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Damit der Leser nicht bis zum letzten Abschnitt des vierten Bandes zu warten brauche, um das letzte Ziel dieses Werkes kennen zu lernen, will ich gleich an dieser Stelle ein Glaubensbekenntnis ablegen; ich möchte diejenigen, die mir vertrauen, auf die helle und kalte Höhe führen, von welcher aus betrachtet alle Dogmen als geschichtlich gewordene und geschichtlich vergängliche Menschensatzungen erscheinen, die Dogmen aller positiven Religionen ebenso wie die Dogmen der materialistischen Wissenschaft, auf die Höhe, von welcher aus übersehen Glaube und Aberglaube gleichwertige Begriffe sind. Was ich zwischen den Zeilen des niederreißenden Buches aufbauend zu bieten suche, mein Kredo also, ist eine gottlose Mystik, die vielleicht für die Länge des Zweifelsweges entschädigen wird.
Die Überschrift verspricht ein Buch über den Atheismus und seine Geschichte im Abendlande. Ich meine, hier etwas mehr, dort etwas weniger gegeben zu haben. Die Darstellung des Atheismus selbst mußte unvollständig ausfallen, weil ich nur die Befreiung vom Gottesbegriff behandelt habe, die Vorgeschichte Gottes jedoch, die siegreiche Entwicklung des Gottesbegriffs, einem nach mir kommenden Arbeiter überlassen wollte. Die Geschichte der Befreiung vom Gottesbegriff wäre aber kläglich lückenhaft, wenn ich mich auf die Reihe der dogmatischen Gottesleugner beschränkt hätte. Äußere und innere Gründe hinderten im sogenannten Mittelalter und noch lange nachher auch freie Geister, deutlich und entschieden ihre Absage an die Kirche auszusprechen; die äußeren Gründe sind in den Gefahren zu suchen, die jedem Gottesleugner drohten; der innere Grund bestand in der Abhängigkeit jedes Denkers von der Sprache der Zeit, von der gemeinsamen christlichen Sprache, worunter aber auch die gemeinsame Sitte und Wissenschaft zu verstehen ist. Es gehörte zu meinen schwierigsten Aufgaben, in jedem einzelnen Fall eine Entscheidung darüber zu wagen, ob die Halbheit der Freidenkerei mehr auf bewußte Vorsicht oder auf unbewußte Fesselung, durch den Zeitgeist, zurückzuführen sei. Sollte also die Geschichte des geistigen Befreiungskrieges nicht sehr bedeutende Persönlichkeiten und Strömungen übergehen, so mußte die Geschichte der Aufklärung in den Kreis der Betrachtung einbezogen werden, mußten neben den rein negierenden Atheisten auch die Lehrer der Vernunft- oder Naturreligion, die Deisten und die Pantheisten, endlich sogar einige Reformatoren und andere Ketzer dargestellt werden. Eine Kulturgeschichte des Abendlandes vom Standpunkt der religiösen Befreiung – nicht: einer Befreiung von der Religion – war zu schreiben. Anstatt »Abendland« hätte ich auch »Christenheit« sagen können, d. i. die Gesamtheit der westlichen Völker Europas, insofern sie nach Denk- und Lebensweise ein Ganzes ausmachen. Zu dieser Christenheit gehören wir alle, ohne Rücksicht auf die Zugehörigkeit zu einer Kirche. Durch Sitte und Sprache. Der Gegenstand des Kampfes, der Gottesbegriff, ist mir niemals der theologische Gott einer christlichen Konfession, sondern überall der ethnographische Gott der gemeinsamen »Christenheit«.
Diesen ungeheuern geschichtlichen Stoff aus eigener Forschung zu bewältigen, geht doch wohl über die Kraft eines einzelnen Menschen, auch wenn er gelehrter, fleißiger und jünger wäre als ich. Bei vielen Führern und Anregern im Unglauben und im Zweifel durfte ich mich also damit begnügen, fremden Untersuchungen zu vertrauen und so wieder ein wenig zu glauben. Mir lag nur das Ziehen der großen Linien ob; und bei den nachwirksamsten Gestalten und Gedanken sorgte schon meine Wahrheitsleidenschaft dafür, daß ich bis auf die Quellenschriften zurückging und mich auf keine Vorarbeit verließ.
Für die Zeit bis um die Mitte des 19. Jahrhunderts war ich bemüht, die Menschen und die Ideen der religiösen Befreiung mit möglichster Vollständigkeit zu schildern, wenn »Vollständigkeit« in einem Geschichtswerk nicht ein vermessener Ausdruck ist. Für die letzten beiden Menschenalter wäre der bloße Versuch, Vollständigkeit anzustreben, eine Torheit gewesen. Die Literatur der Gegenwart ist überhaupt gottlos. Die Geisteswissenschaften möchten zwar eine Verbindung mit der Theologie heuchlerisch wieder anknüpfen, aber die Naturwissenschaften stehen längst außerhalb der Kirche und die Dichtung gar ist allgemein atheistisch, auch da, wo sie die toten Symbole des Theismus wiederzubeleben sucht. Ich mußte mich für die letzten siebzig Jahre auf Stichproben beschränken, wenn ich überhaupt ein Ende finden wollte.
Um Entschuldigung zu bitten habe ich natürlich für die Unbescheidenheit, mit der ich ein Geschichtswerk zu verfassen unternahm, der ich kein gelernter Historiker bin. Aber ich habe ja auch die »Kritik der Sprache« verfaßt und war kein gelernter Philosoph und kein gelernter Philolog.
Meersburg, im März 1920
Fritz Mauthner