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IX

 

Sokrates

In welcher Weise der Vorwurf des Atheismus bei den Alten sich von dem gleichen Vorwurfe bei den Christen unterschied, würden wir genau wissen, wenn wir uns von dem berühmtesten Atheismusprozesse aller Zeiten ein deutliches Bild machen könnten, von der Gerichtsverhandlung, in welcher Sokrates zum Tode verurteilt wurde. Aber umsonst arbeiten wir uns durch die ganze Bibliothek hindurch, die seitdem über diesen Fall zusammengeschrieben worden ist; nicht nur die geheimen Beweggründe der Ankläger und der Richter entgehen uns, auch die einzelnen Anklagepunkte verstehen wir nicht recht und vollends die entscheidende Verteidigung des Sokrates ist uns nicht in glaubhafter Weise erhalten. Das scheint um so merkwürdiger, als die Quellen über den Charakter und die Persönlichkeit, über die Lehre und über den Prozeß des Sokrates reichlich fließen: Aristophanes, der genialste Komödienschreiber der Zeit, hat die Gestalt des Aufklärers auf die Bühne gebracht, in einer Karikatur meinetwegen, in einer Posse, aber doch so, daß die Zeitgenossen das Urbild wiedererkannten und lachen konnten; Platon, ein Schüler des Sokrates und einer der beiden nachwirksamsten Philosophen des Altertums, hat seinen Meister in zahlreichen Totengesprächen auftreten lassen und in einer besonderen Schrift, an deren Echtheit nicht gezweifelt wird, den Prozeß ausführlich dargestellt; endlich hat Xenophon, ein Schriftsteller von Rang, Erinnerungen an Sokrates niedergeschrieben. Und alle diese Bücher sind uns erhalten. Die Widersprüche in der Auffassung dieser drei Männer würden uns nicht hindern, uns eine richtige Vorstellung von Sokrates zu machen; man weiß jetzt, daß Xenophon für die Bedeutung seines Helden kein Organ hatte und daß nur darum Sokrates in den Erinnerungen des Xenophon so ledern und so langweilig herauskommt, wie er im Leben unmöglich gewesen sein kann, daß Platon, der Dichterphilosoph, den alten Sokrates seine eigenen Lieblingsgedanken vortragen läßt, daß Aristophanes den Sokrates – mit Recht oder Unrecht – zum Vertreter der Sophisten macht, die er an den Pranger stellen will. Was unser Bild von Sokrates so schattenhaft bleiben läßt, das ist die Unfähigkeit der Griechen, geschichtliche Kritik zu üben. Es machte einem Manne wie Platon gar nichts aus, der Welt eine angebliche Verteidigungsrede des Sokrates zu bieten, die vielleicht eine freie Umarbeitung der wirklichen war, vielleicht eine ganz freie Erfindung. Die Griechen hatten von dem, was wir unter der Pflicht einer wissenschaftlichen Prüfung verstehen, überhaupt keine Vorstellung; und es hängt mit dem Zwecke dieser Einleitung aufs engste zusammen, daß sie in ihrer Geschichtschreibung keck erfundene Reden und Anekdoten ebenso gläubig hinnahmen wie in ihrer Religion die Einfälle ihrer Dichter, durch welche Lücken in der Mythologie oder Göttergenealogie keck ausgefüllt wurden. Thucydides gilt aus guten Gründen für den klassischen Geschichtschreiber der Griechen; er hat aber ganz unbefangen eingestanden, eigentlich nicht einmal als einen Fehler bekannt, daß er die Reden der Staatsmänner und Feldherren selbst verfaßte, die er ihnen in den Mund legte. Und noch eins: für uns ist Sokrates der Mann, der stärker als irgendein anderer auf die Umgestaltung des griechischen Geistes zur Zeit des Peloponnesischen Krieges gewirkt hat; in dem Geschichtswerke des Thucydides jedoch würde man seinen Namen vergebens suchen.

 

Sophisten

Trotz alledem wird es möglich sein, aus den alten Berichten zu erfahren, daß in dem Prozesse des Sokrates von all den Dingen keine Rede war, die den Opfern christlicher Atheistenverfolgung den Hals brachen: nicht von einem Dogma, nicht von einem Katechismus, nicht einmal von einem Widerstreite zwischen Staat und Kirche. ›Wohl waren die Anschuldigungen gegen Sokrates religiöser Natur, aber nur so, wie Religion damals eben mit dem bürgerlichen Leben verbunden war; er wurde verurteilt, weil er für einen Neuerer, für einen Aufklärer, für einen Störenfried galt und weil das souveräne Volk von Athen sich just auf die konservative Seite gelegt hatte, wohlgemerkt auf die demokratisch konservative Seite, während der Aufklärer Sokrates ein Aristokrat war, im besten Sinne des Wortes. Er beleidigte das souveräne Volk von Athen durch die unaufhörliche Mahnung, daß nur der Tüchtige herrschen oder dreinreden sollte. Und in einer besonderen Frage sah das souveräne Volk von Athen wahrscheinlich richtiger, als nachher durch mehr als zwei Jahrtausende die Gelehrten, die die Bezeichnung »Sophist« als Schimpfwort gebrauchten und den legendären Sokrates den argen Sophisten als einen Todfeind gegenüberstellen; das Volk sprach der Posse des Aristophanes nach, die Gelehrten der parteiischen Darstellung des Platon, der für die geistige Kraft eines Protagoras kein Verständnis besaß. Erst Hegel, dessen geschichtlicher Sinn noch stärker war als seine Neigung zu Begriffskonstruktionen, hat die Geschichte der Philosophie von dieser Fälschung befreit und hat gezeigt, daß Sokrates durch den Subjektivismus seiner Lehre ganz und gar zu den Sophisten gehört; seit Hegel ist dann die Forschung gegen die Sophisten gerechter worden. Neuerdings ist Nietzsche wohl gar im Lobe der Sophisten zu weit gegangen; die Sophisten bildeten ja keine Schule, sondern nur so ungefähr eine Berufsklasse; man durfte sie nicht in Bausch und Bogen verdammen, man darf sie nicht in Bausch und Bogen verherrlichen.

Unabhängig von Hegel hat Georg Grote, dessen ausgezeichnete »Geschichte Griechenlands« leider in ein kaum lesbares Deutsch übersetzt worden ist, die Legende zerstört: eine besondere Zunft der Sophisten habe die Sittlichkeit der Griechen heruntergebracht und Sokrates sei dieser Frivolität der Sophisten entgegengetreten; Grote hat gezeigt, daß Sokrates selbst zu den Leuten gehörte, die man ohne böse Absicht Sophisten nannte, daß nicht Sokrates, sondern Platon der Gegner der Sophisten war, daß selbst Platon nicht alle Sophisten für schlechte Menschen erklärt. Das Wort »Sophist« hat durch Platon einen Bedeutungswandel erfahren und ist seitdem in der verschlimmerten Bedeutung zu einem Begriffe der gelehrten Gemeinsprache geworden; überall versteht man so unter Sophist einen Mann, der ohne Überzeugung und mit vieler Redebegabung aus Eitelkeit oder Geldgier die ungerechte Sache verficht. So ungefähr lautete bereits die Definition Ciceros. Zur Zeit des Sokrates aber waren Sophisten alle diejenigen Männer, die sich ihren Mitbürgern geistig überlegen fühlten und denen man keinen schwereren Vorwurf machen durfte, als daß sie ihren Lebensunterhalt auf diese geistige Überlegenheit gründeten, besonders als Lehrer; Sokrates scheint sich von den anderen Sophisten nur durch die Schrulle unterschieden zu haben, daß er gewissermaßen auf dem Markte unterrichtete und sich auch von den reichen Privatschülern, wenn er anders solche hatte, nicht bezahlen ließ. Gemeinsam war ihm und den anderen Sophisten etwas, was man oft mit der Aufklärung verglichen hat, was aber in Wahrheit teils mehr, teils weniger war als die sogenannte Aufklärung; die echten Sophisten hatten zu einer Zeit, wo es noch keine Lehrbücher für Logik und Grammatik gab und keine alphabetisch geordneten Nachschlagebücher, das hohe Amt inne, für den Streit der Parteien (in der Politik, in der Schule und vor Gericht) die Begriffe zu klären. Sie machten sich um Logik und Grammatik lange vor Aristoteles sehr verdient, und viele von ihnen hatten von dem Ansehen, das sie genossen, ein gutes Auskommen. Es gibt heute keinen besonderen Stand, der dem Stande der alten Sophisten entspräche; man denkt etwa an Professoren, Abgeordnete, Zeitungsschreiber und Rechtsanwälte, und mag meinetwegen auch bei den Sophisten im üblen Sinne an diese Berufsklassen denken. Die Sophisten waren im 6. Jahrhundert vor Christus übrigens Mode wie zweitausend Jahre später Astrologen oder Alchimisten.

Ähnlich waren sie einander darin, daß sie Vertreter des neuen, zweifelsüchtigen, neugierigen und neuerungsgierigen Zeitgeistes waren; aber doch nur so, wie etwa zur Zeit der Enzyklopädie in den Bureaux d'esprit von Paris nicht nur die Enzyklopädisten selbst, sondern auch viele Gegner einen neuen, frivolen Ton anschlugen. Unter diesen Sophisten des fünften griechischen Jahrhunderts war Protagoras gewiß der kühnste und schärfste Denker, Sokrates ebenso gewiß der leidenschaftlichste Frager und der sittlichste Charakter, d. h. der Mann, in welchem die sogenannten sittlichen Ideale am lebendigsten waren. Auch Protagoras wurde gelegentlich verfolgt; aber Sokrates war unter den Sophisten der unbequemste, der lästigste, der berühmteste oder verrufenste, und so kam es, daß er, während die Aufklärung in Kunst und Leben überall siegte, von einer Welle der Gegenaufklärung in den Tod gerissen wurde. Wie Vanini von einer Welle der Gegenreformation, während die neue Philosophie und die Naturreligion in Frankreich und in England sich schon vorbereiteten. Es war nur eine Welle der Gegensophistik, obgleich alle Berichte über die Reue des Volkes und über das schreckliche Ende der Ankläger (sie sollen zum Selbstmorde geführt worden sein wie Judas) zu dem anekdotenhaften Klatsch der Philosophiegeschichte gehören; ein Geschlecht, das den viel skeptischeren und gottloseren Euripides maßlos bewunderte, konnte dem viel weniger »sophistischen« Sokrates nicht auf die Dauer feindlich sein.

Aber es kommt mir hier weder darauf an, ob die Athener die Hinrichtung des Sokrates nachher bereuten oder nicht, noch darauf (was die müßigen Köpfe immer noch beschäftigt), ob nach der ganzen Sachlage, nach den Gesetzen Athens und dem Verhalten des Angeklagten, dem Weisesten des weisesten Volkes Unrecht geschehen sei oder nicht.

Es kommt mir hier nur darauf an, an dem Falle Sokrates zu zeigen, daß eine Anklage auf Gottlosigkeit in der antiken Welt etwas ganz anderes bedeutete als in der christlichen Welt, daß griechischer Atheismus nicht unser Atheismus war, daß ich also ein Recht habe, die (oder meine) Geschichte des Atheismus erst mit der christlichen Zeit beginnen zu lassen. Ich werde mich an die Verteidigungsrede des Sokrates halten, die Platon geschrieben hat, obgleich ich – wie gesagt – sehr gut weiß, daß sie kein geschichtliches Dokument ist. Es scheint mir aber mehr als wahrscheinlich, daß Platon, der bei der Gerichtsverhandlung kaum zugegen war, nur den Wortlaut seines Meisters änderte, nicht aber den Gedankengang, daß er für die wichtigsten Umstände doch als eine Quelle zu betrachten ist; und wäre dem auch nicht so, so dürfte ich Platon dennoch für meinen Zweck benützen. Selbst wenn man Platons Verteidigungsrede nicht höher einschätzen wollte als einen historischen Roman – und mehr war sie jedenfalls –, so bliebe doch die Tatsache bestehen, daß sie wenige Jahre nach dem Ereignisse gedichtet wurde und uns so darüber belehren könnte, wie es zu Anfang des 4. Jahrhunderts in Athen bei einer Anklage auf Gottlosigkeit zuging. Im Vergleiche nämlich zu den Ketzerprozessen des 14., 15., 16. und 17. Jahrhunderts.

 

Daimonion

Wir dürfen uns nicht dadurch täuschen lassen, daß die entsprechenden griechischen Wörter sich glatt in unsere Gemeinsprachen übersetzen lassen, daß wir das Wort Atheismus sogar unverändert herübergenommen haben. Man erinnere sich dessen, was ich oft hervorgehoben. Der Gottesbegriff der Griechen war noch nicht theologisch bearbeitet und die theologischen Definitionen waren den griechischen Kindern nicht durch jahrelangen Religionsunterricht eingebleut worden. Wer in der Blütezeit der christlichen Ketzerverfolgung der Gottlosigkeit beschuldigt war, der hatte gewöhnlich auf zwei Fragen zu antworten: ob er rechtgläubig sei, d. h. ob er die Glaubensartikel seiner Kirche, der römischen, reformierten usw. für bare Münze nehme; zweitens aber die noch peinlichere Frage, ob er wenigstens das Dasein Gottes nicht anzweifle, d. h. das Dasein des gemeinsamen theologischen Gottes der Christen, den man sich noch ohne Unsterblichkeit der Seele und ohne Willensfreiheit nicht vorstellen konnte. So ein Angeklagter wurde einer Prüfung unterworfen, die sich noch weit über die Theologie hinaus auf philosophische Überzeugungen erstreckte. Wer in irgendeinem Punkte anderer Meinung war als die Kirche des Gerichtsortes, der war ein Ketzer und wurde als ein solcher verurteilt, am liebsten gleich zum Scheiterhaufen; Gottlosigkeit war nur eine besonders schwere Form der Ketzerei. Von dieser ganzen scheinlogischen, theologischen Fragestellung war in dem Prozesse des Sokrates nicht die Rede; und konnte die Rede nicht sein, weil – man beachte beide Gründe nebeneinander – der antike Polytheismus die scheinphilosophische Theologie des Christentums nicht brauchte (und kaum vertrug) und weil in Athen Gedankenfreiheit herrschte, wo immer sich die Philosophie mit Naturerklärung abgab. Sokrates vollends, darin unbedingt ein Genosse der Sophisten, kümmerte sich gar nicht um Naturerklärung und solche Dinge; er hatte die Philosophie vom Himmel auf die Erde gebracht, d. h. er beschränkte seine Forschungen auf die Menschennatur, auf das Handeln der Menschen, auf ihre Besserung und Belehrung; die griechische Geistlichkeit aber, nur um das »Praktizieren« des Volkes besorgt, dachte gar nicht an die Sittlichkeit der Menschen, und so herrschte in dieser Hinsicht erst recht Gedankenfreiheit. Auch hören wir nirgends, daß die Geistlichkeit als solche mit dem Prozesse des Sokrates zu tun gehabt hätte. Alle diese Umstände müssen wir uns zusammenwirkend vorstellen, um es selbstverständlich zu finden, daß der Vorwurf, er glaube nicht an das Dasein Gottes, gegen Sokrates gar nicht erhoben wurde; er hatte sich weder vor Theologen noch vor Geistlichen zu verantworten und der Begriff »Gott«, der Begriff eines alleinigen Urhebers aller Dinge, war noch gar nicht ausgebildet, sollte erst von den Enkelschülern des gottlosen Sokrates langsam ausgebildet und nachher den christlichen Theologen dargeboten werden. Der Sokrates in Platons Verteidigungsrede spricht ganz unbefangen von einem Gotte, der ihn um seiner bewußten Unweisheit willen für den weisesten der Griechen erklärt und ihm dadurch den Lehrauftrag für Begriffskritik gegeben habe; er spricht ebenso unbefangen von einem anderen kleinen Gotte, seinem berühmt gewordenen Daimonion, der ihn bei dieser Aufgabe zu leiten pflege; man hat diesen Wortgebrauch so gedeutet, als ob Sokrates die Anschuldigung des Atheismus dadurch hätte entkräften wollen; ebensogut hätte man sich darauf berufen können, daß er mehrfach Versicherungen durch die Ausrufe »bei Gott« oder »beim Hunde« beschwört. In Wahrheit gebrauchte er nur, der sonst so haarspalterisch war, ohne jede theologische Haarspalterei, ohne an philosophische Kunstausdrücke zu denken, die Wörter der griechischen Gemeinsprache. Und just die Wörter »Dämon« und »Daimonion« (Gottchen) lassen sich nicht ohne weiteres in die christlichen Streitigkeiten um das Dasein Gottes übertragen; sie sind »unübersetzbar«, wie schon Prantl in seiner Ausgabe von Platons »Apologie« traurig bemerkt hat. Noch ist der Ausdruck »Dämon« nicht mit dem Zauberunfug des Mittelalters verknüpft, noch nicht mit dem Geniewesen des 18. Jahrhunderts, noch versteht Sokrates unter dem Dämonischen irgendeine unbekannte, übermenschliche, meinetwegen göttliche Kraft; Sokrates weiß oder glaubt, daß er von einer solchen geheimnisvollen Kraft besessen sei; aus dem Gebrauche des Worts einen Schluß zu ziehen auf das Dasein oder Nichtdasein des späteren Gottes wäre ungehörig. Sokrates konnte das Dasein des späteren Gottes nicht anzweifeln, weil er nichts von ihm wußte.

Eher ließe sich mit scheinbarem Rechte behaupten, daß die Anklage auf Ketzerei gelautet hätte, auf Ablehnung der Landesreligion; denn die Anklage ging wirklich ungefähr dahin, daß Sokrates zum sittlichen Schaden seiner Schüler an andere göttliche Wesen glaube, als an die des Landes oder der Stadt. Doch auch dieser Vorwurf hatte im Altertum einen ganz anderen Sinn als etwa im päpstlichen Rom oder im Gebiete irgendeines kleinen protestantischen Päpstleins; da die Landesreligion nicht in Glaubensartikeln festgelegt war, da überdies kein Seelenheil von der Unterwerfung unter irgendwelche Dogmen abhing, war es im Altertum gewissermaßen Modesache, ob fremde Götter aus Nachbarstädten und entfernten Ländern importiert werden durften oder nicht. Es ist bekannt, wie lebhaft der Götteraustausch in der alten Zeit der Griechen war und wie der Götterimport in der römischen Kaiserzeit überhandnahm. Ich glaube nicht zu übertreiben, wenn ich in der Anschuldigung, er habe neue Götter eingeführt, nicht viel mehr erblicken kann als den Vorwurf, er habe neue Waren oder neue Stoffe aus dem Auslande eingeführt; auch solche Kühnheiten wurden ja früher oder später gelegentlich schwer bestraft. Die Verteidigung, weniger seine eigene als die seiner Freunde, scheint sich auch darauf beschränkt zu haben, die Vernachlässigung der Landesgötter zu bestreiten, nicht ihre Leugnung. Man berief sich darauf, daß Sokrates »praktizierte«, um den bescheidenen Ausdruck der römischen Kirche noch einmal zu bemühen.

 

Atheismusschelte

Sokrates war also kein Atheist im Sinne unserer Zeit. Ich werde dennoch weiter zu fragen haben, in welchem Sinne er ein Atheist war, weil die Nachwirkung seiner Begriffskritik auch auf die moderne Aufklärung nicht zu leugnen ist; und ich werde aus dem gleichen Grunde noch kurz auf die politische und kulturgeschichtliche Seite seines Prozesses eingehen müssen.

Denn der alte Streit um das Recht oder Unrecht der Athener, im Falle der Hinrichtung des Sokrates, läuft auf die Frage hinaus, ob Sokrates nun doch irgendwie ein Atheist gewesen sei oder nicht. Ich will jetzt etwas tiefer schürfen und zu zeigen versuchen, was bisher nur angedeutet wurde, daß wir den griechischen Ausdruck für Gott usw. ebensowenig zu übersetzen berechtigt sind, wie den Ausdruck Daimonion. Platon und Xenophon brauchten noch nicht zu fälschen, wenn sie aus ihrem Meister einen durchaus guten Bürger, einen auch in religiöser Beziehung guten Bürger machten; mit echt griechischem Leichtsinn schenkte jeder von beiden dem Meister Züge des eigenen Wesens; Xenophon bildete ihn zu einem beinahe bigotten Philister um, Platon zu einem pantheistischen Begriffskritiker. (Und keine dieser Bezeichnungen will so recht stimmen, weil »bigott«, »Philister«, Pantheismus« ohne Gnade christliche Bestandteile mitenthalten.) Als aber neuere Geschichtschreiber die Legende verteidigten, Sokrates wäre ein frommer Mann gewesen, an ihm wäre ein Justizmord verübt worden, da fälschten sie, bewußt oder unbewußt; Zeller, da er die Sokratesbilder von Aristophanes, Xenophon und Platon in Übereinstimmung bringen wollte, wirklich als ob ein orthodoxes Bild von Sokrates – wie etwa von Jesus Christus gegenüber den einander widersprechenden Evangelien – zu retten wäre; Ernst Curtius, da er den Sokrates zugleich zu einem Aufklärer und zu einem Altgläubigen machte; auch Gomperz, da er zwischen einem pantheistischen und einem rationalistischen Sokrates zu vermitteln suchte und trotz feiner Kritik den vorchristlichen Standpunkt des Griechen Sokrates nicht wahrzunehmen vermochte. Aber auch die Gelehrten, die sich in dem Prozesse des Sokrates auf die Seite seiner Ankläger stellen, die ihn für einen Atheisten erklären, fälschen diesen Begriff ein wenig, wenn sie die Atheismusschelte, die ungefähr anderthalb Jahrtausende zu ihrer Entwicklung gebraucht hat, auf den alten Sokrates anwenden.

Wir sind ungenau, wenn wir den griechischen Gottesbegriff mit Gott wiedergeben, wir sind noch ungenauer, wenn wir die Verneinung des Gottglaubens in dem Ausdrucke Atheismus festhalten. Wollten wir den metaphysischen Gottesbegriff nur so ernsthaft nehmen, wie wir uns endlich gewöhnt haben die schlichteren Begriffe der Physik und der Mathematik zu gebrauchen, nämlich immer in der gleichen, durch eine möglichst klare Definition gesicherten Bedeutung, so hätten wir uns schon längst sagen müssen, daß der Gott des Monotheismus, der Gott mit allen seinen theologisch verzeichneten Eigenschaften, niemals der Gattungsbegriff der Götter des Polytheismus sein könne. Mehr noch: der Gott des Monotheismus ist ein Eigenname und darf als solcher von keinem anderen Subjekte ausgesagt werden; der Satz »Apollon ist ein Gott« hat gar keinen Sinn, wenn wir bei dem Prädikate an den Gott der letzten Jahrhunderte denken. Auch der griechische Pantheismus, der die Persönlichkeiten der alten Götter leugnete, ist etwas ganz anderes als der Pantheismus des christlichen Abendlandes, der dem einen Gotte die Persönlichkeit abspricht. Wer also den Sokrates einen Atheisten nennt, der behauptet etwas ganz anderes, als wer einen Vanini, einen Toland, einen Spinoza einen Atheisten nennt; nur die Verneinung ist in dem einen und in dem anderen Falle gleich, ungleich ist das, was verneint wird. Diesen Unterschied im Vorstellungskreise sollte man immer im Auge behalten, auch bei den Beweisen für den Atheismus des Sokrates. Es mag ja richtig sein, daß die Lehrer und die Freunde des Sokrates von der Volksreligion abgefallen waren, daß insbesondere Euripides, unter den Dichtern der Liebling des Sokrates, von der Mythologie wie von Dichtermärchen redete, daß Kritias ganz wie ein Sophist oder Aufklärer die Götter für Erfindungen schlauer Menschen ausgab; immerhin wird da nur das Dasein einer substantivischen Gottheit geleugnet, nicht das Dasein von etwas Göttlichem in der Natur oder über der Natur. Es mag richtig sein, daß Aristophanes und andere Possendichter den Sokrates und alle Sophisten als gottlose Sittenverderber an den Pranger stellten; aber dieser antike Zionswächter Aristophanes trieb selbst Schindluder mit den Landesgöttern in solcher Weise, daß man ihm nicht die Rolle eines »Positiven« gegenüber dem radikalen Sokrates zuweisen darf. Es ist richtig, daß die Anklage ungefähr auf eine Gottesleugnung ging und daß die Verteidigung, wenn wir sie überhaupt besitzen, sehr schwach war; aber weder Anklage noch Verteidigung ging oder konnte gehen auf die Frage, ob Sokrates das Dasein des jetzigen Gottes anerkannte oder bestritt. Nicht wie eine Rechtfertigung, nur wie ein übermütiger Scherz klingt es – und die ganze Verteidigungsrede, die Platon verfaßt hat, stellt sich als eine Reihe von aufreizenden Scherzen dar –, wenn Sokrates sich für seine Gläubigkeit darauf berufen will, daß er auf irgend etwas Göttliches vertraut habe, nämlich auf das Daimonion in seinem Herzen. Man hat unter dem Daimonion, das den Sokrates zu warnen pflegte, mancherlei verstanden, eigentlich unter verschiedenen Bezeichnungen immer das gleiche: das Gewissen, das Schicklichkeitsgefühl, eine gewisse Antipathie; was Sokrates meinte, das war unter allen Umständen nur etwas Psychologisches, nicht etwas Theologisches. Wir würden heute vielleicht am besten sagen: ein Antrieb, ein Instinkt. Wir könnten aus des Sokrates Berufung auf sein Daimonion etwas sehr Wichtiges lernen: daß er nämlich nicht der pedantische Schulmeister war, der – nach der gewöhnlichen Darstellung – die Tugend für lehrbar hielt, die Tugend aus dem Schulsacke holte, daß er sich in seinem eigenen Handeln von seinem ursprünglichen Charakter abhängig wußte, daß er kein trockener Verstandesmensch war; nur über sein Verhältnis zum Übersinnlichen erfahren wir durch das Daimonion nichts; denn ganz unkritisch, ganz im Banne seiner Muttersprache, nennt er ja eben diesen seinen natürlichen Instinkt, diesen Urgrund seines persönlichen Charakters, etwas Göttliches, sein Daimonion. Wir könnten dafür recht gut »Genius« sagen und würden den Sinn treffen, wenn wir das Fremdwort bald feierlich bald scherzhaft aussprächen. Es wäre möglich, daß Sokrates mit dem Genius, der in ihm selbst wohnte, im bewußten Widerspruche stand gegen den Volksaberglauben an göttliche Kräfte, an die Orakelbefragerei und die Wahrsagerei; wir werden bald sehen, daß dem Lieblingsdichter des Sokrates, dem antiken Aufklärer Euripides, eine solche Tendenz wohl zuzutrauen wäre. Wir müssen aber kaum glauben, daß Sokrates mit einer Abkehr von solchem Unfug eine Ausnahme unter seinen gebildeten Zeitgenossen gewesen wäre; auch er berief sich gern auf das Orakel, das ihn für den weisesten Griechen erklärt hatte, doch seine Berufung (in der Verteidigungsrede) war nicht ohne rationalistische Ironie; so richteten sich die Feldhauptleute auch im Peloponnesischen Kriege noch häufig nach Opferschau und astronomischen Vorzeichen, vor den Soldaten wenigstens, wir dürfen aber annehmen, daß die Führer diesen frommen Übungen keine größere Bedeutung beilegten als die Feldherrn von heute den Gebeten vor der Schlacht. Es waren psychologische Hilfen.

 

Politik

Auch über die politische Seite, die der Prozeß des Sokrates darbietet, sind wir nur auf Vermutungen angewiesen; so liegt die Sache nicht, daß wir einfach sagen könnten, die neu erstarkte Demokratie Athens habe mit Sokrates den gefährlichsten Freund der Aristokratie beseitigen wollen. Wie aber der Atheismus der antiken Welt anders war als der christliche Atheismus, ein griechischer Atheismusprozeß anders als ein christlicher, so ist auch die politische Seite der Anklage anders zu bewerten. Natürlich steckte auch hinter den Verfolgungen der Atheisten im 16. und 17. Jahrhunderte und bis heute Politik, Kirchenpolitik; nicht nur die katholische Kirche fühlte sich im Besitze einer organisierten Macht und ging mit Feuer und Schwert gegen die Menschen vor, die diese Macht auch nur mit Wortgründen zu untergraben anfingen; die weltlichen Regierungen, die sich an solchen Verfolgungen beteiligten, trieben eben Kirchenpolitik, seitdem der lange Kampf zwischen Staat und Kirche vorläufig mit einem Bündnisse zwischen Staat und Kirche geendet hatte. Was man Gottesdienst nennt, das war z. B. in Athen mit den anderen öffentlichen Einrichtungen der Stadt unentwirrbar verquickt: mit dem Kriegswesen, mit dem Gerichtswesen, mit dem Theaterwesen; es ist oft sehr schwer, das staatliche und das kirchliche Moment wichtiger Ereignisse auseinander zu trennen. Als nach der Schlacht bei den Arginusen die siegreichen Feldherrn schmählich verurteilt wurden, geschah es, weil sie nach der Seeschlacht die auf Planken herumtreibenden Verwundeten nicht gerettet, und weil sie die Toten nicht begraben hatten; die Behörden wollten wahrscheinlich die Pflichtversäumnis gegen die Überlebenden strafen, in der öffentlichen Meinung und in der Phantasie des Volkes war das religiöse Verschulden gegen die Toten von größerer Bedeutung. So mochten die Ankläger des Sokrates in gutem Glauben den Mann bestrafen wollen, der die Jugend verführte, d. h. die alleinseligmachenden demokratischen Einrichtungen Athens tadelte oder kritisch untersuchte; sollte aber die Stimmung der Volksrichter genügend gegen den Angeklagten gereizt werden, so mußte er auch des Atheismus – in griechischem Sinne – beschuldigt werden: er vernachlässige die Götter der Stadt und schwatze von neuen Göttern. So erschien der große Frager Sokrates den Verteidigern der alten Sitte als ein gefährlicher Neuerer, ohne daß seine Landsleute sich darüber klar zu werden brauchten, ob die Gefahr mehr den politischen oder mehr den religiösen Einrichtungen der Stadt drohte; was die griechischen Religionen von denen der Gegenwart zumeist unterschied, das gilt auch für die politischen Fragen. Die Männerkämpfe um Macht und Einfluß dürften nicht viel anders gewesen sein als heute, aber die Schlagworte der Parteien waren in der Politik ebensowenig definiert wie in der Religion. Man denke z. B. nur daran, daß während des fast dreißigjährigen Peloponnesischen Kriegs die Nationalitätsidee der Hellenen so gut wie gar nicht zum Vorschein kam; zwar ein Mann wie Alkibiades, der in Zorn und Not seine Anschlägigkeit bald den athenischen Volksgenossen, bald den feindlichen Spartanern, bald dem Erbfeinde in Persien zur Verfügung stellte, bildete selbst damals eine Ausnahme; aber auch unter den einfacheren Griechen waren diejenigen selten, die sich von ihrer Nationalität eine Vorstellung gemacht hatten, die den Krieg als bewußte Panhellenen oder Allgriechen beendigen wollten. Die Nationalitätsidee war noch nicht wirksam, trotz der Liebe zur Heimat, zur »Stadt«. Und auch die Begriffe der verschiedenen Staatsformen, die erst Aristoteles, der Enkelschüler des Sokrates, in ein sogenanntes System brachte, waren noch nicht geklärt.

Nun betrachtete es Sokrates, wenn wir seinen Evangelisten trauen dürfen, als seine Hauptaufgabe, die praktischen Begriffe zu säubern, die Begriffe des menschlichen Handelns; wir hören aber nichts davon, daß er – wie vor ihm die sogenannten Sophisten und nach ihm Platon und Aristoteles – auch die philosophischen, politischen und religiösen Begriffe zu säubern versucht habe; nur ungenau darf man annehmen, daß er kein Freund der heimatlichen Staatsform war, die über die Berufung zu wichtigen Ämtern das Los entscheiden ließ, daß er sich für eine Herrschaft der Würdigsten aussprach, also für eine Aristokratie im höchsten Sinne des Wortes. Wir erfahren jedoch nicht, daß er an den Revolutionen Athens regen Anteil genommen habe; er war kein Parteigänger weder der oligarchischen Regierung der Vierhundert noch der dreißig Tyrannen. Es wird aber doch kein bloßer Zufall sein, daß er, seit den Tagen des Perikles unbelästigt, jetzt nach dem Sturze der dreißig Tyrannen plötzlich verfolgt wurde. Unbeliebt genug hatte er sich gemacht, bei dem Volke und bei dessen Führern. Er war nicht müde geworden, allen diesen Leuten zu beweisen, daß sie nichts von dem wußten, was sie zu wissen glaubten. Er war ein »Ekel«, wie man in Berlin von solchen zudringlichen und lästigen Fragestellern zu sagen pflegt. Er hatte die Menschen aller Berufe schon geärgert und man gönnte ihm für seine Unbescheidenheit einen tüchtigen Denkzettel. Halten wir uns an den Prozeßbericht des Platon, wie wir trotz aller Bedenken doch tun müssen, so wurde das Schuldig nur mit einer sehr geringen Mehrheit ausgesprochen, obgleich Sokrates in seiner Verteidigungsrede mehr seine Überlegenheit gezeigt als die Geschworenen günstig gestimmt hatte. Nun erst sollte über das Strafausmaß verhandelt werden; allgemein ist man der Meinung, daß Sokrates mit einer kleinen Geldbuße oder mit einem kurzen Bann davongekommen wäre, wenn er die Richter so behandelt hätte, wie es dem Herkommen entsprach. Das souveräne Volk von Athen wollte umschmeichelt und angewimmert sein, so oft es eine Entscheidung zu treffen hatte. Sokrates war kein Schmeichler und so wurde er zum Tode verurteilt dafür, daß er die Anklage nicht recht ernst zu nehmen schien. Eigentlich nicht so sehr zu einer Hinrichtung als zu einer sanften Art des Selbstmords. Wenn nämlich der Tod durch den Schirlingstrank, den die Alten vielleicht auf eine besondere Weise zuzubereiten wußten, wirklich so schmerzlos war, wie er uns geschildert wird.

 

Euripides

Überall ist es bei Sokrates schwer, den Schleier der Legende zu beseitigen und bis zu seiner wahren Persönlichkeit vorzudringen. Es liegt nahe, uns nach einem anderen Hauptvertreter der griechischen Aufklärung umzusehen. Er schien von jeher gegeben in dem Dramatiker Euripides, von welchem Stücke und Fragmente genug erhalten blieben – so heißt es –, um uns ein ausreichendes Bild von seiner Weltanschauung zeigen zu können. Es trifft sich nicht übel, daß derselbe Aristophanes, der die Athener zuerst gegen die Gottlosigkeit des Sokrates hetzte, auch den Euripides denunzierte als einen Gottesleugner und als einen elenden Dichter dazu. Man hat diese Bosheiten des Possendichters lange Zeit für bare Münze genommen. Wie man sich dabei mit dem Dogma vom klassischen Altertum abgefunden hatte, gehört auf ein anderes Blatt; ich fürchte, man nahm die Überbleibsel der griechischen und lateinischen Literatur für ein Ganzes, wie man in der Theologie den zufälligen Kanon der Bibel für ein Ganzes nahm, und half sich in beiden Fällen, dadurch, daß man Widersprüche leugnete. Man brachte die Evangelisten in Übereinstimmung, man betrachtete den übermütigen Aristophanes als einen klassischen Zeugen und bewunderte den Euripides dennoch. So wuchs der Ruhm des Euripides, der bei seinen Zeitgenossen viel Widerspruch erfahren hatte, ins Ungemessene; Euripides wurde zum Tragiker des Schulmeisters Aristoteles, wurde zum Vorbilde für Seneca und so durch die Wirkung, die er auf Shakespeare und noch unmittelbarer auf das französische Theater ausübte, bis auf die Gegenwart zum unvergleichlichen Muster der Theaterschriftstellerei. Nur etwa die deutschen Romantiker mit ihrem feinen Gefühle für die Bedingungen moderner Poesie verachteten ihn; Goethe wollte keinen Dramatiker irgendeines Volkes kennen, der wert gewesen wäre, ihm die »Pantoffeln zu reichen«. Nun war aber Euripides seit Aristophanes anerkannt als der Dichter der Aufklärung; so entstand gegen Ende des 18. Jahrhunderts in Frankreich und in Deutschland die Neigung, Euripides mit Voltaire zu vergleichen. Es wäre eine Kleinigkeit, in einem Schulaufsatze oder in einer anderen Doktordissertation eine solche Parallele zu schreiben: die gleiche Übergangszeit der Auflösung alten religiösen und politischen Glaubens, Verdrängung der Vaterlandsliebe durch Kosmopolitismus, Aufkommen des Rationalismus in der Philosophie und des Naturalismus in der Poesie; und der Zufall fügte es, daß Euripides wie Voltaire in ihrer Heimat unbefriedigt, eine Zuflucht suchten und fanden am barbarischen Hofe eines nordischen Fürsten, dessen Land die Hoffnung einer besseren Zukunft war, Euripides in Mazedonien, Voltaire in Preußen. Auch ich möchte die Gegenüberstellung von Euripides und Voltaire nicht ganz verschmähen, aber nur um wieder zu zeigen, daß die Schlagworte der Aufklärungszeit ihren Sinn verlieren, wenn wir sie auf das Verhältnis zwischen dem griechischen Denken und dem griechischen Volksglauben anwenden. Übrigens will ich nicht in Abrede stellen, daß ich weder den Theaterschriftsteller Euripides noch den Theaterschriftsteller Voltaire für einen ganzen Dichter halte.

Voltaires bewußte Absicht war in dem Wahlspruch enthalten, mit dem er seine vertrauten Briefe zu endigen liebte: écrasez l'infâme. Euripides hätte dieses Fahnenwort gar nicht verstanden. Griechenland, Athen besaß gar keine Kirche, von Priestern geschützt, von einem scheinbar übergeordneten, in Wahrheit gehorsamen Staate verteidigt, die um der Wahrheit willen und um des Volkswohls willen hätte vernichtet werden müssen. Griechenland, Athen besaß nur ein Herkommen, nach welchem die Landesgötter verehrt wurden, besaß nur eine Fülle von Mythen, von Geschichten, die zu keiner Zeit in ihrem Wortlaute feststanden. Wenn Voltaire auch nur an einer einzigen Heiligenlegende des Mittelalters seinen Witz übte, schien das ganze Gebäude des Katholizismus einzustürzen; wenn die griechischen Naturphilosophen die »Ursprünge« der Welt außerhalb der Götter suchten, lange vor der perikleischen Zeit, wenn dann die Sophisten den Menschen zum Maße aller Dinge machten, auch der religiösen Dinge, wenn endlich Euripides, sicherlich ein Gesinnungsgenosse der Sophisten, wirklich (wie Aristophanes ihm nachsagt) zu der Vernunft als zu seiner Göttin betete, so blieben die Landesgötter und ihr Dienst von solchen Denkübungen fast unberührt. Mochten immerhin einige Mythen zu Märchen werden, es blieben Götter genug übrig. Euripides benützte die alten Göttergeschichten mit der gleichen Freiheit, mit der heute ein Verfasser historischer Dramen etwa seine Quellen verwendet; es war aber keine Theologie da, die ihm eine solche Freiheit verkümmert hätte. Man brauchte den Dramatiker nicht mit Redensarten zu rechtfertigen wie: daß der Dramatiker hinter den Personen seines Stückes verschwindet, daß die einzelnen Personen nur ihrem Charakter gemäß reden; nein, just Euripides war ein Tendenzdichter (wie Voltaire) und benutzte jede passende und unpassende Gelegenheit, seine Mitbürger durch aufklärerische Sprüchlein zu belehren, die alten Legenden auch wohl ganz unpoetisch zu kritisieren. Das war aber für die Entwicklung der griechischen Göttergeschichten nichts grundsätzlich Neues. Erst von den Verfassern des Alten und des Neuen Testaments wurde behauptet, sie hätten unter göttlicher Eingebung die Feder geführt, erst in der Mythologie der Bibel wurde jeder Buchstabe darum mit Feuer und Schwert verteidigt; die Griechen wußten es nicht anders, als daß sie ihre Göttergeschichten den Dichtern verdankten, und – noch einmal – was Dichter bauten, konnten Dichter stürzen.

So steht es um den Atheismus, den Rationalismus, den Skeptizismus des Euripides oder wie man den Ausdruck für seine Tendenz wählen mag. In vielen seiner Stücke bog er nicht nur die herkömmliche Legende nach seiner Absicht um, sondern bekämpfte sogar irgendeine landläufige Gottesvorstellung. Das Publikum nahm aber keinen Anstoß daran, wie es denn wahrscheinlich eine gelehrte Fabel ist, daß Euripides seinen Vers »Was Zeus auch sei, ich kenn' ihn nur dem Namen nach« frömmelnd verbessern mußte. Auch die vielen Stellen, die die Notwendigkeit des Schicksals den Göttern überordnen, haben nicht – wie man sie jetzt gern versteht – die Bedeutung der Anerkennung eines gottlosen Waltens der Naturgesetze, sondern nehmen nur wieder etwas Göttliches neben oder über den Göttern an. Selbst so erbitterte Worte, wie sie einmal Amphitryon gegen den ehebrecherischen Zeus richtet, sind nur für uns blasphemisch, die wir die Allweisheit und die Allgüte Gottes auswendig gelernt haben; die Griechen kamen eben mit Göttern aus, die nicht weise und auch nicht gut waren. Und für den Mangel einer Priesterschaft, die durch solche Asebie geschädigt worden wäre, spricht es deutlich, daß Aristophanes bei einem seiner Angriffe auf Euripides nicht einen Verlust für die Kirche hervorhebt, sondern nur den Ruin der Blumenhändlerinnen, denen die Atheisten keine Kränze für die Tempel mehr abkaufen würden.

Die Sprache auch unserer Aufklärung ist noch eine christliche Sprache; christliche Deisten und Pantheisten wissen es nur oft gar nicht, daß sie – auf dem Wege zum Atheismus – ihrem abstrakten Gottesbegriffe Eigenschaften des Christengottes immer noch beilegen; und so fälscht man unbewußt die Religionskritik des Euripides, wenn man sie Deismus oder Pantheismus nennt. Der griechische Aufklärer konnte ganz unbefangen aussprechen, die Götter wären unweise und unsittlich. Die Mythologie war für die griechische Aufklärung voll von Lügen; nicht aber Gottes Wort hatte da gelogen, sondern – schon nach einem Spruche Solons – die Dichter, also Menschen.

Auch der berüchtigte, eigentlich unpoetische Rationalismus des Euripides hat wenig Ähnlichkeit mit dem christlichen Rationalismus des 17. und 18. Jahrhunderts; dieser führte zum theoretischen Atheismus, wenn er an der buchstäblichen Wahrheit der mythologischen Glaubensartikel zweifelte; Euripides konnte ruhig irgendeine Göttergeschichte, irgendeine Götterlegende für unwahr halten und getrost seine Umformung der alten Fabel an die Stelle setzen. Homeros verlangte in der Auslegung nicht wie die Bibel das Opfer des Verstandes. Wer das Lehramt der christlichen Kirche verwarf, der war ein halber Atheist und ein ganzer Ketzer; wer die Unfehlbarkeit der griechischen Wahrsagerei verwarf oder verlachte, der war noch lange kein Ketzer, kein Atheist.

Auch der ausgemachte Zweifel, der sogenannte Skeptizismus, ist zwar bei Euripides und bei den Griechen überhaupt äußerst radikal, es fehlt ihm aber die einseitige atheistische Tendenz, er ist mehr erkenntnistheoretisch als religiös; der Grund ist wieder nur der Mangel einer Theologie. Innerhalb einer Offenbarungsreligion führt der Zweifel an irgendeinem der Glaubensartikel unweigerlich zum Zusammenbruche des ganzen Systems; Euripides konnte – mit den Sophisten – beinahe schon sprachkritisch an der Berechtigung der religiösen und der sittlichen Begriffe zweifeln und dennoch fortfahren, mit den umgebildeten alten Göttermythen sein Publikum zu rühren. Heute wird sich ein aufgeklärter Maler oder Dichter davor hüten, die Gestalten des christlichen Himmels behandeln zu wollen; die Götter des Olympos, damals übrigens schon nach dem griechischen Himmel versetzt, waren in viel höherem Maße als etwa die katholischen Heiligen für uns, lebendige Symbole geblieben und schienen lebendig, auch in der Vermenschlichung des Euripides, selbst noch in den grotesken Zeichnungen des Aristophanes. Sicherlich war Euripides aus der Art geschlagen, aus der Art der Athener; was man ihm aber übelnahm, das war weit mehr seine Abwendung von politischen Geschäften und seine Verwerfung des gymnastischen Sports, als gelegentliche Äußerungen über die Sterblichkeit der Menschenseele und über die Unfreiheit des Menschenwillens. Über so schwierige Dinge wie den Gott und die Seele mochte jedermann denken wie er wollte. Und vollends das Elend des Menschenschicksals und das Recht auf den Selbstmord widersprach der griechischen Anschauung nicht, geschweige denn einem religiösen Glaubensartikel, deren es ja nicht gab.

 

Hippokrates

Als Gesinnungsgenosse des Sokrates durfte hier ein Dichter herangezogen werden, und nicht ein Wissenschaftler, weil in der Poesie die allen Griechen gemeinsame Weltanschauung zum Ausdruck kam, und weil es eine Wissenschaft in unserem Sinne noch nicht gab, weder Naturwissenschaften noch Geisteswissenschaften. Um so willkommener mag es sein, in einem ausgezeichneten Arzte einen Freigeist kennen zu lernen; Heilkunst war damals ja ebensowenig wie heute eine Wissenschaft. Es kommt noch etwas dazu.

Wollen wir uns nämlich über den Geist der Aufklärung, der zu der Zeit des Sokrates bei den gebildeten Griechen herrschte, im Gegensatze zu der Volksreligion, genau unterrichten, so dürfen wir bei der Geschichte der Philosophie und der Dichtung nicht stehenbleiben; da droht immer die Gefahr, durch subjektive Übersetzungen die Vorstellungen der Gegenwart in die Lehren und Gedanken der alten Herren hineinzulegen. Es trifft sich gut, daß wir den Stand der griechischen Aufklärung nach dem Peloponnesischen Kriege nachprüfen können an den erhaltenen Schriften des berühmtesten Arztes.

Hippokrates war ungefähr zehn Jahre jünger als Sokrates und starb zwanzig bis dreißig Jahre später als der »Vater der griechischen Philosophie«. Eine beträchtliche Zahl der unter dem Namen des Hippokrates bis auf uns gekommenen Bücher gilt bei den Fachleuten für echt; es wäre auch töricht, gewisse grundlegende Gedanken (Aphorismen, Bemerkungen über Prognose, Diagnose und Einfluß des Klimas) einem anderen Menschen zuweisen zu wollen als dem Hippokrates; man müßte denn das Auftreten eines zweiten großen Arztes in der antiken Welt annehmen.

Sehr merkwürdig ist nun, daß Sokrates und Hippokrates, der philosophische und der ärztliche Aufklärer, voneinander nichts wissen wollten oder doch keiner von der Lebensaufgabe des anderen; Sokrates brachte ja nach dem alten Worte die Philosophie vom Himmel aus die Erde herab; Hippokrates wiederum lehnte in seinem Berufe jede Abhängigkeit von der Philosophie ab: der Arzt brauche nicht zu wissen, was der Mensch sei. An anderer Stelle werde ich mich mit der ungeheuren, darum für mehr als zwei Jahrtausende fast unwirksamen Kühnheit zu beschäftigen haben, mit der Hippokrates in so grauen Zeiten schon das Wesen der Diagnose durchschaute und den Satz verfocht, um dessentwillen heute noch Ernst Schweninger und Schleich gefeiert oder bekämpft werden: es gibt keine Krankheiten, es gibt nur kranke Menschen.

Hier geht uns allein die Kritik an, durch welche Hippokrates die supranaturalistische Diagnose aus seiner Tätigkeit verbannte. Man hatte natürlich seit jeher, wenn man einen kranken Menschen zu betreuen hatte, mit menschlicher Neugier, die sich gern Wißbegier nennt, nach der Ursache der sogenannten Krankheit gefragt; in sehr vielen Fällen (immer bei Verwundungen) gelangte man zur Erkenntnis einer natürlichen Ursache; in ebenso vielen Fällen schob man die Ursache supranaturalistischen Einflüssen zu, dem Willen von Göttern oder Dämonen; war die Ursache supranaturalistisch, so mußte auch die Heilung durch supranaturalistische Mittel versucht, der Gott oder der Dämon durch Gebet oder Opfer versöhnt, der Fluch durch geeignete Zaubermittel aufgehoben werden. Der Arztpriester der Griechen und der Medizinmann der Neger standen so ziemlich auf der gleichen Stufe der ärztlichen Kunst; der Aberglaube, der heute noch bei hoch und nieder sehr verbreitet ist, läßt immer eingebildete Ursachen durch eingebildete Mittel bekämpfen. Ich lasse es dahingestellt, ob der Glaube an personifizierte »Krankheiten«, die man für die Ursachen von Todesfällen oder Schmerzen hält, nicht einer ähnlichen supranaturalistischen Ätiologie angehöre und nicht zu der Anwendung von verwandten supranaturalistischen Heilmitteln führen könne. Hippokrates nun mag immerhin sonst ein Schüler des Herakleitos gewesen sein, man mag ihn mit Recht oder Unrecht zu den Atheisten gerechnet haben (der Streit darüber begann aber erst in neuerer Zeit), in der Ausübung seiner ärztlichen Kunst ließ er sich von religiösen Vorstellungen ebensowenig stören wie von philosophischen. Wenn er als Arzt um seine Meinung befragt wird, dann redet er nicht von Gott und göttlichen Dingen, sondern allein von den Zuständen und Vorgängen im lebendigen Menschenleibe. Vielleicht steckt im Menschen etwas Göttliches, dann aber im kranken Menschen nicht mehr und nicht weniger als im gesunden Menschen. Und Hippokrates schreibt ein kleines Buch über die Erscheinungen, die man unter dem Namen der »heiligen Krankheit« zusammenfaßt, und entscheidet sich dafür, daß auch diese Krankheitserscheinung (die ungefähr alle psychischen Erkrankungen umfaßte) um nichts göttlicher sei als andere, sich aus ebenso natürlichen Gründen erklären lasse und entwickle.


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