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(Primula elatior).
Ein lustiger Südwind verscheuchte das dicke, bleigraue Gewölk, welches monatelang das azurblaue Himmelsgewölbe verhüllt hatte. Frau Sonne lächelte und sandte glänzendleuchtende, erwärmende Strahlen zur eisgepanzerten Erde herab. Hei, wie schmolz da das Eis! Der Schnee verschwand, und König Winter packte seinen Mantelsack, um hinauf nach dem Nordpol zu wandern. Dem alten Winter ward es unbehaglich warm in seinen Pelzkleidern, und die Eiszäpfchen am Rande seiner Pelzmütze fingen an zu tauen. Einzelne hellglänzende Tropfen rieselten zur Erde herab, dort steckten die ersten vorwitzigen Grashalme ihre grünen Köpfchen hervor. Als dann König Winter wirklich Reißaus genommen und mit ihm der kalte Nordwind, die Schneeflocken und Eissternchen, da blühte und sproßte es an allen Orten. An den Weiden, nahe dem Flusse, guckten die grauen Weidenkätzchen hervor, am Schlehdorn wagten sich die ersten hellgrünen Blättchen aus ihrer dicken, braunen Schutzhülle heraus. In den Lüften sang und flüsterte es, erst leise, dann lauter, immer lauter, und endlich erschallte der frohe Ruf: »Der Frühling kommt! Der Frühling kehrt wieder ein!« Am Waldesrande erschienen die ersten Schneeglöckchen, und als der lustige Südwind sie umschmeichelte, da erklangen die kleinen Glocken, erst ganz leise und zaghaft, dann aber zog der süße Schall durch Busch und Hain, über Feld und Wald, und alle, die ihn vernahmen, die lächelten und sagten: »Der Lenz ist gekommen, Schneeglöckchen läuteten den Frühling ein!« Als die Waldblümelein das Geläut vernahmen, da lüfteten sie ihre Winterhüllen und krochen hervor an das holde Sonnenlicht. Da kamen die Blauveilchen, die hellen Anemonen, die zierlichen Leberblümchen und die goldgelben Schlüsselblumen. Ach, war das eine Pracht! Aber nicht lange währte es nun, dann füllten sich die Waldungen mit lachenden, fröhlichen Menschen. Knaben und Mädchen zogen hinaus in das junge Grün, um später, große Büsche Frühlingsblüten in der Hand tragend, wieder der Stadt und ihrem Heim zuzuwandern.
Auch die kleine Hede war hinaus in den Wald gezogen, auch sie brachte ein Körbchen voll Frühlingsblumen mit nach Hause. Aber Hede sammelte die bunten Blümchen nicht zu ihrem Vergnügen, nein, Hede war arm, eine Waise. Ihre lieben Eltern waren schon frühzeitig gestorben, da war es als ein großes Glück für das arme Mägdelein anzusehen, daß Großmutter noch lebte und die verlassene Enkelin zu sich nahm. Großmutter war auch arm, sie bewohnte ein enges Stübchen in einem Hinterhause. Nur selten fand ein neugieriger Sonnenstrahl den Weg durch das einzige schmale Stubenfenster. Eine große Esse auf dem Vorderhause machte sich so breit, daß die feinen Sonnenstrahlen nur höchst selten, fast nur im Hochsommer, einen Weg in den engen Hof fanden.
»Schau', Großmutter, schau', was ich hier bringe!« frohlockte die Kleine, ihre reiche Ernte vor der Großmutter auf dem Tisch ausbreitend. »Schau' nur die Menge Schlüsselblumen, sind sie nicht herrlich, so goldgelb und zierlich! Woher mag die hübsche Blume ihren Namen erhalten haben?« fragte sie nachdenklich, während ihre kleinen Hände zierliche Sträußchen wanden.
»Das will ich dir erzählen, Hede,« erwiderte Großmutter, indem sie bedächtig eine Prise aus ihrer Hornschnupftabakdose nahm; dann ließ sie ihr Strickzeug in den Schoß sinken, und ihre nimmer müden Hände ruhten einen Augenblick, ehe sie begann:
»Ach – Großmutter, wenn du anfängst, ›es war einmal‹, so ist es wohl keine richtige Geschichte, die du mir erzählen willst?«
»Aber nein, Hede, meine Geschichte muß wahr sein, meine Großmutter selig hat sie mir selbst erzählt, und Großmutter war eine kluge Frau, vor der alt und jung in der Stadt gewaltigen Respekt hatten. Also höre: Es war einmal, nun sind es viele, viele Jahre her, da stand, wo jetzt unsere Stadt mit ihren Häusern, Straßen und Plätzen sich breit macht, ein dichter Wald, und in dem Walde, durch den ein lustig plätschernder Fluß sich ergoß, war ein hoher, steiler Berg. Jetzt ist weder vom Berge noch von dem großen Fluß etwas mehr zu sehen; nur noch Ueberreste jenes Waldes – du warst heute nachmittag selbst dort – sind als Wahrzeichen für meine Geschichte geblieben, und noch etwas ist geblieben, das sind jene dottergelben Schlüsselblumen, die im Walde noch heute in üppigster Fülle blühen. Damals geschah es eines Tages, daß ein Kuhhirt, der täglich seine zahlreiche Herde auf eine große Wiese inmitten des Waldes trieb, sich eine solche gelbe Blume pflückte, und da es ein selten schönes Exemplar war, so verzierte er damit sein graues Hütchen. Nachdenklich trieb der Hirt seine Herde vor sich her, bis er den gewohnten Weideplatz erreicht hatte. Auf drei Seiten umschloß dichter Wald diesen Platz, auf der vierten aber erhob sich jener schon erwähnte steile Berg, dessen spitzauslaufender Gipfel aus einem Kranze grüner Tannen hervorragte.
Der junge Hirt legte sich ins Gras, im Schatten einer dichtbelaubten Eiche, nieder, so daß er den steilen Berg im Auge behielt. Dieses Ruheplätzchen hatte er jahrelang benutzt.
Die Sonne schien sehr warm, trotzdem es am Tage vor dem Osterfeste war. Udo, so hieß der Hirt, ward schläfrig, und dazu fühlte er, wie ihn sein Hut von Minute zu Minute schwerer drückte. Mißmutig rückte er den alten Filz hin und her; es war keine Täuschung, der sonst so leichte Hut ward auf einmal zur gewichtigen Last.
»Will doch sehen, was mit dem Filz geschehen,« dachte der Hirt – und gedacht, getan. Er nahm den Hut ab – aber – aber, wie staunte er, als er anstatt der gelben Blume einen goldenen Schlüssel an seinem Hute stecken sah.
»Hallo, dies kann nicht mit rechten Dingen zugehen!« dachte Udo, bekreuzte sich und schlug ein Kreuz über den Schlüssel. Seltsam! Es war kein Teufelsspuk – er verschwand nicht, sondern glänzte Udo verheißungsvoll entgegen. Dieser beschaute sich den Schlüssel von allen Seiten. »Hm, eine seltsam altmodische Gestalt hat das goldene Ding. – Ob man damit wirklich eine Tür aufschließen kann? Halt, hier ist ein häßlicher, dunkler Flecken! Na warte, bald sollst du in spiegelblanker Schöne aufleuchten!« Udo rieb das Schlüsselrohr. Da – ein neues Wunder geschah. Plötzlich – der Hirt wußte nicht, woher sie gekommen – stand eine schöne Jungfrau in glänzend silberweißem Gewande vor dem erstaunten Hirtenknaben.
»Was willst du von mir? Du hast mich gerufen,« flüsterte die Hehre lieblich und mild.
»Ich – das hätte ich nimmer gewagt – ich bin nur ein armer Hirt!«
»Ja – aber dennoch erscheine ich auf deinen Ruf. Sag', was wünschest du?«
»Na, wenn ich mir was wünschen darf, so, bitte, erzähle mir, welche Bewandtnis hat es mit diesem goldenen Schlüssel? Kannst du mir Aufschluß geben?«
»Natürlich – nichts ist leichter! Dieser Schlüssel öffnet eine Tür, und die findest du dort oben auf dem Gipfel des Berges.«
»Eine Tür – hm, Euer Wort in Ehren; doch eine Tür sah ich noch niemals auf dem Berge. – Wohin sollte sie auch führen?«
»Das wirst du sehen. Geh' nur und steige den Berg hinauf.«
»Und meine Kühe, meine Ziegen? Ich darf sie nicht ohne Aufsicht lassen,« wandte Udo ein, dessen Wunsch, den Berg zu besteigen, erwachte.
»Lasse sie ruhig zurück – ihnen geschieht kein Leid. Aber jetzt folge mir, es ist hohe Zeit. Schon steht die Sonne fast im Zenit; sobald der Sonnenball seine Höhe erreicht hat, mußt du auf dem Gipfel stehen.«
»Ja, aber –«
»Ich weiß, was du sagen willst. Höre mich an! Vor vielen hundert Jahren stand ein Fürstenschloß auf dem Gipfel dieses Berges. Alles Land, soweit das Auge blickte, war Eigentum jenes Fürsten. Damals reichten wohlbestellte Felder und Gärten bis an den Fuß des Berges. Es war eine Freude, das Blühen und Gedeihen dieses fruchtbaren Landstrichs zu beobachten. Aber dieses Gedeihen, das den Wohlstand des Fürsten mehrte, ward sein Unglück. Sein Herz verhärtete sich, und je mehr Schätze und Kostbarkeiten er in seinem Schlosse aufhäufte, desto härter ward sein Sinn, so daß er zuletzt an Stelle des Herzens nur einen Klumpen Gold besaß.
Eines Tages, als er, den Gewinn seiner Felder berechnend, spazieren ging, begegnete ihm ein Bettelweib. Mit bewegten Worten stellte sie ihm ihr Elend vor, doch barsch fuhr er sie an: »Ich bin nicht gesonnen, mein wohlerworbenes Gut für arbeitsscheues Volk wegzuwerfen. So wahr mein stolzes Schloß von dort oben weit über alles Land schaut, so wahr sollst du nicht einen Heller Almosen erlangen!«
Kaum hatte der Geizhals diese prahlerischen Worte gesprochen, als das in Lumpen gehüllte Weib ihr elendes Gewand abstreifte. Hold und hehr stand die Himmelsmutter vor dem Fürsten; aber ihr liebes Antlitz ward durch einen Schmerzenszug entstellt.
»Ich hoffte dein Mitleid zu erregen. Hättest du mir das geringste Scherflein geschenkt, dann hätte das Schicksal dich nicht ereilt, so aber –« Ein plötzlicher Donnerschlag unterbrach die Worte der heiligen Jungfrau. Im Nu hatte sich der Himmel mit ganz schwarzen, drohenden Wolken bedeckt, aus denen schwefelgelbe Blitze herabzuckten. Ein Blitz züngelte nach der Zinne des Schloßturmes – ein Krach – ein Knall. – Die Mauern stürzten, wie von Riesenfäusten geschüttelt, in sich zusammen. Ein zweiter Blitzstrahl folgte. Da klaffte die Erde auseinander, und der geizige, hartherzige Fürst versank in eine bodenlose Tiefe. An Stelle der üppig prangenden Kornfelder entstand eine Wüstenei. Hier wucherten Moos, und hohe Farnkräuter bedeckten das Erdreich. Eichen, Buchen, Birken schossen hervor, der Wald dehnte und reckte sich nach allen Seiten – der Fluß versiechte und versandete, nur ein schmaler Arm blieb davon übrig.«
»Nun, und der goldene Schlüssel?« fragte Udo.
»Höre weiter! An derselben Stelle, wo die himmlische Jungfrau gestanden, dort sproßten goldgelbe Blumen hervor – zwischen ihnen erblüht alle hundert Jahre eine Wunderblüte. Nur wer reinen Herzens ist, dessen Sinne frei sind von Geiz und Habsucht, der findet unter der großen Menge die richtige Blume heraus. Du hast sie gefunden. Nun steige den Berg hinauf! Ich darf dich nicht begleiten. Das Tor, zu dem der Schlüssel paßt, wirst du leicht finden. Doch höre meine Warnung: Nimm, was sich dir darbietet – nur vergiß das Beste nicht! Höre und beherzige meine Worte! Und nun geh', es ist hohe Zeit!«
Udo schritt, wie von einem Traum umfangen, den steilen Berg empor. Würde er alles finden, wie die holde Erscheinung ihm erzählt? Sie hatte von Gold und Kostbarkeiten gesprochen. Frohen Mutes kletterte der junge Hirte weiter empor. Seltsam, heute sah es auf dem Gipfel so ganz anders aus. Steintrümmer und Mauerbrocken lagen wirr durcheinander; man konnte die Ueberreste der verbrannten Burg ganz leicht erkennen, und dort – geradeaus, dort in der Mauer war eine Tür erkenntlich.
Zitternd steckte Udo den goldenen Schlüssel ins Schloß. – Er paßte, ließ sich leicht drehen, und nun flog knarrend die Pforte auf.
Hei, wie es blitzte und glänzte! – Udo konnte sich nicht satt sehen. Da standen auf langen Tischen goldene Gefäße, in Fässern lag gemünztes Gold, in zierlichen Körbchen ruhten Edelsteine, die in allen Farben spielten. Der junge Hirte war verblüfft und verwirrt. Endlich gedachte er der Worte der Erscheinung: »Nimm, was sich dir bietet, nur vergiß das Beste nicht!« Rasch legte er den goldenen Schlüssel zur Seite und raffte seine Taschen voll Edelsteine: seinen Hut füllte er mit Goldmünzen, und in die Arme packte er so viele goldene Gefäße, als er erfassen konnte.
»Jetzt bringe ich nichts mehr mit fort. – Ob ich das Beste habe?« fragte er sich, noch einmal Umschau haltend. »Etwas Besseres als Edelsteine gibt es auf der ganzen Welt nicht,« setzte er entschlossen hinzu. »Aber jetzt will ich gehen, die Sonne sinkt – da muß ich zu meiner Herde zurück!«
Mit einem Satz, zuletzt noch eine Stange Gold erraffend, eilte Udo ins Freie, und krachend fiel die Tür hinter ihm ins Schloß. Eine Stimme aber rief ihm nach: »Tor, das Beste hast du vergessen!«
Der junge Hirte achtete nicht auf die Worte. – Er hastete heim, um seinen Angehörigen sein Glück zu verkünden und ihnen die Kostbarkeiten zu zeigen.
Udo war ein reicher Mann geworden. Er erwarb einen Teil des Waldes, rodete ihn aus und gründete diese Stadt. Unser Stadtwappen zeigt noch heute einen goldenen Schlüssel in rotem Felde. Den wirklichen goldenen Schlüssel hatte Udo leider in der Schatzkammer liegen lassen, sonst wäre er nach und nach Herr und Besitzer aller dort aufgehäuften Schätze geworden. Er hatte das Beste vergessen.« Großmutter schwieg; Hede betrachtete die goldgelben Blümchen. »Wirklich, Großmutter, sie gleichen einem Schlüssel. Schade, hätte ich die Wunderblume heute gefunden, dann hätte ich dir ein Häuschen mit einem Gärtchen gekauft, darin du alle Tage im Sonnenschein spazieren gehen könntest und nicht mehr den lieben langen Tag arbeiten müßtest!« Großmutter lächelte – dann strich sie liebkosend über das volle Haar ihrer Enkelin und sagte: »Wir wollen schon zufrieden sein, wenn ich morgen früh deine Blumen zu gutem Preise verkaufen kann.«
Hede nickte, sie besaß ein zufriedenes Gemüt und hatte sich die Schätze nur gewünscht, um der Großmutter eine Freude zu bereiten.
Vielleicht finden meine kleinen Leser die Wunderblume bei einem Spaziergang am Ostersonnabend. Dann sollen sie nur nicht vergessen, »das Beste«, die Blume selbst, mit aus dem Schatzkeller herauszubringen, und dazu wünsche ich ihnen allen das beste Glück.