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In einem weltfernen Lande herrschte vor vielen, vielen Jahren ein mächtiger König, namens Brunolf. Er wohnte in einem stolzen Schlosse, das am Ufer eines blauschimmernden Sees lag.
Aus weißen Marmorsteinen war das Schloß erbaut, und wenn am frühen Morgen die Sonne aus den bläulich schimmernden Fluten des Sees auftauchte, da schickte sie ihre ersten Strahlen nach dem silberglänzenden Marmorpalaste, aus dessen polierten Wandflächen sie, gleich wie aus einem riesigen Spiegel, zurückstrahlten.
Weite Gärten, in denen die allerschönsten Blumen blühten und hochragende Bäume standen, erstreckten sich meilenweit in das Land.
Auch in die kristallhellen Fenster des Schlosses schauten die neugierigen Sonnenstrahlen, der Anblick war aber auch gar zu köstlich, der sich ihnen dort innen darbot.
Besonders die Pracht und Schönheit des großen Thronsaales bewunderten die Sonnenstrahlen. Da strotzten die Wände von eitel Gold, die Fußböden waren mit purpurnen Teppichen belegt, und gar der Königsthron selbst, der war mit Brillanten, Smaragden und Rubinen geschmückt. Wie das leuchtete, glänzte und blitzte.
In den Schatzkammern – diese Nachricht hatten die Sonnenstrahlen von den nicht immer glaubwürdigen Schloßfliegen erhalten – sollten große Kisten gefüllt mit Edelsteinen und Schränke voll goldener und silberner Gefäße stehen. Und im Marstalle, der mit seinen Türmchen und hohen Portalen selbst wie ein kleines Schloß aussah, standen die edelsten Rassepferde an silbernen Krippen und ließen sich das duftige Heu von den blumenreichen Hofwiesen schmecken.
Kurz, König Brunolf war unermeßlich reich, deshalb pries alle Welt König Brunolf als den glücklichsten Mann im ganzen Königreiche, und die Sonnenstrahlen, die gleich den meisten Menschen nur nach dem äußeren Scheine urteilen, pflichteten ihr bei. Dennoch war der reiche König nichts weniger als glücklich; sein Herzenswunsch, einen Sohn zu besitzen, war ihm vom Schicksale versagt geblieben.
König Brunolf hatte nur ein einziges Kind, ein Töchterchen, die liebliche Frigga, so genannt nach der siebenschönen Frigga, der Gemahlin des mächtigen Götterfürsten Odin. Prinzessin Frigga glich ihrer himmlischen Namensschwester an Schönheit des Körpers und an Güte und Milde der Seele; dennoch vermochte der Anblick seiner lieblich heranblühenden Tochter König Brunolfs Herz nicht zu befriedigen.
* * *
Eines Nachmittags betrat König Brunolf sein Zimmer; mit einem schweren Seufzer ließ er sich von seinem Kammerdiener den rotsamtnen Königsmantel von den Schultern nehmen. Die goldene Krone setzte er höchst eigenhändig auf einen goldenen Tisch.
»Das Regieren ist doch eine angreifende Sache,« flüsterte der König vor sich hin.
Dann gähnte er, und dabei blickte er seitwärts in einen deckenhohen Kristallspiegel. Mit ernst gefalteter Stirn betrachtete der König sein Spiegelbild, dann schüttelte er das Haupt.
»Ich werde alt und grau,« murmelte er, »die Königskrone drückt mich, ihr goldener Reif schneidet mir tief in die Stirn. Früher empfand ich ihre Last nicht, aber –« hier seufzte der König nochmals schwer auf, »in wessen Hände soll ich meine Krone, meine Macht einst legen? O, besäße ich einen Sohn, einen Erben meines Reiches,« setzte er sehnsuchtserfüllten Herzens hinzu.
Eine Weile starrte der König gedankenvoll vor sich hin, dann ließ er sich in seinen Sorgenstuhl fallen.
Hier hatte er schon so manches Mal gesessen und gegrübelt.
Im Schlosse war es sehr still. Die Minister, Hofdamen und Edelherren hatten sich in ihre Gemächer zurückgezogen, selbst drunten in der Hofküche schnarchte der dicke Hofkoch mit seinen Küchenjungen um die Wette.
Zu den offenstehenden Fenstern des Königszimmers drang eine heiße, einschläfernde Luft herein; der König blinzelte erst mit den Augen, dann fielen sie ihm zu, sein Haupt sank tiefer in die weichen Sammetkissen, und er schlummerte ein.
Alsbald schwebte und flatterte es zu den Fenstern herein. – Kleine, zierliche Elfen, Männlein und Weiblein. Sie trugen lila Kleidchen, mit Perlen und Edelsteinen verziert. Von den Köpfchen der Elfenweibchen wallten spinnwebenfeine Schleier hernieder, die mittelst goldener Spangen gehalten wurden.
Mit ihren Schleiern wehten sie dem schlafenden König Kühlung zu, bis seine Augenlider fest geschlossen waren. Er atmete leise und ruhig.
Die Elfenherrlein bildeten einen Ringelreigen um den Schläfer. Sie hoben sich, bogen ihre zierlichen Gestalten und schwebten in graziösen Tanzschritten dahin. Dazu erklang leise und sanft eine ferne, wunderliebliche Musik.
Zierliche Elfenweibchen kletterten behend auf Knie und Schultern des Königs, und das allerschönste Elflein neigte sich an sein Ohr; halb singend, halb sprechend, flüsterte es:
»Schlaf, mein König, schlafe du,
Schließe deine Augen zu!
Höre, was das Elfchen singt,
Was vom Wald herüberklingt:
Bald naht die Zeit, die frohe Zeit,
Dein Herz wird frei, dein Herz wird weit;
Den hehren Helden, den Königssohn,
Den Erben deiner goldnen Kron',
Im Wald wirst du ihn finden,
Im Tal der sieben Linden.
Schlaf, mein König, schlafe du,
Schließe deine Augen zu.«
* * *
Als König Brunolf gegen Abend aus seinem Schlummer erwachte, fühlte er sich wunderbar gestärkt.
Bei der Abendtafel scherzte er mit Prinzessin Frigga, ja, er strich ihr liebkosend über den blonden Scheitel. –
»Morgen gehe ich auf die Jagd; da werde ich dir etwas Extraschönes mitbringen. Wirst Augen machen, so groß wie die Mühlräder.«
»Eine goldene Kette oder ein zahmes Waldhäschen?« fragte Frigga neugierig; aber der König lächelte nur geheimnisvoll und schwieg.
»Und jetzt, Mundschenk, bringe mir ein Glas schäumenden Weines. Ich trinke auf die Erfüllung meines höchsten Wunsches.«
Hell klangen die Gläser – dann hob König Brunolf die Tafel auf und schritt, Prinzessin Frigga den Arm bietend, aus dem Saale.
Erstaunt blickte die Hofgesellschaft dem Könige nach.
»Seine Majestät geruhten sehr heiter zu sein,« flüsterte Kammerjunker von Windhund.
»Haben Sie gehört, hihi – Seine Majestät beliebten zu scherzen. Etwas Schönes aus dem Walde heimbringen, was sollte das wohl sein?«
»Nun, Sie müssen es doch wissen, Graf Neunmalklug. Sie hören doch das Gras wachsen und die Mücken niesen.«
Mit wichtiger Miene und steifer Grandezza verneigte sich der Graf, während der lustige Kammerjunker ihm lachend nachblickte.
* * *
Es war früh vor Tag und Tau, als schon die Jagdhörner zum Aufbruch mahnten:
An der Spitze einer glänzenden Gesellschaft ritt König Brunolf aus dem Schloßhofe.
Von der Altane ihres zierlich eingerichteten Stübchens blickte Frigga den rotbefrackten Reitern nach. Wie stolz bewegten sich die edlen Rassepferde, mit freudigem Wiehern begrüßten sie den schönen Morgen. Frigga seufzte ungeduldig auf.
»Weshalb bin ich nur ein Mädchen, dem Sitte und Anstand die Teilnahme an einem fröhlichen Jagdausflug verbieten,« grollte sie, ihr feines flechtengeschmücktes Köpfchen hängen lassend. – Doch bald blitzte es schalkhaft aus ihren blauen Aeuglein, und rasch und behende schlüpfte sie hinab in den Spiegelsaal, so genannt, weil seine Wände ringsum aus riesigen Spiegelscheiben, an denen sich Girlanden von Porzellanblumen entlangzogen, bestanden. Mit zierlichen Trippelschrittchen eilte Prinzeßchen Frigga über den blank polierten, getäfelten Fußboden.
Inmitten des Saales stand sie dann lauschend still, und ein holdseliges, glückstrahlendes Lächeln huschte über ihr liebliches Antlitz. – Niemand hatte sie bemerkt – sie war allein – ganz unbeobachtet allein. Ihre schon bejahrte, etwas korpulente Oberhofmeisterin, Gräfin Alten, hatte sich in ihr Privatzimmer zurückgezogen, um dort ein ungestörtes Vormittagsnickerchen zu halten. Diese günstige Gelegenheit beschloß Frigga auszukosten. In dem wonnigen Gefühl, endlich einmal der strengen Etikette entwischt zu sein, warf Frigga beide Arme sehr wenig etikettenmäßig in die Höhe und stieß einen lustigen Juchschrei aus; dann, als sie sich dadurch vergewissert, daß sie auch wirklich und wahrhaftig allein sei, schlitterte sie wie ein richtiges Straßenkind über das spiegelglatte Parkett des großen Saales.
Hui, wie ihr dabei die blonden Flechten um das rosig erglühte Gesichtchen flogen, wie blitzten und flammten die blauen Guckäuglein. Solche Augenblicke uneingeschränkter Lust waren leider selten im Leben des Prinzeßchens. Und sie war doch noch so jung, Frigga zählte erst sechzehn Lenze. Andere Mädchen ihres Alters durften noch ohne Hut und Handschuhe in den Garten, ja hinaus in den Wald laufen. Prinzeßchen mußte, so wollte es die strenge Etikette, feierlich und abgemessenen Schrittes neben ihrer Oberhofmeisterin durch die langweiligen, schnurgeraden Gänge des Parkes stolzieren, kein Schritt links oder rechts vom Wege ward ihr erlaubt. Deshalb war Prinzeßchen so fröhlich und glücklich, endlich einmal ein Stündchen der lästigen Etikette und deren noch unduldsameren Hüterin, der Gräfin Alten, entwischt zu sein.
Doch bald gab Frigga das Schlittern auf, und nun bewunderte sie ihr eigenes Bild, das ihr aus den deckenhohen Spiegeln entgegenstrahlte.
Freilich, Prinzessin Frigga konnte sich sehen lassen, sie war fein und schlank wie eine Elfe gewachsen. Sie hatte ein Gesichtchen wie Milch und Blut, ihre Aeuglein glichen Saphiren, und ihr Mündchen war purpurrot und glich einer reifen Herzkirsche.
Prinzeßchen neigte und drehte sich vor den Spiegeln, denn sie war, wie alle jungen Mädchen, ein wenig eitel; aber das schadet gar nichts, ein junges Mädchen kann eitel sein, nur darf diese erlaubte Eitelkeit nicht in albernen Hochmut und in maßlosen Stolz auf ihre knospende Schönheit ausarten.
Nachdem nun Prinzeßchen sich eine Weile an ihrem Anblicke gelabt, fuhr ihr ein neuer Plan, ihre goldene Freiheit zu genießen, durch das Krausköpfchen.
Sie schlitterte nach der Tür und huschte, leise wie ein Kätzchen, nach einer hinter einem alten breiten Kamin versteckten Holztreppe. Diese schmale, düstere Holztreppe hatte Prinzeßchens Neugierde schon längst erregt, allein Gräfin Alten hatte ihr mit strengen Worten jede Nachforschung über die geheime Treppe untersagt, denn – »kleine Kinder und junge Mädchen brauchen ihre kleinen Näschen nicht in alle Dinge zu stecken.« –
Die Dienerschaft mochte Frigga nicht danach fragen, denn sie war doch immerhin eine Prinzessin.
Heute nun lagen die Dinge anders. Die gestrenge Hüterin der Etikette schlief, also »frisch ans Werk, der Weg war frei!«
Mit diesen Worten ermutigte sich Frigga, denn die Treppe war sehr steil und sehr schmal und schien seit Olims Zeiten nicht gefegt worden zu sein. Dichter Staub wirbelte unter Friggas Schritten auf, deshalb nahm sie den Saum ihres weißen Schleppkleides hoch, damit der später nicht zum Verräter werden konnte.
Von Zeit zu Zeit hielt Prinzeßchen im Steigen inne. »Ist das aber hoch, ich müßte schon längst in der obersten Spitze des großen Turmes angelangt sein!« überlegte sie, als auf einmal ein eigenartiges Singen und Klingen an ihr Ohr schlug.
Das klang so lieblich und fein, wie es Frigga noch niemals vernommen, dazwischen mischten sich tiefe, volle Baßtöne, wie fernher grollender Donner.
Gelockt von dem geheimnisvollen Singen und Klingen stieg Frigga weiter; aber endlich war die Welt vor ihr, im engsten Sinne des Wortes, mit Brettern vernagelt. Frigga konnte nicht mehr vorwärts, ein Holzverschlag hemmte ihren Weg.
»Wie dumm, ich wäre so gern dem geheimnisvollen Singen und Klingen auf die Spur gekommen,« dachte Frigga, dabei bearbeitete sie mit ihren kleinen Fäusten unbarmherzig den Holzverschlag. Plötzlich gab es einen Knacks – ähnlich dem Abschnurren eines Uhrwerkes – und der Holzverschlag klappte mitten auseinander. Eine schmale Oeffnung wurde sichtbar, kaum so weit, daß Prinzeßchen eben hindurchschlüpfen konnte.
Hochaufatmend blieb sie wie gebannt stehen. Ihre Ueberraschung war leicht begreiflich, denn sie befand sich plötzlich in einem altmodisch eingerichteten Stübchen, an dessen einzigem Fenster ein altes, verschrumpeltes Weiblein saß.
Neben ihr auf einem Holzgestell hingen glänzende Glöckchen von allerlei Größen. Hier gab es Glöckchen so klein wie ein Fingerhut und ebenso Glocken so groß wie eine Kirchenglocke.
Mit ihren hageren Händen bewegte die alte Frau die Glöckchen, die jene seltsamen schönen Klänge hervorbrachten.
Voller Neugierde betrachtete Prinzeßchen die alte sonderbare Frau.
»Wer bist du?« fragte sie, nähertretend, »wie kommt es, daß ich dich noch niemals gesehen habe?«
Die alte Frau lachte und wiegte bedächtig ihr Haupt.
»Wer ich bin? Ich bin die Turmalte. Unzählige Jahre bewohne ich das Turmstübchen. Menschen, Geschlechter kamen und gingen. Ich blieb. Dein Vater besucht mich oftmals; er schätzt meinen Rat,« erwiderte die Turmalte, ohne ihr Glockenspiel zu unterbrechen.
»Deine Glöckchen lockten mich hierher; willst du mich lehren, auch so schön zu spielen?« fragte Prinzeßchen, voller Staunen das Gebaren der Alten verfolgend.
»Ach so – sieh einmal an, spielen willst du lernen, dies könnte jeder wünschen.«
»Aber ich langweile mich so oft, gute Frau, und wenn Papa sich zum Regieren einschließt und Frau Oberhofmeisterin ihre Nickerchen hält, dann bin ich ganz allein und einsam. Wenn ich spielen könnte, würde ich mir damit die Zeit vertreiben.«
»Du mußt arbeiten.«
»Arbeiten? Aber das schickt sich doch nicht für eine Prinzessin.«
»Ei, seht an, wie klug das Mäulchen plappert, arbeiten müssen alle Menschen, dazu ist keiner zu hoch oder edelgeboren. Dein Vater, der mächtige König, arbeitet auch; nur wer ein langes, arbeitsames Leben hinter sich hat, der darf dann ausruhen.«
»Ja, aber –« bei den letzten Worten war das Königstöchterlein an das Fenster getreten. Ein Schrei der Ueberraschung löste sich von ihren Lippen.
»Wie hoch bin ich gestiegen, und wie klein und unansehnlich sehen von hier oben die hohen Parkbäume aus, und was für kleine Würmchen dort unten hin und her kriechen – ach –« hier klatschte Prinzeßchen Frigga vor Seligkeit in ihre Hände – »solch ein Würmchen möcht' ich haben.«
»Natürlich, alles was ihr beliebt, möchte Prinzeßchen haben; doch blicke schärfer hin, das sind keine Würmer, das sind Menschen, Frauen und Männer, die ihren Geschäften nachgehen. Hier, schaue durch dieses Glas.« Frigga nahm den runden Glasscherben, den ihr die Alte bot, und hielt ihn vor das rechte Auge. »Ach, wie herrlich, wie schön!« rief sie begeistert aus. »Ach, dort drüben liegt der See, und dort, ach, seht nur, gute Frau, soeben stößt ein Nachen vom Ufer, und darin sitzt –«
»Der Fischerheiny,« vollendete die Turmalte. »Hinter dem kahlen Felsenvorsprung steht sein dem Einsturz nahes Hüttchen.«
»Der Fischerheiny,« wiederholte Frigga träumerisch; dann faltete sie bittend ihre kleinen Hände. »Bitte, erzähle mir mehr von dem Heiny. Ich will!« fuhr Prinzeßchen auf, ihre kleinen Füße stampften ungeduldig den Boden.
»Gemach, gemach, Prinzeßchen, man darf nicht so hastig sein und seinen Wünschen die Zügel schießen lassen. Selbstbeherrschung üben ist eine königliche Tugend. Der Heiny ist –«
»Weshalb brichst du mitten im Satze ab?«
»Weil – weil kleine Kinder nicht alles zu wissen brauchen,« erwiderte barsch die alte, weißhaarige Frau.
Frigga zog ein Schmollmäulchen.
»Du bist garstig und redest gerade wie meine Oberhofmeisterin. Ich werde Heiny selbst aufsuchen,« erwiderte sie, stolz ihr Köpfchen hebend. Jetzt war Frigga jeder Zoll die hochgeborene Königstochter.
Die alte Frau lächelte nachsichtig, dann nahm sie aus einem Körbchen ein verkleinertes Abbild ihres Glockenspieles.
»Hier, bewahre dieses Spiel, setze dich morgen mittag, wenn die Sonne hoch im Zenit steht, an das Ufer des blauschimmernden Sees und warte der Dinge, die da kommen werden. Doch jetzt gehe, die arme Gräfin Alten ängstigt sich über dein Verschwinden. Sie hetzt treppauf, treppab, um ihr verlorenes Kleinod, das verschwundene Prinzeßchen, zu finden. Geh – geh,« drängte die Alte.
Frigga stand schon auf der Schwelle, als sie noch einmal zurückschaute: »Habe Dank für dein Geschenk – ich besuche dich bald wieder. Lebe wohl!«
Die Tür schloß sich hinter Prinzeßchen, sie preßte das kleine Instrument fest an sich und schlüpfte wie ein gelenkes Kätzchen die Treppe hinab. Hochaufatmend erreichte sie, ohne bemerkt zu werden, ihr Stübchen. Doch kaum hatte sie Zeit gehabt, das kleine Glockenspiel in einem Schrank zu verschließen, als auch schon Gräfin Alten, die gestrenge, schwerzürnende Oberhofmeisterin, erschien.
Mit einem radgroßen Federfächer sich Luft zuwedelnd, stand die Gestrenge, hochrot im Gesicht, auf der Schwelle.
»Hoheit! Hoheit!« stammelte die stark asthmatische, korpulente Dame. »Wie konnten Sie mir diesen entsetzlichen Schreck antun? Bis zum Sterben habe ich mich geängstigt. Das ganze Schloß ward nach Prinzessin Frigga durchsucht, die Schloßwache durchstreifte Park und Gärten, nirgend, nirgend war eine Spur zu finden. Ich bin beinahe halbtot,« schloß die geängstigte Oberhofmeisterin.
»Na, na, Altenchen, wer wird gleich sterben, ich bin ja wieder da; frisch und gesund wie ein Fisch im Wasser. Legen Sie Ihre Leichenbittermiene ab, lassen Sie uns eine Schale Vanilleeis mit Schlagsahne auf den Schreck nehmen. Eis schlägt nieder, das beruhigt Ihre Nerven, Altenchen.«
Von Prinzeßchen Frigga gezogen, schleppte sich Gräfin Alten durch den Spiegelsaal.
Verstohlen blickte Prinzeßchen in den Spiegel.
»Dem Himmel sei Dank, mein Kleidersaum ist rein und sauber geblieben; mein Abenteuer wird ohne Entdeckung und schlimme Folgen bleiben,« dachte sie, erleichtert aufatmend. Dann wendete sie sich zur Gräfin: »Und nun zum Vanilleneis, ach, und Schlagsahne, meine höchste irdische Glückseligkeit.«
* * *
Unter Hurra und Hussaschreien, begleitet von den schmetternden Fanfaren der Hörner, begann die fröhliche Jagd. Altehrwürdige Buchen, breitausladende Eichen, zwischen denen das hellgrüne Laub der weißstämmigen Birken hervorleuchtete, nahmen die Jagdgesellschaft in ihren Schatten auf. Seinen Begleitern weit voran stürmte König Brunolf. Die frische Luft des Waldes rötete seine Wangen, seine Sorgen und Kümmernisse schwanden. Wie befreit von schwerer Last atmete er auf.
Mit blitzenden Augen verfolgte er das scheue Wild, und nur selten verfehlte sein Wurfspieß die ersehnte Beute. So im Eifer geriet König Brunolf immer tiefer in den Wald. Längst hatte er sein Gefolge hinter sich gelassen, nur der alte Kaspar, sein getreuer Jägerbursche, schritt ihm zur Seite. Die Zeit verging wie im Fluge. Schon gemahnte die niedrig stehende Sonne den König zur Umkehr, als plötzlich ein zierlicher Rehbock aus dem Dickicht hervorbrach. Sofort erwachte die Jagdlust des Königs, er vergaß Zeit und Müdigkeit und pirschte sich näher an das herrlich gebaute schlanke Tier.
Schon war der königliche Schütze auf Schußweite herangeschlichen, schon hob er sein tödliches Geschoß, als der Rehbock plötzlich mit einem gewaltigen Sprung in das Dickicht zurücksetzte. Dabei traf ein heller Sonnenstrahl den Kopf des Rehbocks – der König staunte. Im Scheine der Sonne funkelte zwischen den Geweihstangen eine zierliche goldene Krone.
Der Sonnenstrahl erlosch – der güldene Schein schwand – allein der Rehbock hatte das Zaudern des Jägers benutzt und war zwischen dem hier üppig wuchernden Unterholz verschwunden.
Mißmutig gab König Brunolf die Jagd auf, als ein weithin gellender Schrei, wie ihn ein Mensch nur in höchster Todesnot ausstößt, die fast unheimliche Stille im Walde unterbrach.
Einen Augenblick lauschte der König, dann durchbrach er beherzt eine Dornenhecke, die ihm hindernd in dem Wege lag. Wohl schlangen sich die üppig wuchernden Zweige der Brombeeren um seine Füße, wohl ritzten ihm die scharfen Dornen Gesicht und Hände, König Brunolf achtete weder der Wunden noch Risse, jener gellende Todesschrei jagte ihn vorwärts. Jenseits der Hecke erblickte et den Rehbock; dieser verteidigte sich gegen einen mächtigen schwarzen Wolf, der sich in seinen schlanken Hals eingebissen hatte. Den Nickfänger ziehend, warf sich König Brunolf auf den schwarzen Wolf, der, einen neuen Feind witternd, von seiner Beute abließ.
Die rotunterlaufenen Augen der Bestie glühten im phosphoreszierenden Schein. Zähnefletschend setzte sich der Wolf zur Wehr; dabei stieß das riesenhafte Ungeheuer ein fürchterliches Gebrüll aus, das an das Brüllen eines wütenden Stieres gemahnte.
Der erste Stoß ging fehl. Vorsichtig erspähte König Brunolf nun eine ihm günstige Bewegung des Untieres. Wieder stieß er zu, und dieses Mal wuchtete der Hirschfänger dem Wolf zwischen die Rippen.
Der Getroffene warf sich auf den Rücken und stieß ein höllisches Wutgeheul aus. In seinen Augen glimmte ein stechendes Feuer, sein heißer Atem verwandelte sich in Dampf, und blutiger Schaum troff zwischen den Lefzen herab, während sich sein Leib in wilden Zuckungen am Boden wand.
Den König durchschauerte es eisig kalt.
»Warte, ich will dir dein heulendes Maul schließen.« Er neigte sich tiefer herab, und sein blanker Strahl durchbohrte die Brust der Bestie.
Ein Strahl schwarzen Blutes schoß hoch empor. Die lange Zunge hing zwischen den Lefzen hervor, der Wolf stöhnte wild auf – er dehnte und reckte sich – dann lag er still. Der Anblick des Wolfes erfüllte den König mit Grausen, er verhüllte sein Antlitz. Nach einer Weile senkte er langsam die Hand; unwillkürlich irrte sein erster Blick nach dem erstochenen Feinde hinüber.
König Brunolf rieb sich die Augen. Wachte, träumte er? Drüben am Stamm einer mächtigen Linde lag, lang hingestreckt ein Mensch. Wenigstens saß ein Menschenkopf auf dem mit Zottelhaar bedeckten Wolfskörper.
»Ein Wolfsmensch – ein Werwolf,« stammelte König Brunolf, »ein gefährlicher Zauberer, deshalb auch –« er vollendete nicht, denn plötzlich flog ein Zittern und Beben durch den Leib des Ungeheuers, und König Brunolf traute seinen Augen kaum. Ein riesiger schwarzer Vogel hob sich mit einem gellenden Schrei hoch in die Lüfte. Sein linker Flügel hing wie gebrochen herab. Im nächsten Augenblick war der Vogel zwischen den Baumwipfeln verschwunden.
Jetzt gedachte König Brunolf des Rehbockes – auch dieser war verschwunden. Nur niedergetretenes Gras und geknickte Farren zeigten die Stelle an, wo der mörderische Kampf stattgefunden hatte.
König Brunolf war ein tapferer Held; aber jetzt, zum ersten Male, bemerkte er schaudernd, daß er sich allein in dem unheimlich rauschenden, von Dämmerschatten erfüllten Walde befand.
Auf den Ruf seines Hifthornes erschien Kaspar mit schreckensbleicher Miene.
»Gnädigster Herr, schnell, folgen Sie mir, hier ist es nicht geheuer. Hier im Tale der sieben Linden treiben böse Geister ihr Unwesen,« stammelte er.
»Das Tal der sieben Linden?« wiederholte König Brunolf, der jetzt durch Kaspars Worte an seinen Traum erinnert wurde, »dort sollte ich den Erben meiner Krone finden?«
Kopfschüttelnd folgte der König seinem Führer. Bald umringten ihn die Herren seines Gefolges. Man bestürmte den König mit Fragen; doch er blieb stumm und ordnete nur den Aufbruch und die Heimkehr an.
Mit seinen Gedanken beschäftigt ritt König Brunolf an der Spitze des glänzenden Jagdzuges heim. Gedankenvoller als er ausgeritten, kehrte er in sein Marmorschloß zurück.
* * *
Es war ein köstlicher, herrlicher Sommertag.
Gleich Goldstaub flutete der blitzende Sonnenschein über den Schloßgarten.
Zu den offenstehenden Fenstern des Marmorschlosses strömte eine Wolke balsamischer Wohlgerüche herein. Was Wunder auch; an den hochstämmigen Rosenbäumen auf dem großen Rundell, nahe dem Schlosse, waren über Nacht Hunderte der allerschönsten Rosen erblüht. Mit ihnen wetteiferte Reseda, Vanille und die dickköpfige blütenübersäten Levkojen.
Prinzessin Frigga stand am Fenster ihres Stübchens. Verlangenden Blickes schaute sie hinüber nach dem See, der gleich einer funkelnden Silberscheibe durch die Krone der Parkbäume blitzte.
Mit lockender Gewalt zog es Prinzeßchen hinab in den Garten, der zu dieser Zeit wenig oder gar nicht besucht wurde. Nur die Vögel musizierten in den Zweigen, und die fleißigen Bienchen, sowie die dickbäuchigen Hummeln summten von einem Blütenkelch zum andern, und die leichtbeschwingten Schmetterlinge flatterten in lustigem Spiel über die weiten, sonnenbeschienenen Rasenflächen.
Frigga blickte nach der Sonne auf, sie stand schon ziemlich hoch im Zenit.
»Wollen Hoheit mir nach dem Musiksalon folgen.«
Gräfin Altens Stimme riß Prinzeßchen aus den allerschönsten Träumereien; noch einen langen, sehnsüchtigen Blick warf sie hinab in den Garten, dann folgte sie ihrer Oberhofmeisterin. die steif wie eine Pagode vor ihr hersegelte.
Kalte, eingeschlossene Luft strömte den Eintretenden entgegen. Bittend blickte Prinzeßchen zu ihrer Begleiterin auf; doch die Gräfin schien die beredte Sprache dieses blauen Augenpaares nicht zu verstehen.
»Hier, diese Etüde, bitte ich Eure Hoheit, zu studieren. Ich ziehe mich inzwischen zurück, um höchstdero Aufmerksamkeit nicht durch meine Anwesenheit abzulenken.«
Frigga war todesunglücklich, der elegante Musiksalon erschien ihr gleich einem düsteren Kerker. Zu »ihrer Erholung und besonderen Freude« sollte sie sich ein langweiliges Musikstück einüben, während draußen im Garten die Blumen blühten und die Vögel zwitscherten. Und drunten am Ufer des Sees, dort sollte ihrer das »Allerschönste« warten. Was das war, wußte Prinzeßchen nicht, nur daß es etwas Wunderbares, nie Geschautes sein mußte, daran zweifelte sie keinen Augenblick. Gräfin Alten benutzte die Zeit, während Frigga an den Flüge! gebannt saß, zur Toilette für die Mittagstafel, zu der sie nach der Hofetikette in größter Gala erschien.
Damit nun Prinzeßchen nicht wieder wie gestern nachmittag entwischen konnte, lehnte die Oberhofmeisterin die Verbindungstür zwischen Musikzimmer und ihrem Ankleidezimmer nur an, so daß sie die Uebungen der Prinzessin bequem überwachen konnte.
Allein Prinzeßchen war noch schlauer gewesen. Sie beorderte ihre kleine Zofe Mechtildis, die Tochter des Hofkantors, an den Flügel, mit dem Befehl: nicht von der Stelle zu weichen, bis – nun bis Prinzeßchen Frigga zurückgekehrt sein würde.
Mechtildis versprach zu gehorchen, und beruhigt durch das ununterbrochene Klavierspiel des Prinzeßchens, vollendete Gräfin Alten in aller Gemütsruhe das schwierige Werk der Galatoilette. Währenddem flatterte Frigga, einem weißen Schmetterling gleichend, durch die entlegensten Gänge des Schloßgartens; sie hoffte, ohne bemerkt zu werden, das Ufer des blauschimmernden Sees zu erreichen.
Und ihre List gelang.
Am Ende einer schattigen Allee schimmerte der Spiegel des Sees auf. In holder Erwartung klopfte dem Prinzeßchen das kleine Herz, sie hatte ja die letzte Nacht vom Fischerknaben Heiny geträumt. Ihre Sehnsucht, den Knaben zu sehen und zu sprechen, war von Stunde zu Stunde gewachsen.
»Sobald die Sonne im Zenit steht,« hatte die alte Frau im Turmgemach gesagt, und nun stand die Sonne hoch am wolkenlosen blauen Himmel.
Vor Friggas staunenden Augen lag der See. Ringsherum standen altehrwürdige Buchen, deren Wipfel, wie von einer unsichtbaren Gewalt gezogen, sich weit hinüber auf die schimmernden Fluten neigten.
Prinzeßchen stand auf einem, weit in den See hineinragenden Balkon mit niederer Balustrade. Zu ihren Füßen spielten zahllose Gold- und Silberfischchen, deren ununterbrochene Beweglichkeit das Königstöchterlein belustigte. Allein bald wurde Frigga es müde, dem Spielen der Fischlein zuzuschauen, dabei fiel ihr das Glöckchenspiel ein. Sogleich nahm sie es zur Hand.
Leise, fast zaghaft strichen ihre Finger über die niedlichen Silberglöckchen.
Frigga lauschte.
Wie schön das klang. Nie im Leben hatte Prinzeßchen so reizende Melodien vernommen und – siehe da – kaum daß die ersten Töne über den See hinschwebten, da schwammen auch schon, wie magnetisch angezogen, die leuchtenden Gold- und Silberfische gegen seine Ufer. In dichten Streifen standen sie bewegungslos, ja, Frigga hätte darauf schwören wollen, ihr schien, als höben sich Tausende von blitzenden Köpfchen hoch aus dem Wasser hervor.
Der Klang der Silberglöckchen lockte auch die übrigen Fische des Sees herbei; doch nicht allein die Fische, die Enten, Wasservögel und Wildgänse bewegten sich dem Ufer zu. Sogar die stolzen schwarzen und weißen Schwäne, die in stiller Majestät sich abseits von den übrigen Vögeln hielten, sie änderten ihren Kurs und schwammen herbei.
Atemlos vor Staunen beobachtete Frigga die Wirkung ihrer Glöckchenmusik. Belustigt lachte sie auf. Die Eile und Hast der Tiere, das Ufer zu erreichen, wirkte oftmals verblüffend komisch, besonders einige Wildgänse hatten es so eilig, daß sie flügelschlagend auf dem Wasser dahersausten. Unmassen von Fischen und Vögeln waren schon um Prinzeßchen versammelt – nur Heiny zögerte noch immer.
Hatten die Glöckchen nicht die Kraft, den Fischerknaben herbeizulocken? Schon huschte ein betrübtes Schmollen über Prinzeßchens Antlitz, da schrie sie vor Entzücken laut auf. Um den Felsenvorsprung glitt ein Nachen, und darin saß – der Erwartete.
In der Freude ihres Herzens bog sich Frigga unvorsichtig weit über das niedrige Geländer des Altans, so daß sie das Gleichgewicht verlor und kopfüber in den See stürzte. Frigga stieß einen weithin schallenden Schrei aus, dann schlugen die Wellen über ihr zusammen. Glücklicherweise war Heinys Nachen schon dem Ufer nahe gekommen; ohne sich zu besinnen, stürzte der Fischerknabe Frigga nach in die Tiefe.
Es glückte ihm, ihr weißes Spitzenkleid zu fassen und die leichte Gestalt mit seinen Armen emporzuziehen.
Aber auch im Marmorschlosse hatte man Friggas Angstschrei gehört. König Brunolf voran, eilte das Hofgesinde nach dem See.
Sie kamen gerade zurecht, als Heiny triefend und pudelnaß mit seiner Last das steile Ufer emporklomm.
Unzählige hilfreiche Hände streckten sich dem kühnen Retter entgegen; allein Prinzeßchen, die inzwischen wieder zum Bewußtsein gekommen war, schlang ihre Arme um Heinys Schulter, sich fest an ihn klammernd.
So mußte der Fischer Heiny Prinzeßchen auf seinen Armen in das stolze Königsschloß tragen.
Händeringend stürzte Gräfin Alten aus dem Portal des Schlosses. Das Blut erstarrte ihr zu Eis. Prinzessin Frigga in den Armen eines ärmlich gekleideten Fischerknaben? »Lasse die Prinzessin los, du beschmutzest ihr Kleid – deine Jacke ist zerrissen und abgetragen, und dann gehe – im Schlosse ist für Landstreicher kein Raum!«
Gehorsam ließ Heiny Prinzeßchen von dem Arm herabgleiten, allein Frigga trat zornglühenden Auges vor ihre erschrockene Oberhofmeisterin, und Heiny an der Hand fassend, rief sie befehlend:
»Heiny bleibt bei mir, ich will es!« Dann setzte sie leise bittend und sich zu König Brunolf wendend hinzu: »Nicht wahr, Väterchen, du erlaubst es, daß Heiny bei mir bleibt und neben mir an der Tafel speist?«
»Gewiß, Frigga, dein dankbares Herz lehrt dich, den rechten Weg einschlagen, deinen Lebensretter zu belohnen. Folge der Prinzessin, Heiny, du bist mein lieber Gast, und niemand soll dich deiner Armut wegen mit scheelen Augen ansehen.«
Gegen des Königs Gebot wagte niemand Einspruch zu erheben, ja die Gräfin Alten bemeisterte ihren Grimm so weit, daß sie Heiny mit einem tiefen Hofknicks zum Nähertreten einlud.
Wer war glücklicher als Prinzeß Frigga, die kurze Zeit nachher, an Heinys Seite, zur Hoftafel schritt.
Ihr liebliches, silberhelles Lachen tönte durch den hohen Speisesaal, Frohsinn und Heiterkeit auf dem ernsten Gesicht ihres Vaters hervorzaubernd.
Rascher als gewöhnlich verging Frigga der Tag. Schon sank die Dämmerung herab, und noch hatte sie Heiny nicht alle ihre Schätze, ihre Blumen, Vögel und schönen Bücher zeigen können. Je mehr die Sonne sank, desto stiller wurde Heiny. Angstvollen Blickes beobachtete er den Zeiger einer großen Kuckucksuhr.
»Was ist dir? Habe ich dich geärgert?« fragte Prinzeßchen, ihre Hand auf Heinys Schulter legend. – Unwillkürlich zuckte der Knabe bei dieser Berührung zusammen.
»Du, nicht! Ich habe eine Wunde am Halse!« setzte er, sich entschuldigend, hinzu.
»Weshalb hast du mir das nicht früher gesagt. – Unser Hofarzt hätte dich verbunden, aber du stehst auf – du willst doch nicht gehen?« fragte Frigga angstbewegt.
»Ich muß jetzt heimkehren,« versetzte Heiny traurig.
»Aber nein, mein Vater hat mir versprochen, daß du immer, immer bei mir bleiben darfst – und – mein Vater hält sein Wort. Bleibe bei mir,« sagte Prinzeßchen in zärtlichen Tönen. Heiny neigte sein Haupt. Frigga sah, wie ihm heiße Tränen in die Augen schossen.
»Ich darf nicht, ein mächtiger Zauberer hält mein Leben in seiner Hand. Nur jede Woche darf ich einen Tag lang als Mensch unter Menschen weilen, die übrigen Tage bin ich hinaus in den Wald gebannt und muß als –«
»Rehbock,« fiel König Brunolf überrascht ein. Der König war unbemerkt eingetreten, er hatte die letzten Worte Heinys gehört.
Der Fischerknabe nickte, und der König fuhr fort: »So bin ich dir gestern durch den Wald gefolgt.«
»Der böse Zauberer versuchte mich zu töten, du hast mich gestern aus den Klauen des grausamen Unholdes gerettet, ja, du hast ihn schwer verwundet. Doch noch lebt er – ich darf ihn durch mein Ausbleiben nicht noch mehr erzürnen. Um Mitternacht ist meine Zeit, Mensch zu sein, abgelaufen! Lebe wohl. Frigga – lange acht Tage hause ich nun im wilden Walde.«
Mit großen, weit geöffneten Augen hatte Frigga bald ihren Vater, bald Heiny angeschaut; dann plötzlich umklammerte sie Heiny mit zärtlichem Ungestüm. Bei ihrer raschen Bewegung fielen die Silberglöckchen zur Erde, leise, kaum vernehmbar schwebten die lieblichen Silbertöne durch das Gemach. Im selben Augenblick sprang die Zimmertür auf und herein trat die wunderliche Frau aus dem Turmgemache.
Sie reichte König Brunolf ihre Hand, dann trat sie zu Frigga. »Du hast mich gerufen, Prinzeßchen, was wünschest du?«
»Hilf mir, ich will Heiny nicht ziehen lassen, denn ich habe ihn, ach, so lieb!«
Ein feines Lächeln verklärte das Antlitz der Greisin; dann nickte sie und stülpte eine mächtige schwarze Hornbrille auf die Nase und zog ein stark zerlesenes Buch aus der Tasche. »Vielleicht findet sich in diesem Buche ein Mittel zur Erlösung des armen Heiny.« Seite bei Seite schlug die alte Frau um, Frigga verging fast vor Ungeduld, dennoch wagte sie die Turmalte nicht zu stören.
»Es gibt ein Mittel, Heiny zu erlösen,« bemerkte diese dann langsam und feierlich.
»Was kann ich tun, um den bösen Zauber zu brechen?« fragte Frigga voll zärtlichen Eifers.
»Gemach, gemach, Prinzeßchen, es ist ein schwierig Ding, das du unternehmen willst. Nur wer Mut, Opferfreudigkeit und ein treues, reines Herz besitzt, dem kann die Erlösung gelingen. Doch höre, der böse Zauberer ist zwar verwundet, dein Stoß, König Brunolf, traf ihn mitten in sein schwarzes Herz; doch noch ist er mächtig und sinnt auf Rache. Er wird versuchen, Heiny diese Nacht zu vernichten.«
»Aber das Mittel, gute Frau, das Mittel.«
»Ganz allein, ohne Begleitung mußt du zur mitternächtlichen Stunde in den Zauberwald gehen. In seiner Höhle liegt der Unhold, er brütet schreckliche Rache. Furchtlos mußt du in die Höhle eindringen und dem Zauberer den rotleuchtenden Stein entreißen, den er an einer dicken goldenen Kette um den Hals trägt. Hast du den Zauberstein gewonnen, so fliehe, fliehe, ohne dich umzuschauen aus der Höhle. Hinter dir mag geschehen, was will, kehre dich nicht daran, sondern fliehe so schnell dich deine Füße tragen. Jedes Zögern bringt dir gewissen Tod.«
Die Turmalte schlug ihr Buch zu, erwartungsvoll schaute sie zu Prinzeßchen auf.
»Frigga, mein Kind, bedenke, was für Gefahren dir im Walde drohen!« rief König Brunolf. »Ich beschwöre dich, bleibe bei mir, schon der Anblick des Wolfsmenschen wäre dein Tod.«
Allein Prinzeßchen legte ihre kleine Hand auf, den Arm ihres Vaters.
»Gib dir keine Mühe, Vater, ich darf nicht zögern zu gehen; bedenke, in meiner Hand liegt die Rettung meines geliebten Heiny, und ich sollte überlegend an meine Sicherheit denken? Mein Vater, so gering denkst du nicht von deiner Tochter.«
König Brunolf bezwang seinen Schmerz; er sah, Frigga war fest entschlossen zu gehen.
»Vergiß die Silberglöckchen nicht,« ermahnte die Turmalte, »und hier, nimm noch die drei Rattenhaare, bewahre sie wohl, sie könnten dir von Nutzen sein,« setzte sie, Frigga ein zierliches Holzschächtelchen überreichend, hinzu. Dann glitt die Turmalte wie ein grauer Schatten aus dem Gemach.
Auch Frigga stand zum Gehen bereit. Zum Schutz gegen Wind und Wetter schlug sie ein dunkles Tuch um die Schultern, und in der Hand trug sie die Silberglöckchen. So gerüstet trat sie den Weg nach dem Zauberwalde an.
Wohl klopfte ihr das Herz, als der letzte Schimmer der Schloßlaternen hinter ihr verglommen war. Sie trat in den Wald; hoch droben in den Wipfeln der Waldbäume rauschte und raunte es. Frigga schien es, als liefen ihr unsichtbare Gestalten zur Seite, die ihr Vorwärtsschreiten zu verhindern suchten. Fledermäuse huschten, gespenstig mit den Flügeln schlagend, an ihrem Gesichte vorüber. Irrlichter und Irrwische gaukelten vor ihr her, sie versuchten Prinzeßchen vom rechten Wege abzudrängen; allein Frigga achtete nicht auf die bösen Gesellen der Nacht.
Als ihr der Geisterspuk zu toll wurde, zog sie ihre Silberglöckchen hervor. Leise begann sie zu spielen, und siehe da, die bösen Nachtgeister fuhren mit Gebrüll in ihre geheimnisvollen Verstecke zurück. Die Dunkelheit lichtete sich, und zwischen den Zweigen der Waldbäume lugte, Vertrauen einflößend, die goldene Scheibe des Mondes hernieder.
Im Schein des Mondenlichtes bemerkte Frigga, daß sie nicht mehr allein war. Zwar kein menschliches Wesen begleitete sie auf ihrem mitternächtlichen Gange durch den Wald, doch Rehchen und Hirschkühe, gefolgt von ihren Jungen, drängten sich in Friggas Nähe. Langohrige Häslein hüpften herbei, und eine Schar leichtbeschwingter Waldvögel zog oben in den Zweigen der Bäume mit. Außer den Vögeln begleiteten Frigga auch schöne bunte Sommerfalter, dickköpfige Käfer und schlanke Libellen. Prinzeßchen verlor jede Furcht. Der Klang ihrer Silberglöckchen verscheuchte alles Unreine und Böse aus ihrer Nähe, und da die Waldtiere Weg und Steg in ihrem Reviere kannten, so kam Frigga viel früher, als sie gedacht, vor der Höhle des bösen Zauberers an. Schon von weitem vernahm Frigga sein zorniges Schnaufen und Grunzen; das klang, als würden Riesensteine zu Staub zermahlen.
Lauschend blieb Prinzeßchen vor der Höhle stehen, allein nur einen Augenblick zögerte die mutige Retterin. Heiny hatte sich am Morgen auch nicht besonnen, sondern war ihr in die Tiefe des Sees nachgetaucht. Schnell entschlossen zwängte sich Frigga durch den engen, von Steintrümmern gebildeten Eingang der Wolfshöhle. In der Höhle war es ziemlich dunkel. Die Tiere mußten draußen vor der Höhle zurückbleiben, nur einige Johanneskäferchen waren Frigga gefolgt. Die kleinen niedlichen Laternenträger umschwebten Prinzeßchen, die nun das Lager des Werwolfes in einer Ecke entdeckte. Die Bestie schlief, röchelnd zog der Atem durch seine verwundete Brust.
Leise, vorsichtig schwebte Frigga auf den Zehenspitzen nach dem Wolfslager zu. Wohl klopfte ihr das Herz, wohl rieselte ihr es eisig kalt durch die Glieder, der Anblick des schlafenden Ungeheuers war auch grauenhaft und furchterregend.
Besonders sein Gesicht, das menschliche Züge trug, erschreckte Frigga. Böse Träume mußten den Werwolf ängstigen; er grunzte und knurrte im Schlafe und wälzte sich ruhelos von einer Seite zur andern.
Bei einer hastigen Bewegung entdeckte Frigga den rotleuchtenden Zauberstein, welcher dem Unholde übernatürliche Kräfte verlieh. Der Stein funkelte in dämonischem Feuer und höllischer Glut.
Ihr Angst beherrschend, tastete Prinzeßchen nach dem Geschmeide, und erbleichend bemerkte sie, daß die Glieder einer schweren, goldenen Kette das Kleinod umschlossen. Enttäuscht zog Frigga ihre Hand zurück. Wie und wo sollte sie die bis zum Erdboden hinabschleifende Kette zerbrechen?
Hier war guter Rat teuer? Was tun?
Ehe die Mitternachtsstunde schlug, mußte Frigga im Besitze des Zaubersteines sein, sonst verfiel Heiny wieder auf sechs Tage dem Zauberbanne des Werwolfes.
Prinzeßchen kämpfte mit den hervorbrechenden Tränen. Sie war sich ihrer Schwäche bewußt, und die Silberglöckchen durfte sie hier nicht zu Hilfe nehmen, ihr heller Klang hätte den Unhold aufgeweckt.
In Schmerz vergehend, kniete Frigga neben dem Lager des Wolfes nieder; dabei rollte das von der Turmalten erhaltene Holzbüchschen zu Boden. Frigga öffnete es, da fielen ihr die Rattenhaare in die Hand.
Kaum berührten ihre Fingerspitzen die borstigen, grauen Rattenhaare, als es vernehmlich neben ihr raschelte und, Frigga hätte beinahe vor Schreck laut aufgeschrien, zwei riesenhafte Ratten hervorschlüpften.
Mit ihren feinen, spitzen Zähnen nagten sie an der goldenen Kette, und im Augenblick war eines der festen Goldglieder zerstört.
Behutsam löste nun Frigga den Zauberstein von der Kette. Der Werwolf schien, trotz des Schlafes, ihre Nähe zu fühlen, denn er bewegte sich.
Frigga erschrak, doch blieb ihr noch so viel Geistesgegenwart, den Zauberstein aufzunehmen, und eingedenk der Warnung der Turmalten, floh sie dem Eingange der Höhle zu.
Aus dem Hintergrunde der Höhle ertönte ein furchtbares Getöse und Gepolter, als ob Riesen mit Felsen Fangball spielten, dazwischen gellte die vor Wut heisere Stimme des Werwolfes; auch zahllose hohe und tiefe Stimmen mischten sich in den Höllenlärm.
Ohne sich umzuschauen erreichte Frigga den Eingang zur Höhle. Als sie sich durch den engen Spalt der Höhlenöffnung zu drängen versuchte, erweiterte sich plötzlich der Eingang, die hohen steilen Felsen traten zurück.
Wie erlöst atmete Frigga auf, als sie wieder heil und gesund unter den hohen Waldbäumen stand. Ihre Angst löste sich in einem leisen Aufschluchzen. Weinend bedeckte sie die Augen mit den Händen. Plötzlich dröhnte die Erde unter ihren Füßen, unterirdisches Donnern folgte. Frigga blickte auf – sie stand wie geblendet.
Die Wolfshöhle war verschwunden, an derselben Stelle stand ein stolzes Fürstenschloß.
Frigga staunte, wachte sie oder träumte sie?
Das Schloßtor stand weit offen. Reichgeschmückte Herren und Damen traten, von hellem, glänzendem Fackellicht angestrahlt, aus dem Schlosse. Ein idealschöner Jüngling löste sich aus der bunten Menge. Hoheitsvoll winkt er mit der Hand, die Herren und Damen zogen sich zurück.
»Frigga!«
»Heiny! Heiny!« schrie Prinzeßchen vor Entzücken auf.
»Ich danke dir, Frigga, durch deine mutige Tat hast du mich und mein Volk aus der Hand eines mächtigen Zauberers erlöst! Der Unhold ist tot, er konnte den Verlust seines Zaubersteines nicht überleben. Ich bin frei, frei,« stammelte Prinz Heinrich, seiner Retterin die Hand darreichend. »Und jetzt folge mir, ich führe dich heim in das Schloß deines Vaters, dessen höchster Wunsch heute durch dich erfüllt worden ist. Statt einer Tochter besitzt er nun zwei Kinder.«
Vorsorglich geleitete Heiny seine Gefährtin durch den stillen Wald nach dem Marmorpalaste König Brunolfs, und wieder, wie vorher, gaben die Tiere des Waldes, die Vögel in den Zweigen, die Käfer, Schmetterlinge und Libellen Frigga das Geleite; doch jetzt bemerkte sie die treuen Tiere nicht.
Hand in Hand und Auge in Auge schritten die beiden Glücklichen durch den leise rauschenden Wald.