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Fünfter Abschnitt
Neue Strömungen seit dem 13. Jahrhundert

Die kirchenoffizielle Scholastik hatte eine Zeitlang versucht, sowohl den alten Aristoteles als seinen Kommentator Averroës für Feinde des Christentums zu erklären. Als aber die Bewegung ihr über den Kopf wuchs, als gar durch die Araber und durch die Juden bisher unbekannte Schriften des Aristoteles dem Bücherschatze der gelehrten Klöster hinzugefügt wurden, als die besten Köpfe der Kirche in Aristoteles nicht nur den größten Logiker aller Zeiten, sondern auch den größten Metaphysiker und Naturforscher zu verehren anfingen, da gab die Kirche nach – wie gesagt – und duldete es, daß der Heide Aristoteles wie ein Vorläufer Jesu Christi behandelt wurde, daß man sich auf seine Bücher wie auf die Bibel berief. Das Ansehen des Aristoteles begann das der Kirchenväter zu überragen. (Wer uns ein gutes Buch über die wechselreiche Geschichte dieses Ansehens schreiben wollte, würde sich um die Geistesgeschichte der Menschheit verdient machen.) Um so rücksichtsloser konnte die Kirche den Kommentator verdammen; er wurde als Gotteslästerer und Kirchenfeind abgestempelt. Man kann die Sache so darstellen, als ob zu der gleichen Zeit, da die Kirche in aller Form äußerlich den Sieg über das Kaisertum erfochten hatte, auch auf rein geistigem Gebiete die naturwissenschaftliche Scholastik des Averroës durch die theologische Scholastik des heiligen Thomas überwunden worden wäre; doch eine solche Darstellung würde übersehen, daß das Rad der Geschichte nicht rückwärts zu drehen ist, daß es nach dem Triumph der Päpste und des heiligen Thomas dennoch vorbei war mit der Starrheit der triumphierenden Kirche. Der ungeheure Umschwung, der in seiner Vollendung als Renaissance oder als Reformation einem neuen Zeitalter den Namen gibt, bereitete sich schon im 13. Jahrhundert vor, nicht immer unmerklich oder leise. Ich greife vor.

 

Nationalstaaten

Man kann da die Aufmerksamkeit je nach seinem Interesse auf die ökonomischen oder auf die politischen Veränderungen im Abendlande lenken. Wohl war das Imperium des römischen Kaisers deutscher Nation, die Weltmonarchie, für immer durch die Politik des Papsttums unmöglich geworden, aber die Päpste waren jetzt durchaus nicht mächtiger, als sie unter der Hoheit der Kaiser gewesen waren; im Gegenteil, unabhängig vom Weltreiche der Kaiser erstarkten die einzelnen Staaten, die durch ihre Neigung, Nationalstaaten zu werden, die einheitliche Kultur durchbrachen, ohne welche der Katholizismus nicht mehr das war, was er zu werden gedroht oder versprochen hatte. Die Nationalstaaten hatten die Sprachen und die Gewohnheiten ihrer Völker zu verteidigen; im starren Mittelalter hatte es Volksmundarten gegeben, aber noch keine Nationalsprachen. Die Nationalstaaten hatten aber noch etwas anderes Neues zu verteidigen: den Nationalreichtum ihrer Völker; gerade die Kreuzzüge, als die Führer erst ganz materialistisch geworden waren, hatten zu einer ungeahnten Entwicklung des Großhandels geführt und hatten das Aufkommen eines reichen Mittelstandes in den Städten begünstigt. Mit nur wenig Übertreibung kann man sagen, daß es bis dahin einen wohlhabenden und darum gebildeten Mittelstand in Europa nicht gegeben hatte; Wissenschaft, die übrigens größtenteils aus Theologie bestand, fand sich nur bei den Geistlichen, die im Dienste des Papstes standen, und etwa noch bei den Fürsten, deren Stellung von der Kirche abhängig schien. Erst die Nationalstaaten lösten sich von dem Zentrum Rom los, und innerhalb der Nationalstaaten begannen sich – zuerst in Italien – die Nationalsprachen von der Tyrannei des zentralistischen Latein zu befreien. Und als durch den Reichtum der Handelswelt auch die ökonomische Übermacht Roms aufhörte, stand eines Tages das siegreiche Papsttum hilfloser da als in den Zeiten der kaiserlichen Gewalt.

 

Troubadours

Bei den Machthabern der Politik und des Handels läßt sich im 13. Jahrhundert das Fortschreiten der Aufklärung nicht dokumentarisch nachweisen, wohl aber bei den Sprachmächtigen der Zeit, bei den Dichtern. Freilich, der weitaus größte Dichter des 13. Jahrhunderts, der unvergleichliche Dante (1265-1321), war nur als Eiferer für Nationalstaat und Nationalsprache ein Fortschrittler, als Denker oder als Philosoph war er christlich und katholisch (wenn auch nicht päpstlich) bis auf die Knochen; aber die vielen kleinen Poeten, die das Geheimnis entdeckt hatten, zugleich kunstmäßig und volksmäßig zu singen, schienen mit den Ketten der lateinischen Sprache auch die Ketten der lateinischen Kirche abgestreift zu haben. Nicht gleich bei ihrem ersten Auftreten. Den verlaufenen Klerikern gegenüber, den Vaganten, die sogleich zwar nicht am Dogma, doch am Leben der Geistlichen Kritik übten, waren z. B. die Troubadours in Südfrankreich schon weltlich gebildete Herren, vornehm in der Wahl ihrer Stoffe, kunstreiche Sänger der Liebe und der Ehre. Als aber die Albigenserkriege ihre eigene Lebensfreiheit und den kulturfreundlichen Reichtum ihrer fürstlichen Beschützer bedrohten, da erhoben diese Troubadours ihre Stimmen gegen die Kirche, für die Freiheit. Sie wagen es nicht, ihre Übereinstimmung mit den Ketzern auszusprechen, sie sind keine Glaubenshelden; aber sie werfen der Kirche und ihren Dienern Dummheit und Herrschsucht vor, Luxus und Blutgier. Ein provenzalischer Dichter, Pierre Cardinal, begnügt sich nicht damit, über die Geistlichen zu spotten; er kritisiert Gottes Schöpfung in pessimistischen Betrachtungen. Warum hat Gott die Menschen in das Reich der Niederträchtigkeit und der Sünde hineingesetzt? Sie verlangten ja gar nicht geschaffen zu werden. Gottes Rechnung war falsch. Er hat nicht das Recht, seine unschuldigen Geschöpfe, die er schwach gemacht und dem Teufel preisgegeben hat, von der Seligkeit auszuschließen. Alle Menschen haben das Recht auf Glück und Heiterkeit.

Auch in Deutschland, wo die Abhängigkeit von den Troubadours in der Dichtung allgemein ist, regt sich die Auflehnung gegen die Kirche selbst, nicht nur gegen die kirchlichen Mißbräuche, gegen Reliquientrug und gegen die Unsittlichkeit der Pfaffen. Man hat oft behauptet, alle diese Schwänke, die in vielen Sammlungen vorlagen, seien nur ein Beweis für die Naivität des Mittelalters, das besser als unsere Zeit Frömmigkeit mit einem hellen Gelächter über die Kirche vereinigen konnte; in Wahrheit aber lachte man nicht, solange man glaubte. Wer sich über die Wundersucht des Volkes lustig machte und über den geistlichen Wucher mit Wundern, der glaubte an keine Wunder mehr. Und die kunstmäßigen Dichter waren nur weniger derb als die Volksbücher, nicht weniger frei. Unser Walther fragt einmal, wie lange Gott denn schlafe. Und Walther wie Freidank stellen, ungeachtet aller ihrer Christlichkeit, wieder die drei Religionen gegeneinander. Dem gleichen Gotte dienen Christen, Juden und Heiden. Ob eine von den drei Konfessionen die richtige sei, das wird nicht entschieden. Freidank weiß schon, daß die Mehrzahl der Menschen nicht katholisch ist; also hätte der Teufel das größere Heer, wenn Ketzer, Juden und Heiden an Gott nicht teil hätten. Auch bei Trimberg und sogar bei Wolfram finden sich ähnliche Anklänge, die wir schon aus Abälards Religionsgespräch kennen. Nur daß, was zu Anfang des 12. Jahrhunderts noch mit logischer Trockenheit vorgetragen wurde, jetzt bereits einen Unterton hat wie ein Murren gegen Gott. Es müsse seinem Vaterherzen unerträglich sein, soviele Kreaturen von der Seligkeit ausschließen zu müssen; ein treuer Heide könne bessere Dienste leisten als ein schlechterer Christ. Alle diese antikirchlichen, mitunter schon antichristlichen Tendenzen stehen im engsten Zusammenhange mit den vollzogenen wirtschaftlichen Veränderungen der Völker und den gegen die Kirche mehr und mehr gleichgültigen politischen Kämpfen der Fürsten; bevor wir aber die Bedeutung des Kaisers betrachten, der die Aufklärung des 13. Jahrhunderts auf eine erstaunliche Höhe brachte – noch mehr durch seine gleichbleibende persönliche Gesinnung als durch seine wechselnde Politik –, müssen und wollen wir in einem weiten Umblick an den fortschrittlichen Gang erinnern, den eben in diesem 13. Jahrhundert das theoretische Denken in der sogenannten Philosophie nahm; und wir werden dabei nicht übersehen dürfen, daß gerade der Bahnbrecher der gesamten modernen Erkenntnis, daß Ockam, der Erneuerer des von der Kirche verdammten und totgesagten Nominalismus, der Beginner einer nominalistischen Psychologie oder der Psychologie überhaupt, als politischer Schriftsteller in die staatlichen Kämpfe der Zeit tief hineingezogen wurde. Vor unseren Augen hebt jetzt an die lange Reihe der englischen Denker, die von Roger Bacon bis auf Hume mehr als alle Denker anderer Völker die Gegenwart beeinflußt haben in der Erkenntnislehre, in der Naturwissenschaft und in der Begründung der bürgerlichen Freiheit im Staate.

 

Dominikaner und Franziskaner

Es wäre kleinlich, den großen Geisteskampf in der damaligen Philosophie, die langsame Befreiung der Philosophie von der Theologie, etwa nur auf die zufällige Eifersucht und Gegnerschaft der Dominikaner und der Franziskaner zurückführen zu wollen; aber der Gegensatz der beiden Orden bietet doch gewisse Richtungslinien, weil die Dominikaner in der Kirche die aristokratische, die rückschrittliche Partei bildeten (wie heute noch), die Franziskaner aber, freilich fast immer auch innerhalb der Kirche, die demokratische und fortschrittliche Partei. Es ist die schwierigste Aufgabe einer Darstellung dieses immer noch mittelalterlichen Streites, die Ansätze zum Abfall vom Christentum nicht zu verkennen und dennoch in jedem Falle klar festzuhalten, daß auch die Franziskaner sich für treue Söhne der Kirche erklärten und mit einigem Vorbehalt erklären durften; Theologen waren sie alle, sowohl der Dominikaner Thomas, der freilich für seine Theologie (1323) zum Heiligen ernannt wurde und bei seinen Zeitgenossen der Doctor angelicus hieß, als auch die Franziskaner Roger Bacon, der Doctor mirabilis, Duns Scotus, der Doctor subtilis und Ockam, der Doctor invincibilis. Bekannt ist, daß die Streitigkeiten, oft unsäglich scholastische Streitigkeiten, zwischen den Thomisten und den Scotisten die Universitäten noch lange in zwei Schulen spalteten; bekannt ist, daß Rom es 1879 gewagt hat, als ob Spinoza, Hume und Kant nie gelebt hätten, den neuen Menschen den alten Thomas von Aquino und damit den noch älteren, verchristlichten Aristoteles, als den allein maßgebenden Philosophen aufzudrängen, uneingedenk dessen, daß die Kirche selbst in ihrer Dogmatik auf den heiligen Thomas nicht geschworen hatte. Wir werden noch in anderem Zusammenhange zu beachten haben, daß aus der geistigen Aristokratie des Dominikanerordens die frömmste aller Ketzereien hervorging, die mittelalterliche Mystik, die deutsche Mystik der Eckhart, Tauler und Suso, von denen wenigstens die beiden ersten sich bis zu einem gottseligen, aber fast unkirchlichen Pantheismus erhoben; die großen Leuchten der Kirche aber waren die beiden Dominikaner Albertus Magnus und sein einseitigerer, einflußreicherer Schüler Thomas.

Es ist schon ganz kurz erwähnt worden, daß es des Thomas nicht zu unterschätzende Leistung war (die Kirche und eine gefügige Geschichtschreibung nennt es gern seine Aufgabe oder seine Mission), den Heiden Aristoteles zu verchristeln, d. h. den durch die Araber zu der stärksten modernen Geistesmacht erhobenen Aristoteles so unauflöslich mit christlich-theologischen Vorstellungen zu verquicken, daß »der Philosophus« (so hieß er besonders) für Jahrhunderte aus dem Doctor ordinis, zu dem ihn die Dominikaner bald nach seinem Tode auserkoren hatten, zum Doctor mundi wirklich gesteigert schien. Wir denken kühler über den scharfsinnigen Mann. Er hat seiner nach Aufklärung ringenden Zeit den Zoll bezahlt, da er mehr als die Scholastiker vor ihm den Menschen in den Mittelpunkt seiner Betrachtungen stellte, da er sogar auf den neu erstandenen ökonomischen und geistigen Mittelstand einige Rücksichten nahm; aber der Kern seiner Lehre war doch die starrste Dogmatik, verschlimmert durch eine Dogmatisierung der Volksreligion. Nicht ohne einen leisen Humor könnte man sagen: Thomas von Aquino machte ein System der Entwicklung aus der Forma-Lehre des bewußt verchristelten Aristoteles und führte dieses System der Entwicklung für die himmlischen Wesen weiter nach dem von Anfang an gefälschten Dionysios Areopagita; sein Weltbild war also auf eine bewußte und auf eine unbewußte Fälschung aufgebaut.

Noch einmal: dem Dominikaner Thomas standen die Franziskaner nicht als entschiedene Freunde der Aufklärung gegenüber, nicht Roger Bacon, schon gar nicht Duns Scotus, nicht einmal Ockam. Aus den Schriften dieser drei ließen sich unzählige Stellen von gläubigster Kirchlichkeit anführen; Duns Scotus war sogar in einzelnen Punkten noch dogmenfreudiger als der Doctor angelicus. Wenn man den Gegensatz zwischen den stärksten Gedanken der Franziskaner und dem System des Dominikaners (nicht den engen Gegensatz zwischen Thomisten und Scotisten) von der höheren Warte der Gegenwart aus überblickt, so wird es vielleicht nur auf einen Gegensatz der Stimmung, der inneren Neigung hinauslaufen. Beide Parteien hielten sich äußerlich an die Lehre von der doppelten Wahrheit; während aber Thomas das natürliche Licht, die Logik also, wunderlicherweise nur dazu benützen wollte, das Licht der Offenbarung noch heller zu machen, und in ganz verzweifelten Fällen eben an der Brauchbarkeit des natürlichen Lichts zweifelte, waren die genannten Franziskaner kritisch genug, dem natürlichen Lichte »unbedingt« zu vertrauen, na ja, mehr oder weniger unbedingt, und wenn es in der Aufhellung dogmatischer Schwierigkeiten versagte, das Dogma auf sich beruhen zu lassen; ein Zweifel am Dogma wurde nicht geradezu ausgesprochen, entstand aber von selbst in der Seele des Schülers oder Lesers.

 

Roger Bacon

Unter den problematischen Naturen des 13. Jahrhunderts ragt Roger Bacon gewiß durch eine eifrige Wühlarbeit hervor, mit der er sich selbst aus dem mittelalterlichen Wuste von Wortaberglauben, Metaphysik und Formalismus ans Tageslicht emporringen wollte; den Zeitgenossen galt er wie Albertus Magnus, wie jeder Naturbeobachter für einen unheimlichen Zauberer; heutzutage ist es fast Mode geworden (eine unbewußte Verführung durch die Gleichheit des Namens ist nicht zu verkennen), nicht erst in Francis Bacon, sondern schon in Roger den Begründer der Erfahrungswissenschaft zu erblicken, also des Materialismus. Man muß freilich ein Auge schließen für allen Aberglauben und für alle Theologie dieses Mönchs, um ihm eine solche Schuld oder ein solches Verdienst zusprechen zu können; die Wahrheit wird wohl sein, daß er, wie viele seiner Zeitgenossen, von der Unfruchtbarkeit der scholastischen Methode völlig überzeugt war und dadurch Anstoß erregte, daß eine dunkle Ahnung ihn von einer empirischen Methode wichtige Entdeckungen erwarten ließ, daß er aber zu eng in astrologischen und mönchischen Aberglauben verstrickt war, um in der Entwicklung der Philosophie die Stellung zu verdienen, die man ihm zuweisen möchte. Und auch seine Bewunderer müssen ihrer Sache nicht ganz gewiß sein, da es sonst unbegreiflich wäre, daß so viele seiner Schriften bis zur Stunde noch ungedruckt geblieben sind.

Es spricht gewiß für irgendeine Unbotmäßigkeit Roger Bacons, daß er zweimal auf päpstlichen Befehl ins Gefängnis geworfen wurde, zuerst um 1260 und dann gar für zehn Jahre um 1280; wir wissen aber nicht, warum er verfolgt wurde, ob um der Bestrebungen willen, das sittliche Leben der Mönche und des Klerus zu verbessern, ob wegen seiner Anläufe gegen die scholastische Methode, ob wegen besonderer Irrlehren. Wir wissen überhaupt wenig von seinem Leben: daß er 1214 in der Grafschaft Somerset geboren wurde, in Paris studierte, in Oxford lehrte und dort auch (wahrscheinlich 1292) starb. Bei der Bewertung der Stellen, die aus seinen Schriften da und dort angeführt werden, sollte nicht vergessen werden, daß er sein Hauptwerk, das Opus majus, zu seiner Verteidigung schrieb, auf Wunsch eines ihm wohlgesinnten Papstes, daß er also bemüht war, darin seine Rechtgläubigkeit zu beweisen.

Er fordert, als ob er schon ein Leibnizianer und ein Aufklärer wäre, eine gründlichere Beschäftigung mit Philologie, Mathematik und Physik; die Begründung dieser Forderung ist aber gewöhnlich so abstrus, daß der Vergleich mit dem 18. Jahrhundert nicht stichhält. Die Sprachen sollen freilich eifriger als bisher getrieben werden, damit man die Bibel (freilich auch den Aristoteles und die Araber) besser verstehen lerne. Die Mathematik jedoch sei die vornehmste Wissenschaft schon darum, weil in der Kategorienlehre des Aristoteles die Quantität unmittelbar auf die erste Kategorie folge, auf das esse; auch sei die Mathematik nötig zum Begreifen der Astronomie, d. h. der Astrologie, der Roger Bacon bis zur Unvernunft ergeben war und die er, der angebliche Vater der modernen Empirie, für eine Erfahrungswissenschaft hielt. Dazu sei gleich bemerkt, daß er, der doch wirklich ein Gegner der Scholastik war, sich auch in rein naturwissenschaftlichen Fragen mit Buchgelehrsamkeit auf Autoritäten beruft, wie ein Scholastiker, und nicht auf Beobachtung der Sachen. Ein bloßes Wortwissen kann aber seine Sache nicht gewesen sein, sonst hätte er nicht Entdeckungen und Erfindungen machen können auf den Gebieten der Optik und der ernsthaften Astronomie; wird ihm doch auch die Herstellung eines dem Schießpulver ähnlichen Stoffes zugeschrieben.

Stärker als es in den abgedruckten Büchern nachweisbar ist, muß allerdings seine Befreiung von der Gebundenheit des Mittelalters gewesen sein; nur daß wir wahrscheinlich zu weit gehen, wenn wir seine Überzeugung oder vielmehr seine Ahnung mit Schlagworten bezeichnen, die für den Dienst einer bestimmten neuen Weltanschauung geprägt oder für diesen Dienst gedeutet worden sind. So erscheint uns Roger Bacon gelegentlich fast wie ein Sensualist, wenn ihm die logischen Beweise nicht genügen, wenn er die sinnliche Erfahrung zur selbstverständlichen Grundlage machen will; so erscheint er uns ein andermal wie ein Materialist, wenn er als ein Schüler des Averroës die »Formen« aus den Dingen hervorgehen läßt, wenn er der Materie ein »tätiges Vermögen« zuschreibt, sich selbst zu verwandeln; so erscheint er wieder einmal als ein kritisches Genie, wenn er aller Autorität den Krieg erklärt, als Empirist, wenn er für die Naturwissenschaft Beweise durch Experimente fordert und die Experimentalwissenschaft für die Fürstin unter den Wissenschaften erklärt; er spricht sogar wie ein Verkünder der absoluten Notwendigkeit der menschlichen Handlungen (mit einer Verbeugung gegen den lieben Gott), wenn er den Naturlauf durch keine magischen Künste verändern lassen will: nur daß aber dieser letzten Freigeisterei seine Astrologie widerspricht, so wie sie sonst hundertfach von theologischem Geschwätz unterbrochen wird. Doch die Bitterkeit mancher seiner Klagen (besonders im Opus minus) deutet doch darauf hin, daß er sich seiner Überlegenheit bewußt war und sich nur widerwillig der dummen Mehrheit fügte, wohl auch der Mehrheit in der Kirche. Der Satz, daß Verstand stets bei Wenigen nur gewesen sei, findet sich schon bei Roger; einen Aberglauben, den die Kirche in ihren Schutz nehme, dürfe man also nicht bekämpfen. Erst in den letzten Fragen der praktischen Theologie zeigt sich eine ganz neue und ihm eigentümliche Kühnheit: wenn es erstrebenswert ist, daß das Christentum Weltreligion werde, daß es aus Vernunftgründen von allen Ungläubigen angenommen werde, dann müsse es vorher von allen übervernünftigen Elementen gereinigt werden. Man achte auf das Verhältnis dieses Gedankengangs zu der Begründung, welche die Vernunftreligion bei den englischen Deisten fand. Roger war noch so christlich, daß er vielleicht ganz ehrlich in der Rationalisierung des Christentums ein Mittel der Propaganda sah; da er aber in diesem Sinne gelegentlich doch schon lehrte, das Christentum wäre so alt wie die Philosophie, das Evangelium hätte die heidnische Spekulation nur bestätigt, in der Hauptsache, in der Moral nämlich, träfen Heiden, Christen und Mohammedaner zusammen, mag er doch den Deisten vorgearbeitet haben, ebenso wie ihm die Religionsvergleichung Abälards vorgearbeitet hatte. Über Abälard war er dabei doch weit hinausgekommen, da ihm als Fortschritt der menschheitlichen Kultur doch nicht mehr die Religion allein vorschwebte, auch nicht ein dogmatisch gereinigtes Christentum, sondern schon, soweit ein Mönch einer solchen Weltanschauung fähig war, eine Umformung des menschlichen Denkens durch wissenschaftliche Beobachtung der Natur. Bei Thomas war von den beiden Wahrheiten die der Offenbarung unbedingt die höhere gewesen, die des Heils; bei Roger Bacon ist die Wahrheit der Vernunft nicht gerade die höhere, aber doch die der höher stehenden Minderheit.

 

Duns Scotus

Der Geschichte der Aufklärung erscheint Duns Scotus dem flackernden Geiste Roger Bacons gegenüber leicht als ein Rückschrittler; aber nur darum, weil sein Denken weniger naturwissenschaftlich gerichtet war, weil seine Schlußfolgerungen, antischolastisch in ihrem Erfolge, doch wieder scholastisch in der Methode waren. Roger, der Erfinder eines unvollkommenen Schießpulvers, ahnte die Möglichkeit einer neuen Waffe gegen die Scholastik, aber er schuf diese neue Waffe noch nicht; die Angriffe des Duns Scotus wurden wirksamer, weil er die alten logikalischen Waffen der Scholastik beibehielt, sie aber mit erstaunlicher Vorurteilslosigkeit anwandte. So haben Duns Scotus und sein Schüler Ockam, ohne auf den Formelkram der Scholastik zu verzichten, wirklich den Geist der Scholastik vernichtet. Sie haben sich auf bloße Negation beschränkt, werfen ihnen die ewigen Jasager vor; als ob nicht die Zerstörung von Zwingburgen von jeher eine verdienstvolle Tat gewesen wäre.

Duns Scotus war, auch wenn er sich in Kritik erschöpfte, obgleich er sich dogmatisch niemals gegen die Kirche auflehnte, eine kraftvollere Persönlichkeit als irgendein Scholastiker. Von seinem Leben weiß man wieder sehr wenig; er wurde in England (wahrscheinlich 1274) geboren, studierte und lehrte zu Oxford, steigerte seinen Ruhm zu Paris, wirkte endlich in Köln, wo er schon 1308 starb. Sein Orden war stolz auf den Doctor subtilis und hat seine gesammelten Werke herausgegeben. Ich habe schon einmal kurz bemerkt, daß die Scotisten womöglich noch dogmenlustiger waren als die Thomisten; Duns selber bestritt kein einziges Dogma der Kirche, aber durch seine Skepsis gegen die thomistische Beweisführung hat er einer undogmatischen Vernunftreligion mächtig vorgearbeitet, wer weiß, ob unfreiwillig. Er widerlegte mit logischem Scharfsinn nicht das Dasein Gottes, nicht die Unsterblichkeit der Seele, wohl aber die vernünftigen Beweise für diese Dogmen; er zerschnitt dadurch das Tischtuch zwischen der Theologie und der Philosophie. Wieder mußte die Lehre von der doppelten Wahrheit als Schild herhalten, hinter ihm die Rechte der Vernunft zu bergen. Fast noch kirchlicher als Roger erklärte Duns, die Philosophie oder Logik hätte in Glaubensdinge nicht hineinzureden; aber je deutlicher die Trennung wurde, desto kühner konnten Aufklärer den Satz umkehren und auch für die Philosophie Selbständigkeit verlangen. Für die Partei der Alten besagte die Lehre von der doppelten Wahrheit: um das Licht der Vernunft kümmern wir uns nicht; die Partei der Modernen sagte es noch nicht laut, dachte aber schon: um das Licht der Offenbarung, wenn es dem der Vernunft widerspricht, kümmern wir uns nicht mehr. Auf die Bedeutung, die die Kritik des Duns für das Wiederaufleben des Nominalismus, also für den gewaltigsten Umschwung im abendländischen Denken gewann, werde ich noch zurückkommen müssen.

 

Sprache

Die englischen Deisten und die französischen Enzyklopädisten waren Weltleute und schrieben für Weltleute, für die wachsende Zahl der Menschen aus dem wohlhabenden Mittelstande, die in ihrer Ablehnung der Kirche von gelehrten Schriftstellern nur noch bestärkt werden wollten; daher waren ihre Zweideutigkeiten in der Hauptsache nur zum Scheine vorhanden; sie wußten, ihre Leser verständen zwischen den Zeilen keckere Blasphemien zu finden, als buchstäblich ausgedrückt waren. Die Zweideutigkeiten des Duns Scotus nennt man Widersprüche, weil sie nicht so offensichtlich sind; er war ein Kleriker, schrieb nur für Kleriker und mußte sich auf Anfeindungen und Verfolgungen gefaßt machen. Und als Kleriker war er auch wohl gar nicht imstande, sich aus der Sprache oder dem Denken des Klerus zu lösen. Wer könnte da immer mit Sicherheit zwischen seiner wahren Neigung und einer halb unbewußten Anpassung unterscheiden. Intolerant gegen die Nichtchristen war er wohl von Herzen; das Gebot »zwinge sie einzutreten«, das erst Bayle mit ungebrochener Kraft bekämpfte, wollte Duns gegen die Juden angewendet wissen; wenn er aber die Araber, denen er doch viel verdankte, verfluchte Schweine nennt, andere Akatholiken Esel, wenn er gegen Aristoteles mitunter aufbegehrt und einmal ganz modern die Bildlichkeit des Zweckbegriffs behauptet, dann aber wieder sich demselben Aristoteles unterwirft, so wird man verführt, eher an eine Unehrlichkeit als an ein Schwanken seines wirklich starken Geistes zu glauben. An ein keckes Spiel mit seinen Gegnern denkt man wiederum, da er einmal das doppelsinnige Bekenntnis ablegt: er bekenne sich zum Evangelium nur, weil er sich (wie Erasmus) zur Kirche bekenne; da er den menschlichen Verstand zum Richter über Theologie und Metaphysik macht und dennoch schon weiß, daß dem Verstande nicht der Primat gebühre, daß der Verstand sich – wie wir sagen würden – an der Natur entwickelt habe. »Wie wir sagen würden.« Da liegt der Grund, weshalb wir niemals sicher sein können, ob Duns Scotus mit dem Sinne solcher Sätze über die Schranken seiner Zeit hinausgelangt sei. Vielleicht bewegte sich auch dieser scharfsinnigste Scholastiker mit seinen Zweifeln nur in einem engen Kreise herum. Vielleicht hatte er sich in gutem Glauben die Aufgabe gestellt, die übervernünftigen Dogmen dialektisch in die Vernunft hineinzubringen, und wenn die Vernunft darüber gesprengt werden müßte; vielleicht zog er selbst noch gar nicht den Schluß: was dem Lichte der Vernunft widerspricht oder was in die Vernunft nicht eingeht, das kann nicht die höhere Wahrheit sein; das Widervernünftige ist unvernünftig. Vielleicht war es sein Schicksal und zugleich seine Schuld oder sein Verdienst, wie siebenhundert Jahre später Schuld oder Verdienst von Hegel, daß er selbst die doppelte Wahrheit im Sinne der Kirche lehren wollte, daß aber die frei gewordene Zeit die doppelte Wahrheit im Sinne der Aufklärung verstand. Für den guten Glauben des Duns Scotus würde die ungeheure Arbeit sprechen, die ihn das Zurechtkneten der Sprache für seine Rationalisierung der Religion gekostet haben muß. Wir, die wir unter dem Dogma vom klassischen Altertum nur etwa das ciceronianische Latein für lateinisch gelten lassen, finden die Sprache des Duns (und auch die Ockams) barbarisch, tot; in Wahrheit war es der letzte Krampf der lateinischen Lebenskraft, und die lateinische Sprache starb erst, als die Humanisten die neuen Gedanken in klassischen Formen ausdrücken wollten. Der Vortrag von Thomas erscheint uns nur darum leichter, geschmackvoller, glatter, weil Thomas eigentlich nichts Neues zu sagen hatte; Duns Scotus und Ockam mußten ihre Sprache martern, wenn sie für das Neue gefügig gemacht werden sollte. Sprache und Denken sind eins. Im letzten Grunde wird es wohl darauf hinauslaufen, daß die tiefsten und scharfsinnigsten Scholastiker, eben Scotus und Ockam, in der Befreiung nicht weiter gelangen konnten, als ihnen die Kette der Sprache Bewegungsraum ließ; so wäre es kein Zufall, daß wirkliche Befreiung vom Dogma, daß ganze Aufklärung erst möglich wurde, als die Forscher in ihren Muttersprachen zu denken wagten.

Eine Legende über den Tod des Duns Scotus könnte symbolisch gedeutet werden. Er soll in einem Anfalle von Epilepsie oder von Schlafsucht lebendig begraben worden sein; man habe auf sein Geschrei im Grabe nicht gehört und so sei er in der grauenhaftesten Weise umgekommen; wie ein Geschrei aus dem Grabe tönte der nächsten Folgezeit die spitzfindige, dabei schwerfällige Dialektik des Duns Scotus, der nichts Widervernünftiges hatte glauben wollen; die sich nach ihm Scotisten nannten, verstanden ihn am wenigsten, aber ein neues Geschlecht verstand ihn. Die sich nach ihm nannten, hießen auch Formalisten und blieben Scholastiker; das neue Geschlecht folgte ihm darin nach, worin er schon ein Naturalist gewesen war. Nur in seiner mittelbaren Wirkung war er ein Aufklärer, unmittelbar wirkte er verwirrend; nicht umsonst nannten ihn manche Gegner, mit einer falschen Etymologie seines Namens (von σκοτος, Finsternis) den Dunkeln.

Der Dunkelheit des Duns muß es auch zugeschrieben werden, daß er in der entscheidenden Frage von der Philosophiegeschichte meines Erachtens falsch klassifiziert worden ist. Der Lehrer Ockams, der den Nominalismus zu neuem und dauerndem Leben weckte, wird unter die Wortrealisten eingereiht. Wie der ganze stramme Dogmenglaube läßt sich freilich auch der kirchliche Wortrealismus aus seinen Sätzen und Worten herausziehen; auch er scheint mit dem heiligen Thomas, dem Supranaturalisten, anzunehmen (was doch schon ein gemäßigter Wortrealismus ist): die Universalien oder Gattungsbegriffe seien vor den Dingen als göttliche Formen oder Ideen, in den Dingen als ihre Quidditäten, nach den Dingen als menschliche Begriffe. Aber Duns lehrt doch im Gegensatze zu Thomas einen gewissen Individualismus, nicht in unserem moralischen Sinne, erblickt also im Individuum die letzte oder die ganze Realität. Daß er dieses Individuum mit fürchterlicher Scholastik aus den » formae« konstruiert, daß er zu der Quiddität zum Zwecke der Individuation noch die Haecceität hinzutreten läßt (zum homo muß noch die Socratität: hinzukommen, um das Individuum Sokrates zu bilden), das scheint mir nur sein Ringen mit dem Ausdruck zu beweisen, nicht seine wortrealistische Rückständigkeit. Daß er den Primat des Willens vor dem Verstande behauptet, ist zwar bei ihm selbst kirchlich ganz unanfechtbar, kann aber leicht zu einer Herabsetzung der Logik führen. Zu bloßer Logik wurde aber auch – wie Duns schon wußte – alle Ontologie, wenn der Nominalismus im Rechte war. Duns vollzog freilich nicht eine Verbindung dieser beiden Gedankengänge; er sagte nicht: all unser Wissen ist nur Logik und Logik ist eine minderwertige Tätigkeit unserer Seele; aber Spuren einer solchen Einsicht finden sich häufig bei dem angeblichen Wortrealisten Duns Scotus.

 

Ockam

Mit besserer Genauigkeit, als Kant der Vollender und zugleich der Überwinder der Aufklärung genannt worden ist, kann man Ockam den Vollender und Überwinder der Scholastik nennen; schon früh sah man in ihm das Haupt oder doch den Erneuerer des Nominalismus, der damals noch prägnanter Terminismus genannt wurde. Terminus hat eine sehr krause Wortgeschichte. Lehnübersetzung von ὁρος kommt es in der Logik zu der Bedeutung: Begriff, begrenzter, definierter Begriff; der sogenannte Nominalismus war wirklich Terminismus, weil er es nicht mit den Worten der Gemeinsprache, sondern eigentlich mit den Begriffen der Logik zu tun hatte. Seine Zeit, die eine Neigung zu starren Bezeichnungen hatte, blieb nicht dabei stehen, von ihm als dem Doctor invincibilis zu reden; er hieß auch noch der Doctor singularis, der Inceptor venerabilis. Ockam hat die Scholastik formell – und darum für uns fast unerträglich – womöglich noch subtiler gesteigert als Duns Scotus, zugleich aber hat er den Subtilitäten durch Skepsis die Spitzen abgebrochen und hat so wirklich die Erneuerung des freien Denkens eingeleitet, das dann über ihn hinaus, aber unter seinem Einflusse, in England mächtig wurde. Es führt ein sichtbarer Weg von Ockam über Bacon von Verulam, Hobbes und Locke zu Herbert Spencer.

Ockam (gest. 1347) war Franziskaner, zu Oxford ein Schüler von Duns Scotus, in kirchlicher Hinsicht nicht einmal ein Ketzer. Ein Rebell gegen die Kurie nur als Politiker. Darum, weil er für Philipp den Schönen gegen den Papst Partei ergriffen hatte, wurde er nach Avignon geladen und dort gefangen gehalten. Er hatte in einer besonderen Schrift als ein Gesinnungsgenosse der sogenannten Spiritualen (der strengeren Franziskaner) die Autokratie der Päpste bekämpft; sie sollten in weltlichen Dingen dem Kaiser und jetzt auch schon den Königen der Nationalstaaten unterstellt sein, in geistlichen Dingen der gesamten Kirche. Ockam konnte aus Avignon zu Ludwig von Bayern nach München entfliehen, wo er gegen zwanzig Jahre auch als politischer Publizist tätig war und wahrscheinlich gestorben ist. Oft angeführt wurde der Satz, den er zum Kaiser Ludwig gesagt haben sollte: Tu me defendas gladio et ego te defendam calamo. Einem frommen Berichte, nach welchem Ockam erst 1350 zu Capua gestorben wäre, gottgefällig und in arger Reue wegen seiner politischen Schriften, ist kaum eine Bedeutung beizulegen.

Wenn man sich durch die schrecklich scholastische Form seiner Logik durchgewunden hat und für manche unfruchtbare Anstrengung doch wieder auch durch logische Feinheiten belohnt worden ist, entdeckt man am Ende, an welchem Punkte der berühmte Nominalist die bisherige Erkenntnistheorie (auch die des Scotus) entzweischlug. Er redet von den verschiedenen Seelenvermögen nicht viel anders als alle anderen Scholastiker; da plötzlich aber, wo er die Erfassung der sinnlichen Welt durch den Geist behandelt, stellt es sich heraus, was zunächst wie ein Nebenumstand erscheint, daß ihm die Begriffe nicht mehr geheimnisvolle Abbilder der Wirklichkeit sind, sondern bloße Zeichen, »unwillkürliche« Zeichen; er denkt bei diesen Begriffen offenbar doch noch unklar an vorsprachliche Erzeugnisse des Geistes; aber dann werden ihm die Begriffsworte (ein unbewußtes Entstehen der Sprache war seiner Zeit unvorstellbar) zu willkürlichen Zeichen jener geistigen Begriffe, also zu Zeichen von Zeichen. Was damit gewonnen wurde, das wird erst ganz deutlich, wenn man bei den früheren Scholastikern, und zumeist bei den gefeiertsten, unter der ewigen Verwechslung oder Vermischung von Ontologie und Logik gelitten hat; Aristoteles, der für den Begründer der Logik gilt, hatte diese Disziplin noch nicht völlig von einer primitiven Grammatik losgelöst, die christlichen Scholastiker hatten die Logik mit naturwissenschaftlichen Fragen überlastet, erst Ockam machte sie – durch Wiederbelebung des verketzerten Nominalismus – zur reinen Wissenschaft der Begriffe, der termini, zum Terminismus. Die Kategorien, die Prädikabilien, die den christlichen Aristotelikern zum Beweise übernatürlicher Wirklichkeiten dienten, wurden bei Ockam endlich zu bloßen Einteilungsgründen der Begriffe, zu Abstraktionen des Denkens. In der Wirklichkeit seien nur Einzeldinge, die Gemeinbegriffe oder Universalien nur im Denken. Dieser kritische, moderne Realismus – im Gegensatze zu dem scholastischen Wortrealismus – wird natürlich nicht in unserer Sprache vorgetragen; Ockam hält sich noch für verpflichtet, das Neue in alter Weise zu demonstrieren und zu deduzieren, es für die wahre Meinung des Aristoteles auszugeben und die abstrusesten Begriffe der Scholastik zu bemühen. Die Quiddität ist die Verbindung einer materia particularis und einer forma particularis. Trotzdem gelangt er auf scholastischen Umwegen zu einer Weltanschauung, die, in unsere Sprache übersetzt, dem Sensualismus und Empirismus sehr nahe käme: kein Übergang führt von der Erkenntnis der sinnlichen, allein wirklichen Dinge zu einer Erkenntnis der übersinnlichen Dinge; durch logische Beweise kann das Dasein Gottes nicht einmal wahrscheinlich gemacht werden; aber es ist verdienstlich – Ockam gibt den Grund nicht an –, das Unbewiesene dennoch zu glauben. Die Lehre von der doppelten Wahrheit gewinnt ihre entschiedenste, beinahe schon ironische Gestalt: wir haben die Sätze der Theologie ohne Grund zu glauben, obgleich sie uns aus Gründen der Philosophie unwahrscheinlich oder unwahr scheinen. Wir können nur selten wissen, ob innere Angst vor den letzten Geheimnissen oder äußere Todesangst den Terministen Ockam hinter solche Wortverstecke flüchten ließ; wir wissen nicht, ob es ein verzweifeltes Suchen nach dem unbewiesenen Gotte war oder ein wilder Hohn, wenn er einmal, um die Allmacht Gottes anschaulich zu machen, sagte: Gott hätte ebensogut die Natur eines Esels wie die eines Menschen annehmen können.

Nun ist aber nicht zu übersehen, daß Ockam erst recht ganz und gar Scholastiker war, daß er mit eigensinniger Einseitigkeit nur Begriffskritik übte, eben durch seinen Terminismus, daß er sich aber auf eine Kritik der Tradition, auf Bibel- oder Dogmenkritik gar nicht einließ. Als ob es vor ihm nicht schon Ansätze zu einer solchen historischen Kritik gegeben hätte, verbohrte er sich in begriffliche Haarspaltereien wie die anderen Gelehrten der Hochscholastik, nur daß er freilich dabei die Begriffe der Theologie zerfaserte; die Dogmatik der kirchlichen Autorität war ihm die andere Wahrheit, an die er nicht rührte.

 

Neuheit des Entwicklungsbegriffs

Eine Fragestellung, die in der Form des Historismus das Kennzeichen des 19. Jahrhunderts wurde, schien dem Mittelalter noch fremder geblieben zu sein als dem Altertum: wie ist die Welt geworden und wie ist unser Wissen von der Welt geworden? Wohlgemerkt: geworden. Gott hatte die Welt geschaffen, Gott hatte den Menschen die Offenbarung geschenkt. Die Schöpfung auf einmal, die Offenbarung auf einmal. An ein allmähliches Werden der Welt dachte eigentlich niemand. An ein Werden der Offenbarung konnte aber eher gedacht werden, weil forschende Gemüter durch die Tatsache der beiden so ungleichen Offenbarungen in Verlegenheit gebracht wurden. Wie war das mit den beiden Testamenten? Wie waren die drei monotheistischen Sekten entstanden?

Es wäre ein sträflicher Anachronismus, wollte man den Scholastikern eine Einsicht in den geschichtlichen Zusammenhang zumuten oder so etwas in sie hineinlesen. Wissenschaftliche Geschichte, soweit eine solche überhaupt möglich ist, konnte erst aufkommen, als man nicht mehr beim Herabfallen jedes Haares den Finger Gottes beteiligt sah, als man in jedem Geschehen eine natürliche Verkettung von Ursache und Wirkung voraussetzte; die ersten Geschichtschreiber in unserem Sinne waren Hume und Gibbon, darin Schüler des Aufklärers Voltaire und seines Lehrers Bolingbroke. Vollends Religionsgeschichte konnte im 13. Jahrhundert selbst als bloße Aufgabe nicht begriffen werden. Was wir bereits früher, bei Abälard, davon vorgefunden haben, ist bloße Religionsvergleichung ohne geschichtliches Verständnis. Aber wir sind in unserer Darstellung schon in der Zeit, in welcher das berüchtigte Wort von den drei Betrügern aufkam, der folgenreiche Irrtum, daß die drei Sekten von drei zielbewußten und mehr oder weniger übelwollenden Menschen erfunden worden wären; es ist also wünschenswert, vorher zu erfahren, wie sich die Scholastik das Verhältnis (nicht eigentlich die Entwicklung) der Religionsbücher vorstellte.

 

Wilhelm von Auvergne

Wilhelm von Auvergne würde, wäre er nicht in unserer Frage ein Vorläufer Lessings, in diesem Zusammenhange kaum eine Erwähnung verdient haben. Er mag seinerzeit ein hervorragender Gelehrter gewesen sein, ein Bahnbrecher war er keineswegs. Er wurde Bischof von Paris in den Jahren des Übergangs, als Aristoteles durch die Araber auch als Metaphysiker und als Naturforscher bekannt wurde und so der Kirche gefährlich zu werden schien; Wilhelm war vorsichtig genug, die Araber und den alten Aristoteles nur mit dem beneficium inventarii zu übernehmen, d. h. mit der schuldigen Anerkennung jedes Dogmas. Man hat ihm, der als einer der vielen Mitläufer zur Hochscholastik hinüberleitet, allerlei moderne Anschauungen nachgerühmt: er habe die menschliche Willensfreiheit gegenüber der Astrologie behauptet; er habe den Wahrheitsbegriff sehr fein oder sehr spitzfindig untersucht; er habe gar (weil er an einer merkwürdigen Stelle, die vielleicht nur arabisch-neuplatonisch ist, die Welt als die Gesamtheit aller Ideen, als mundus archetypus, dem Sohne Gottes gleichsetzte) schon eine Art Pantheismus gelehrt. Aber solche und ähnliche Anklänge an moderne Wortfolgen sind bei den späteren Scholastikern, die das mächtig angewachsene Gesamtwissen ihrer Zeit nach dem Ausdrucke ringend durcheinander arbeiteten, gar nicht so selten. Die Scholastiker haben weder so dumm, wie Arnold just bei Gelegenheit von Wilhelm von Auvergne sagt, »viel Traktate von theologischer Materie nach ihrer elenden Weise geschmieret«, noch haben sie so bewußt und klar, wie manche katholische und auch protestantische Philosophieprofessoren meinen, die theologischen Fragen philosophisch beantwortet.

 

Raymundus Lullus

Als Lessing 1780 (ein Jahr nach dem »Nathan«, ein Jahr vor Kants Vernunftkritik) seine »Erziehung des Menschengeschlechts« herausgab, schien er wieder einmal den Orthodoxen entgegenzukommen, da er mit dieser Schrift ausdrücklich dem Fragmentisten widersprach, der das ganze Alte Testament als geoffenbartes Wort Gottes verworfen; in Wahrheit stand Lessing wieder einmal ein Stockwerk höher als Reimarus und erblickte Entwicklung, wo der Aufklärer Reimarus Betrug gewittert hatte. Seit hundert Jahren ist es bekannt, daß Lessing sein Bild von der Erziehung auf den drei Altersstufen des Menschengeschlechts einem Kirchenvater oder vielleicht auch einem Scholastiker entlehnt hatte. Er konnte es unserem Wilhelm von Auvergne entlehnt haben. Der sagt wörtlich, das Volk Israel habe die Bibel wie ein Elementarbuch oder ein Abcbuch der Sitte empfangen; der Jude, der jetzt arabische Philosophie studiere, sei kein rechter Jude mehr. Erst auf einer späteren Stufe habe das jüdische Volk ohne Schaden erfahren dürfen, daß die Bücher Moses außer der Offenbarung auch menschliche Gedanken enthalten. Das Neue Testament bringe ebenso wie das Alte die Gesetze der Naturreligion, dazu als Komplement das neue Gesetz der Liebe. Von dem dritten Reiche Lessings ist selbstverständlich noch nicht die Rede; Wilhelm war ein zu stramm katholischer Bischof. Er erblickt im Islam einen Rückschritt des Monotheismus und sagt nicht, ob die künftige Weltreligion das gegenwärtige oder ein weiter entwickeltes Christentum sein werde. Aber schon bald nach Wilhelm findet sich ein Mann, Raymundus Lullus, der durch seine tollkühnen logischen Spielereien berühmter geworden ist als durch seinen Fanatismus für Ausbreitung des Christentums, der trotz seiner Zudringlichkeit nicht mehr auf dem »zwinge sie einzutreten« bestand, sondern wenigstens die Juden und Araber aufforderte, ihre Religion zu prüfen und ihre Gründe miteinander zu vergleichen. Das schien gut christlich, war aber doch wohl schon gefährlich, weil die Nutzanwendung auf die Christen nahelag. Wenn, wie doch schon ahnungsweise ausgesprochen worden war, die Grundlage aller positiven Religionen die gleiche deistische Naturreligion ist, dann mußte sich auch der Christ aufgefordert fühlen, die ausschließende Wahrheit seines Glaubens einer Probe zu unterwerfen. Wirklich sind aus dieser Zeit Nachrichten erhalten, daß auf einen Mohammedaner, der die Taufe annahm, zehn Christen kamen, die zum Islam übertraten; sogar von solchen Christen wird berichtet, die sich zum Judentum bekehrten.

Die Überraschung über solche Tatsachen wird gemindert, wenn man erfährt, welche Fortschritte die Religionsvergleichung seit Abälard gemacht hatte. Ungelehrte und gelehrte Gespräche über diesen Gegenstand scheinen in Paris zur Zeit Wilhelms Mode geworden zu sein. Die Zahl der Indifferentisten war gewachsen. Man lobte am Judentum, daß es irdisches Glück verheiße, am Islam sogar, daß er der Naturreligion am nächsten stehe. Wenn nun nach der astrologischen Wissenschaft die drei Konfessionen nebst allem Zubehör von den Konjunktionen der Planeten vorherbestimmt waren, dann war die eine Religion ebenso notwendig wie die andere, ebenso notwendig wie etwa die klimatischen Beschaffenheiten der verschiedenen Länder. Die Aufgeklärten konnten fragen, ob man sich gegen die ererbte Religion nicht eher auflehnen dürfte als gegen die Bodenbeschaffenheit seiner Heimat; dann hatten aber die Araber aus ihren Glauben das gleiche Recht wie die Christen auf den ihren. Eine solche Anschauung konnte von einem Systematiker wie Thomas als Fatalismus gedeutet werden, bei den Weltleuten war sie eine ganz neue Gleichgültigkeit gegen die ererbte Religion. Der Calvinismus existierte noch nicht, der sich lieblos mit dem grausamen Gotte abfand, welcher nach unerforschlicher Willkür die Mehrzahl der Menschen zu der ewigen Höllenpein verdammte; die Weltleute hatten die Araber als gleichwertige Menschen kennen gelernt und wollten an deren Verworfenheit nicht mehr glauben; auch leuchtete es den Weltleuten nicht mehr ein, daß das Auswendiglernen der Dogmen über Heil und Unheil im Jenseits entscheiden könne. Wilhelm von Auvergne selbst berichtet über eine aufgeklärte Partei, die über eine prüfende Vergleichung der Religionen schon hinausging, die beinahe mit Lessings Worten das Heil in jedem Glauben, in jedem Gesetze, in jeder Sekte erblickte, insofern der Anhänger nur keine Meinung für gut und gottgefällig halte.

 

Averroisten

Der philosophisch aufklärende Einfluß der Araber ist schon erwähnt worden, ebenso der moralisch oder menschlich aufklärende Einfluß des Verkehrs, der sich in den späteren Kreuzzügen zwischen Christenheit und Islam herausbildete; wie mächtig aber die schon kurz erwähnte Pariser Mode des Averroismus schon vor der Mitte des 13. Jahrhunderts auf das Abendland wirkte, wie dieser – ich möchte sagen – arabische Humanismus der Religionslosigkeit des späteren antiken Humanismus vorarbeitete, das ist noch nicht genügend dargestellt worden. Auch ich muß mich mit einigen Andeutungen begnügen, die ich wieder dem Buche Reuters entnehme.

Um das Jahr 1240 gab es an der theologischen Fakultät von Paris nicht geringe Aufregung, da die Orthodoxen und die Naturalisten (so wurden die Averroisten von einem Papste genannt) aneinander gerieten, neuerdings, denn seit mehr als zehn Jahren hatten die Kämpfe unter den Studenten nicht aufgehört. Was die Averroisten damals in Frankreich lehrten, war nicht mehr und nicht weniger als ein in scholastischen Wortkram eingehüllter Panpsychismus, der buchstäblich der Kirchenlehre nicht widersprach, der aber mindestens zu Ketzereien in der Psychologie führen konnte. Man suchte den Streit an der Universität zünftlerisch so zu schlichten, daß fortan der Theologe nur noch über theologische Dinge lesen durfte, der Philosoph nur über philosophische Dinge (fünfhundert Jahre später hat der Pietist Francke ein ähnliches Schweigegebot gegen den Aufklärer Thomasius durchgesetzt, Francke, der in Halle selbst keinen Lehrauftrag für Theologie hatte und dennoch theologische Vorlesungen hielt); die Lehre von der doppelten Wahrheit nahm die groteske Form an, daß die eine Wahrheit bei der einen Zunft war, die andere Wahrheit bei der anderen Zunft. Auch wenn es nun nicht ausdrücklich bezeugt wäre, würden wir erraten können, daß diese Einrichtung nur der aufklärerischen Neigung unter den Studenten zugute kommen konnte; die jungen Leute hatten wie immer ihre Freude am Neuen, erst recht, wenn es verboten war. Die averroistischen Philosophen scheinen sich sehr gut darauf verstanden zu haben, in ihren Kollegien auch Glaubensfragen zu besprechen, vielleicht etwa beispielmäßig oder durch Andeutungen; dazu gab es für die damalige Methode Gebiete genug, die der Theologie und der Philosophie gemeinsam waren. Noch nach Jahrzehnten mußten immer wieder neue Beschlüsse gefaßt werden, in denen den Philosophen untersagt wurde, über die Trinität oder die Inkarnation zu reden. Daß die Tendenz der Averroisten wirklich unchristlich war, ersehen wir mit Sicherheit aus einem Beschlusse von 1271, der ganz naiv verordnet: kein Pariser Professor dürfe über eine der Theologie und der Philosophie gemeinsame Frage disputieren, wenn er sie gegen den katholischen Glauben entscheiden wolle. Wie in unseren Tagen gegen die sogenannten Modernisten, so wurde im 13. Jahrhundert gegen die Pariser Averroisten der stärkste Gewissenszwang ausgeübt; sie mußten schwören, auch die jüngsten unter ihnen, sich dem Willen der Kirche zu unterwerfen. Es half nichts. Es half auch nichts, daß der Papst einen Index der verbotenen Lehrsätze aufstellen ließ. Über alle Fakultätskämpfe hinaus, hinaus über die beginnenden Katzbalgereien zwischen Dominikanern und Franziskanern, blieben die Averroisten bei ihrer allerdings unchristlichen Behauptung: die Philosophie sei die einzige Wissenschaft, sie habe alle Fragen ohne Ausnahme nach sachlichen Gründen zu entscheiden und lehre ewige Wahrheiten. Der heilige Thomas denunziert diese Philosophen einmal, daß sie von ihren Widersachern als den Katholiken geredet, sich selbst also nicht zu den Katholiken, d. h. Christen, gerechnet hätten. Die Denunziation war übel, aber ihr Inhalt war berechtigt. Ohne Zweifel hatten die Averroisten tatsächlich den Satz aufgestellt oder doch mit unterlaufen lassen, der sich mit der Redensart von der doppelten Wahrheit nicht mehr vertrug, der die theologische Unwahrheit der philosophischen Wahrheit entgegenstellte: quod sermones theologiae fundati sunt in fabulis, die theologische Sprache sei auf Fabeln gegründet. Und was Averroës selbst bezüglich des Islam nicht gewagt hätte, das wagten jetzt die französischen Averroisten: sie verallgemeinerten den Satz von den falschen Grundlagen der christlichen Theologie und entdeckten, daß alle Religionen unwahr wären. Dabei ist besonders zu beachten, daß wir nicht viele einzelne verwegene Denker als Vertreter dieser Aufklärung namhaft machen können, daß wir die kecksten Gedanken (die theologische Wissenschaft verschulde die Unwissenheit, die christliche Religion verhindere das Wissen) nur als die Meinungen der Modephilosophie in den rechtgläubigen Gegenschriften finden; gerade diese Anonymität der Aufklärung läßt auf weite Verbreitung schließen. Wir begegnen da schon (unter scholastischen Verklausulierungen) der ganz modernen Anschauung, daß die Gesichte der Ekstase natürlich, psychologisch zu erklären seien; daß die Bibel nicht minder als der Koran Sagen enthalte; daß eine positive Religion durch keine Zurückführung auf eine Naturreligion vernünftig gemacht werden könne.

 

Siger von Brabant

Um doch einen dieser christlichen Averroisten, die eher Aufklärer als Ketzer waren, anzuführen, nenne ich den früher falsch beurteilten, jetzt in seiner ganzen Gefährlichkeit deutlich erkannten Siger von Brabant. Er war im 13. Jahrhundert einer der angesehensten Lehrer der Pariser Artistenfakultät, wurde wegen seines Averroismus angeklagt und starb um 1280 in Italien, von seinem Sekretär ermordet, vielleicht nicht aus Fanatismus. Seine Hauptlehren, die sich nicht wesentlich von denen der anderen gleichzeitigen Freigeister unterscheiden, waren durchaus unchristlich, waren eigentlich nicht einmal mehr deistisch.

Eine erste Ursache oder Gott wird nicht geradezu geleugnet; da aber diese erste Ursache, die reine Intelligenz ist, nichts kennt außer sich selbst und sich darum um die vergänglichen Erdendinge nicht bekümmert, so ist von einer Vorsehung eines persönlichen und lebendigen Gottes nicht mehr die Rede. Der Grundgedanke aller monotheistischen Religionen ist aufgehoben.

Siger lehrt mit den Averroisten schärfer, als es Aristoteles getan hatte, die Ewigkeit der Welt und der Arten; es gibt also keine Weltschöpfung und keinen Weltuntergang.

Wie in der Vorstellung, daß Gott nichts außer sich selbst kenne, schon ein gewisser geistiger Pantheismus verborgen ist, so in der Annahme eines einzigen und einheitlichen Intellekts eine Leugnung der individuellen Menschenseelen. Eine noch unchristlichere Folgerung aus dieser Einheit eines universellen Intellekts war aber der Satz: die Weltseele (das Wort wird aber meines Wissens nicht gebraucht) geht nur eine lose Verbindung mit den Einzelmenschen ein, die Einzelseele stirbt mit ihrem Leibe.

Endlich leugnet Siger von Brabant mit den Averroisten die Freiheit des menschlichen Willens; wenn also der Tod der Einzelseele ein Weiterleben im Jenseits unmöglich macht, so würden jenseitige Belohnungen und Strafen für notwendig vollzogene Handlungen überdies das sittliche Gefühl verletzen.


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