaches blickte. Ihre fromme Großmutter, Frau Erica von Gerlach, die seit einiger Zeit im Hause ihres Sohnes ihr trauliches Altenteil bezogen, ersetzte der jungen Enkelin die Mutter, so viel es in ihren Kräften stand, und Frau Ingeburgs Lieblingsaufenthalt war Großmütterchens Stübchen. Es war ein liebliches Bild, die alte Edelfrau mit dem weißen Haar und dem freundlichen Antlitz im Erker am Stickrahmen sitzen zu sehen, neben sich ihr Enkelkind, den Märlein der Großmutter lauschend oder die Spindel drehend. Abends kam dann auch Herr Heinrich herauf und ließ sich in seinem hochlehnigen Sitz am Kamin nieder. Ein behaglich Zusammensein war's, wenn draußen die Flocken tanzten und die Kienäpfel in der Glut knisterten, und ich war allemal froh, so es mir verstattet worden, den Abend in Jerichow zu verbringen. Ingeburg, im weißen Gewande mit dem Goldreif im schwarzen Haar, saß, vom Kaminfeuer beleuchtet, zu den Füßen des Vaters, das Köpfchen an seine Kniee geschmiegt, die Hand auf dem Haupte einer edlen Dogge, der beständigen Begleiterin des kleinen Edelfräuleins. Auf der Ofenbank aber, im Halbdunkel, da lehnte der Knabe, der die Augen unverwandt auf die Rose von Jerichow gerichtet hielt, weltvergessen und traumumfangen, im jungen Herzen nur den einen Gedanken: Frau Ingeburg! Die Heldensagen, die der Ritter erzählte, rauschten an seinen Ohren vorüber, sein Glück war's, daß ihn niemand darum befragte, kein Wörtlein hätte er wieder sagen können, denn er sah und hörte nichts als das Mägdlein mit den Märchenaugen.
So vergingen Lenz und Winter – auf der heimatlichen Burg sah es traurig aus. Maria Anna lag seit Monden an einem zehrenden Fieber, und selbst die warmen Lüfte des Sommers wollten ihr keine Genesung bringen. Ingeburg war viel bei ihr; wie ein Sonnenstrahl zog es über das blasse Gesichtchen, wenn die holde Gestalt auf der Schwelle erschien, den Arm voll blühender Rosen, mit denen sie das Krankenbett schmückte. Da saßen dann die beiden Mägdlein unter den duftenden Kindern des Sommers, wie sonst in der Laube zu Jerichow. – Ingeburg eine halbgeöffnete Knospe, Maria Anna die weiße, aufgeblühte Rose, die der Tod geküßt. Sie wußte es, daß sie nicht mehr lange leben würde; zuerst hatte es bange, heiße Tage, voll Kampf und schweren Losreißens für das Mägdlein gegeben, aber nun war es stille geworden und freute sich auf den Himmel. Am Fußende ihres Lagers hing ein großes, hölzernes Kreuz mit der Gestalt des Hochgelobten; darauf ruhten fast immer die Kinderaugen, als hätten sie die ganze Welt vergessen. »Wenn der Heiland kommt und mich holt,« sagte sie, »müßt ihr alle hier sein, damit ihr seht, wie lieb er mich hat!«
Ein frommer Mönch aus Eurem Kloster, Hochwürden, hat mein Schwesterlein öfter besucht; Bruder Wendelin hieß er. Wenn er kam, wurden ihre Augen noch strahlender und heller, und verlangend streckte sie ihm beide Arme entgegen. Ein seltsamer Mönch war es; er redete niemalen zu ihr vom Verdienst der Heiligen und daß sie sich derselben getrösten solle, auch nicht von der Mutter Maria und ihrer Fürsprache, sondern allein von dem Hochgelobten selbst, von seinen Wunden und seiner Gerechtigkeit, darein müßten wir uns gläubig hüllen, unsere Werke könnten uns nichts helfen, wir sollten selig werden aus Gnaden. Wie Sonnenlicht lag es auf dem zarten Gesicht, wenn er gegangen, und die schönen Augen des sterbenden Kindes hingen mit überirdischem Ausdruck an dem Bilde des Gekreuzigten. Ingeburg hatte gar bitterlich geweint, als Maria Anna ihr gesagt, daß sie sie bald verlassen müsse. Es war, als ob ein Stück Leben und Glück mit der Gespielin für sie dahinginge. Als sie sah, wie fröhlich die, Sterbende auf den Herrn wartete, wurde sie ruhiger, und auch ihre junge Seele reifte heran in den stillen Stunden im Krankenzimmer, doch kämpfte sie hart bei dem Gedanken ans Hergeben.
Ein klarer, sonniger Septembermorgen war's, das Laub fing eben an, sich golden zu färben, und der wilde Wein streckte die zierlichen roten Ranken ins Fenster, als wollte er das blasse Kind drinnen auf dem Lager fragen: »Kommst du nicht bald wieder?« Aber es achtete nimmer der Genossen; drinnen am Lager stand einer, dessen Kleider leuchteten wie die Sonne. Er winkte dem Mägdlein mit der Hand, und sie streckte sehnsuchtsvoll die Arme nach ihm aus. Still und stiller ward's im Gemach, kein Laut drang durch die geöffneten Fenster; vom Klosterturm aber schwebten feierliche Glockentöne herüber, die verkündeten, daß eine Seele, von Sünde und Erdenleid frei geworden, hinübergeeilt sei in die lichte Stadt mit den goldenen Gassen.« – –
Nach einem Augenblick tiefen Schweigens fuhr der Jüngling fort: »Wie einsam es auf der Burg war, Hochwürden, seit sie mein Schwesterlein hinausgetragen, kann ich Euch nimmer sagen. Ingeburg mußte wieder heim, tränenschweren Auges hatte sie von uns Abschied genommen, und ich hob die zarte Gestalt im Trauerkleid auf das Roß, als ihr Vater sie abholte. Noch einmal winkte sie mir Lebewohl zu, dann trabte ihr Rößlein neben dem stolzen Streithengst von dannen. Ich aber stand mit der Hand über den Augen und blickte in die strahlende Herbstlandschaft hinaus, wo fern am Waldessaum ihr weißer Zelter verschwand.
Auf der Burg waren Sonnenschein und Glück dahin. Mein Vater, durch Kummer und Krankheit gebeugt, war zum Greise geworden, traurig, und einsam vergingen unsere Tage. Etwa drei Wochen nach dem Hinscheiden meiner Schwester entsandte mich mein Vater auf die Burg eines seiner Lehnsvettern. Ich war's zufrieden, als mein Traber am Burgtor stand, denn ein junges Blut sehnt sich nach leidvoller Zeit einmal wieder hinaus, auch war ich begierig, die Vettern unserer Sippe, die gleichen Alters mit mir waren, kennen zu lernen.« Er hielt inne, als brächt er das Kommende nicht über die Lippen; dann raffte er sich auf und fuhr mit gepreßter Stimme fort: »Ich weiß nicht, ob Euch die Kunde von dem Unglück zu Ohren gekommen, Hochwürden, – wie ich in einer Nacht Hab und Gut verloren – wie ich des Vaters Leiche verkohlt unter den Trümmern unseres Schlosses gefunden – – –« Die Stimme versagte ihm.
Liebreich legte der Abt die Hand auf seine Schulter; er aber nahm alle Kraft zusammen und redete weiter: »Ein Unwetter war heraufgezogen und hatte mein Erbteil vernichtet, der Blitz den Vater erschlagen. Arm zog ich aus, mein Brot zu suchen. In der Universitätsstadt Leipzig wollt' ich die Heilkunde studieren. Was gibt's auch Besseres im Leben, als armen und kranken Menschenkindern helfen zu dürfen, und insonderheit bei dem Wirken eines Arztes habe ich immer des Herrn Wortes gedenken müssen: »Was ihr getan habt einem unter meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan!' Auch hilft's einem am besten über eigenes Leid hinweg.
Ingeburg sah ich vor der Reise nicht mehr, sie war für etliche Tage zu einer Freundin nach Tangermünde gereist, als ich Herrn Heinrich und seiner Mutter Lebewohl sagte. Frau Erica sah mich mitleidig an, als ich ihr die Hand küßte und sie bat, Ingeburg von mir zu grüßen. Herr Heinrich bot mir Glück und Heil zur Wanderschaft und frohe Studentenzeit. Mir aber war das Herz zum Zerspringen schwer – wie durft' ich der Geliebten gedenken – heimatlos, den Bettelstab in der Hand! – – – – – –
Und nun sind die Jahre vergangen wie im Fluge. Ich kehrte heim, gelobt und ausgezeichnet, daß mir um ein demütig Herz bange war, mit der medizinischen Doktorwürde. Eine reiche Stelle war mir in Frankfurt a. M. angeboten, zuvor aber zog's mich heim, die Rose von Jerichow zu pflücken. Ich durft' ja in Ehren um ein adelig Weib werben!
So ritt ich in Jerichow ein. Das Herz schlug mir laut, als ich an das Stadttor kam und hinaufblickte zu dem Gemache der Geliebten. Der Schnee lag rings auf den Türmchen und Zinnen des alten Patrizierhauses wie ein weißes Festgewand; über dem Eingangstor hing ein Kranz von Tannenzweigen und weißen Christrosen, die unter dem Schnee blühen zur Zeit der Geburt des Hochgelobten.
Ich ging weiter; aber wie einsam war das alte Haus, wo war das silberhelle Lachen des Mägdleins mit den Märchenaugen?
Herrn Heinrichs Gemach war verschlossen, kein Mensch schien im Hause zu sein – eine unnennbare Angst erfaßte mich – was hatte dies alles zu bedeuten? Ich ging die kleine Wendeltreppe hinauf, die zu Ingeburgs Gemach führte, da hörte ich leise Schritte, eine Frauenschleppe rauschte auf den Stufen – Frau Erica von Gerlach stand vor mir. Sie schien mich erwartet zu haben und streckte mir liebreich beide Hände entgegen, ihr Antlitz trug einen Zug tiefen Mitleids.
»Wo ist Ingeburg?« fragte ich, und als sie mir nicht gleich zu antworten vermochte, rief ich noch einmal, von tödlicher Angst erfüllt: »Um Gottes willen, sagt mir, wo ist Ingeburg?«
»Sie ist nicht daheim,« sagte die alte Frau, und ihre Stimme zitterte, als sie fortfuhr: »Kommt mit mir, ich will Euch alles sagen, doch müßt Ihr Geduld mit mir haben!« Tränen erstickten ihre Stimme, ich führte sie in Ingeburgs Gemach, und sie setzte sich auf den Fenster sitz, wo wir so oft als Kinder geplaudert hatten. Als ich mich neben sie gesetzt, schaute ich auf, und meine Augen wanderten durch den lieben, bekannten Raum. Da sah ich auf dem Tische ein lichtes, zartes Gewebe liegen, und als ich genauer darauf hinblickte, erkannte ich den weißen Brautschleier und ein grünes Kränzlein dabei.
Nun wußt' ich alles, lautlos sank ich neben Frau Erica auf die Kniee und barg mein Haupt an ihrer Seite. Sie strich mir leise mit der Hand über das Haar, und dann hat sie mir von allem erzählt, wie es gekommen.
Es war ein schweres Werk für die alte Frau, von dem mit mir zu reden, was mir das Herz brach. Aber sie tat es, wenn auch mit zitternden Lippen, so doch mit festem Mut, als eine ihr von Gott gebotene Pflicht. Zwei Jahre nach meinem Fortgang war ein junger thüringischer Edelmann in die Mark gekommen. Er kam viel nach Jerichow, und bald wußte man, warum. Herr Heinrich war mit Freuden bereit, den jungen vornehmen und reichen Wolf Dietrich von Witzleben als seinen Schwiegersohn aufzunehmen und begrüßte den Freier mit offenen Armen. Ingeburg aber wollte nicht; als der Vater mit Fragen in sie drang, sagte sie nur, sie glaube nicht, daß sie Wolf Dietrich glücklich machen werde, und ging nicht von dieser Meinung ab.
»Nie bis auf diesen Tag,« sagte Frau Erica, »hatte ich meinen Sohn zornig gegen das Kind werden sehen, aber nun war er außer sich. ›Auf wen wartest du denn?‹ rief er in hellem Unwillen, kein besserer Mann kann um dich armes Mägdlein freien, du trägst doch nicht den Junker von Ribbeck im Herzen, das war eine Kinderliebe, und ich sagte nur derhalben nichts dazu – doch hat er dich längst vergessen, und zudem habt ihr beide keinen roten Heller! Daraus wird nichts, und es geschieht mein Wille!‹
Die Jungfrau war totenblaß geworden, aber sie sagte nichts mehr, und am andern Morgen kam Wolf Dietrich von Witzleben und drückte den Brautkuß auf Ingeburgs zarten Mund.
Sie haben noch ein Jahr gewartet, die Braut war noch gar zu jung, und so hatte ich meinen Liebling noch ein Weilchen. Wolf Dietrich hatte eine tiefe, heiße Liebe zu dem Mägdlein, und ich freute mich, daß Ingeburg nach und nach auflebte und zugänglicher für ihn ward, so daß ich hoffe und glaube, daß ihre Ehe eine gesegnete und glückliche wird. Ein halbes Jahr vor der Hochzeit starb mein Sohn nach kurzer, schwerer Krankheit. Ingeburg und Wolf Dietrich haben bei ihm gewacht bis zuletzt, und als er sein Ende nahen fühlte, hat er die Hände auf die beiden gelegt und sie gesegnet. So war es ein stilles Hochzeitsfest, das wir gestern gefeiert. Am Morgen vor der Trauung kam Ingeburg noch einmal zu mir. Sie setzte sich auf das Bänkchen zu meinen Füßen und lehnte den Kopf an meine Schulter. »Großmutter!« sagte sie.
»Nun, mein Kind?« fragte ich und strich über ihr Antlitz.
»Großmutter, ich möchte dir etwas sagen. Es muß mir vom Herzen herunter, bevor ich Wolf Dietrichs Gemahl bin. Großmutter, glaubst du, daß Bernhardus noch meiner gedenkt? Sieh, ich hab ihn lieb gehabt, seit ich ein Kind bin – weißt du noch, wie wir in der Linde Hochzeit hielten? Da sagte er mir: ›Wenn ich groß bin, dann komme ich wieder und frage dich in Wahrheit, willst du dann auch ja sagen?‹ Das habe ich nimmer vergessen und hab's allzeit im Herzen bewahrt. Später war er so ernst und still und hat nie mehr etwas gesagt, nicht einmal beim Fortgehen, auch dem Vater nicht – so hab ich gedacht, er liebte mich nicht, sonst hätte er doch ein Wörtlein für mich haben müssen, ehe er auf Jahre ging.«
»Ich weiß es,« fuhr Ingeburg fort, »daß jetzt das Seingedenken Sünde ist, Großmutter, aber ich glaube auch, ich überwinde es täglich mehr. Ich habe Wolf Dietrich das Jawort aus Gehorsam gegeben, ich habe ihn hoch achten und jetzt ihm vertrauen, ihn lieben gelernt. Wenn Bernhardus kommt und doch noch nach mir fragt, willst du ihm sagen, wie es kam – o – fragte er nimmer! Der Gedanke, daß er mich für treulos hält, nagt mir am Herzen, und doch – könnt' ich anders handeln!? Des Vaters schnelles Ende wäre sonst wie eine Anklage gegen mich gewesen. Ich habe es Wolf Dietrich gesagt, daß ich einen andern geliebt, Großmutter, ein Geheimnis durft' ich vor ihm nicht haben.«
»Und was sagte er?« fragte ich erschrocken.
»Einen Augenblick sah er mich traurig an, dann nahm er mich in seine Arme, küßte mich und sagte: ›Ich liebe dich noch mehr um dieses Wortes willen, Ingeburg – du bist edler und demütiger als ich – glaub ich doch kaum, daß ich dieses Bekenntnis hervorgebracht.‹« –
Als sie zur Kirche gingen, lag ein Ausdruck tiefen Friedens auf dem stillen Gesicht, ich werde ihn nie vergessen. Gestern abend sind sie fortgeritten. Witzlebens Burg Hohenhaus liegt nicht weit von Tangermünde.«
Frau Erica schwieg; dann strich sie sanft mit der feinen Hand über meine Locken und sagte leise: »Wie gut, daß Ihr nicht gestern kamet, Bernhardus, der Hochgelobte hat Euch und Ingeburg den Frieden bewahren wollen!«
Den Frieden? – –
Es brauste mir durchs Herz wie ein Sturmwetter, Nacht war's um mich und in mir, und in meiner Seele hämmerte es: versäumt! Sie aber, die sich anklagen wollte – wie eine Heilige stand sie vor mir – mein war Sorglosigkeit und Versäumnis. – Wie ich aus dem Gemach kam, weiß ich nicht, ich ging an dem Brautschleier und Hochzeitskranz vorüber, die Treppen hinab, über den verschneiten Hof, hinaus in die Nacht. Eisige Kälte umfing mich, und die kleinen Flocken legten sich barmherzig auf den einsamen Wanderer, als wollten sie ihn schützen. Mein Weg lag vor mir, ich wollte ins Kloster, Hochwürden. Das Leben blickt mich an wie ein Novembertag – Gutes tun und Liebe üben aber kann man überall, und zumal der Arzt kann es sehr gut im Mönchsgewande. Als ich in die Nähe Eurer Kapelle kam, wurde ich noch in meinem Beschlusse bestärkt. Vom Turme schwebten die Klänge der Christnacht.
»Das ew'ge Licht geht da herein,
Gibt der Welt ein'n neuen Schein!
Es leucht' wohl mitten in der Nacht
Und uns des Lichtes Kinder macht!«
tönte das Lied des Mönches von Wittenberg über die Heide. Es nahm mich wunder, daß Eure Mönche das Lied des Geächteten sangen, Hochwürden; doch ich kann's nicht leugnen, daß es sich wie Balsam auf mein wundes Herz legte.
»Es leucht' wohl mitten in der Nacht
Und uns des Lichtes Kinder macht!«
hörte ich immer wieder, und wie der erste Hoffnungsstrahl nach dunklen Stürmen zog e8 in meine müde gerungene Seele. Der Stern des Kindes von Bethlehem steht noch hell am Himmel, das soll auch mein Trost sein in der Nacht der Anfechtung und des Verzagens.« Er schwieg.
Der Abt aber nahm den Jüngling in die Arme, und er weinte lange und bitterlich an dem Halse des alten Mannes.
»Es freut mich innig,« sagte der Greis, »daß gerade das Lied vom ew'gen Licht Euch den Weg zu uns gezeigt. Ich lasse es die Brüder singen, habe ich doch den Dr. Luther nie für einen Ketzer gehalten, und seit er uns dies Lied gesungen, habe ich ihn vollends lieb! Er mag in manchem irren, ich alter Mann versteh' es nicht und überlasse das Urteil über andere Menschen Gott dem Herrn – aber eins finde ich in diesen Klängen: den Glauben an den Sohn des lebendigen Gottes, unsern Herrn Christum! Darin fühle ich mich im Geiste mit dem Luther verbunden, und darum singen auch die Mönche von Fischbeck fröhlich den Gesang des Doktors zu Wittenberg – ist es doch ein Lied unseres allerheiligsten Glaubens.«
Sie saßen noch lange beisammen, bis ein junger Mönch eintrat und dem Abte die Abendmahlzeit meldete. Er nickte ihm freundlich zu und kam nach einer Weile mit Bernhardus von Ribbeck, der die Klostertracht von Fischbeck trug, in den Speisesaal. Der Abt machte Bruder Bernhardus mit seinen Genossen bekannt, die ihn herzlich begrüßten, dann wurde gegessen und nach dem Gratias gingen alle in die kleine, hell erleuchtete Klosterkirche. Zwei strahlende Christbäume brannten am Altar, und durch die bunten Scheiben blickten die tiefverschneiten Zweige des Juniperus verwundert nach den geschmückten Kindern des Waldes. Vor dem Bilde des Gekreuzigten blühte im Krug ein Strauß Christrosen; ein Klosterbruder hatte sie unter dem Schnee gefunden und das Heiligtum damit geschmückt. Nach der Predigt erklang das Soli deo gloria, und als Ausgangslied zogen noch einmal die hellen Töne des Wittenberger Lobgesanges durch die Klosterkirche. Jubelnd klang es durch die stille Abtei und legte sich wie süßer Trost aus der Höhe auf das Herz des jungen leiderfahrenen Mönches. Immer wieder hörte er es in einsamer Zelle in den stillen Nachtstunden, und als er endlich die müden Augen schloß, klang es friedevoll in seine Träume:
»Es leucht' wohl mitten in der Nacht
Und uns des Lichtes Kinder macht!«
Frühmorgens stand er am Fenster, als im Osten die Weihnachtssonne aufging. Sein Antlitz war ernst und bleich, aber es lag ein Ausdruck tiefen Friedens darauf. Mochte das Leben wie ein verschneiter Weg vor ihm liegen – er hatte den Aufgang aus der Höhe geschaut, und in der Stille der Christnacht war einer bei ihm gewesen, vor dessen leuchtenden Augen alles Erdenleid wie Morgennebel verschwindet: der Meister war in die stille Zelle getreten und hatte den Frieden darin zurückgelassen, der höher ist, als alle Vernunft.