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Fortsetzung 94

Er erzählte Müllern seine Unterredung mit dem Maler. Der erstgenannte hörte aufmerksam zu, betrachtete das Bild sehr genau und sagte dann:

»Dieser Aurelius Hieronymus Schneffke ist in Wirklichkeit ein psychologisch höchst interessanter Mensch. Er scheint eine Zusammensetzung von Klugheit und Dummheit, List und Vertrauensseligkeit zu sein. Was er Dir hier gesagt hat, das beweist, daß er noch weit mehr weiß. Aber wie er den Amerikaner zu dieser Angelegenheit in Beziehung bringen kann, das weiß ich nicht. Dieser Letztere aber ist nicht verreist. Ich werde nach ihm forschen.«

»In den Gewölben?«

»Auch das.«

»Soll ich helfen?«

»Ja. Ich will jetzt meine Erkundigungen weiter fortsetzen und erwarte Dich dann Punkt drei Uhr im Waldloche.«

Er ging und bald darauf verließ auch Fritz die Stadt, um die Nähe des Schlosses aufzusuchen.

Der Zufall war ihm außerordentlich günstig, denn als er vom alten Thurme her den Weg nach dem Park einschlug, kamen ihm – die beiden Schwestern entgegen.

Sie waren sehr erfreut, ihn zu sehen und luden ihn ein, sie auf dem Spaziergange zu begleiten. Es war ein schöner Tag und in Folge dessen auch der schmalste Fußweg leicht zu gehen. So vertieften sie sich in den Forst, bis die Damen müde wurden und den Vorschlag machten, im Moose auszuruhen. Während der Unterhaltung, welche nun geführt wurde, kam auch die Rede auf die Erlebnisse in Malineau, auf den alten Berteu und dessen Familie. Natürlich wurde auch dabei die verstorbene Mutter erwähnt.

»Ihren Papa also haben Sie gar nicht gekannt?« fragte Fritz, der froh war, das Gespräch auf dieses Thema gebracht zu wissen.

»Nein.«

»Sie wissen auch nicht, was er war?«

»Gar nichts wissen wir, außer einigen Unbedeutendheiten.«

»Da fällt mir ein: Sagten Sie nicht einmal, Mademoiselle Nanon, daß Ihr Papa die Mama gern Kolibri gerufen hätte?«

»Ja.«

»Eigenthümlich. Daran wurde ich gestern sehr lebhaft erinnert.«

»Wieso?«

»Ich suchte alte Briefe durch und fand dabei ein Blatt mit einem Studienkopf. Unter dem Letzteren befand sich die eigenthümliche Unterschrift: Mein süßer, lieber Kolibri.«

»Wirklich? Gewiß?« fragten die Schwestern.

»Ja.«

»Das ist allerdings höchst wunderbar. Wessen Porträt war es?«

»Es war kein Porträt, sondern ein Studienkopf!«

»Wenn man ihn doch einmal sehen könnte.«

»Das hat keine Schwierigkeiten. Aber es hat auch keinen Zweck. Es ist ja ein ganz fremder Kopf.«

»Aber die Unterschrift macht ihn so interessant!«

»Nun, wenn ich nicht irre, habe ich das Blatt bei mir.«

»Dann bitte, bitte! Dürfen wir es sehen?«

»Sehr gern!«

Er nahm die Brieftasche heraus, suchte eine Zeitlang darin und zog dann das Blatt hervor und gab es ihnen.

Er befand sich in außerordentlicher Spannung, welchen Eindruck es machen werde.

Er brauchte nicht lange zu warten. Kaum hatten die Schwestern einen Blick auf den Kopf geworfen, so fuhren sie auf.

»Die Mama!« rief Madelon.

»Ja, unsere Mama! O, mein Gott, das ist sie wirklich, die liebe, gute Mama!« rief auch Nanon.

Fritz stellte sich ganz verwundert und fragte:

»Wie? Ihre Mama soll das sein?«

»Ja, sie ist es.«

»Das ist jedenfalls eine Täuschung!«

»Nein, nein! Es ist gar kein Zweifel.«

»Erinnern Sie sich Ihrer Mutter denn noch so deutlich?«

»Ganz und gar! Wir waren nicht sehr alt, als sie starb, aber wir hatten Sie so sehr lieb, und wen man so lieb hat, den kann man nie vergessen.«

Und Madelon fügte hinzu:

»Selbst wenn wir uns irrten, denken Sie doch hier an diese Unterschrift! Wer könnte da noch zweifeln.«

»Wie aber kommt mein Freund zu diesem Bilde!«

»Von wem ist es?«

»Ein Freund von mir hat es gezeichnet, damals ein angehender Maler. Er schenkte es mir, weil ich mich an diesen Zügen nicht satt sehen konnte.«

»Ah, es hat Ihnen gefallen?«

»Sehr, o sehr!«

»Aber wie kann dieser Freund unsere Mama kennen? Ah, ich spreche ja wirklich wie ein Kind! Ich weiß ja gar nicht einmal, wo er gelebt hat. Vielleicht in dieser Gegend?«

»Nein, sondern in Deutschland. Ich glaube nicht, daß er jemals in diese Gegend gekommen ist.«

»Wo befindet er sich jetzt?«

»Auf einer Reise. Er schreibt mir, daß er bald heimkehren will und mich dabei besuchen werde.«

»So kennt er Ihren jetzigen Aufenthalt?«

»Ja.«

»Und hier, hier wird er sie besuchen?«

»Ja. Er steigt hier ab, um einen Tag bei mir zu bleiben.«

»O bitte, Monsieur, fragen Sie ihn doch nach diesem Bilde!«

»Ganz gewiß werde ich es thun.«

»Und – – aber nein, das wäre zu unbescheiden.«

»Was?«

»Das Bild unserer guten Mama! O, Monsieur!«

Es traf ihn dabei ein Blick aus ihren schönen Augen, welcher zu beredt war, als daß er ihn nicht hätte verstehen können. Er schüttelte den Kopf und antwortete:

»Es geht nicht, Mademoiselle Madelon. Ich würde gern Ja sagen, aber es geht wirklich nicht.«

»Warum nicht?«

»Weil – na, weil Sie zu Zweien sind.«

»Ist das wirklich ein Grund?«

»Gewiß. Zu Zweien können Sie es nicht besitzen, denn die Eine wohnt hier und die Andere in Berlin.«

»Sie sind nicht so gut, wie ich dachte!«

»Sie irren. Um Ihnen das zu beweisen, will ich an einen Ausweg denken. Soll ich?«

»Was meinen Sie?«

»Ich habe früher einmal ein Wenig gezeichnet – –«

»Ach so! Sie wollten – –?«

»Wenigstens versuchen.«

»Werden Sie es bringen?«

»Vielleicht. Dann kann Jede eins erhalten.«

»Sie Lieber, Guter!«

»Vorhin nannten Sie mich nicht so, Mademoiselle Madelon!«

»Verzeihen Sie! Ich bin überzeugt, daß Sie der Tochter nicht zürnen werden, daß sie das Bild ihrer verstorbenen Mutter zu besitzen wünscht.«

»Wie sollte ich zürnen!«

»Wann aber kommt Ihr Freund?«

»Wahrscheinlich sehr bald.«

»Das ist herrlich! Er wird uns sagen müssen, wer ihm zu diesem Kopfe gesessen hat. Er ist so characteristisch gehalten und so sauber gearbeitet, gerade – – ah, es wäre wohl lächerlich dies zu sagen.«

»Was?«

»Ich sah während der Bahnreise die Thierbilder eines Mitreisenden, des Thiermalers Schneffke. Dort waren es Thierköpfe und hier ist es ein Menschenkopf, aber dieser ist ganz in derselben Manier gehalten. Man möchte beinahe sagen, daß Schneffke auch diesen Kopf gezeichnet habe.«

Fritz wunderte sich über den Scharfblick der Dame. Er hatte seinen Zweck erreicht. Er hatte den Beweis, daß dieser Kopf wirklich derjenige sei, für welchen Schneffke ihn ausgegeben hatte. Nun brannte er darauf, mit dem Amerikaner zusammenzutreffen.

Er begleitete die beiden Schwestern bis in die Nähe des Schlosses zurück und begab sich dann nach dem Waldloche, wo er sich zunächst überzeugte, daß er nicht beobachtet werde. Zur angegebenen Zeit stellte sich Müller ein.

»Sind wir hier sicher?« fragte er.

»Es ist Niemand in der Nähe.«

»So wollen wir den Eingang öffnen.«

»Der Amerikaner ist also wirklich verschwunden?«

»Ja. Wir müssen sehen, ob er hier vielleicht in eine Falle gerathen ist.«

»Dann können wir auch gleich nach einem Zweiten sehen, Herr Doctor.«

»Was meinst Du?«

»Sie sprachen unlängst von einem Keller des Mittelpunktes, wenn ich mich nicht irre?«

»Ja. Ich vermuthete meinen Vater dort.«

»Wir fanden diesen Keller aber nicht. Heute während der Nacht nun ist mir ein Gedanke gekommen – –«

»Den ich errathe. Es wird ganz der meinige sein. Du hast an Schneffke gedacht?«

»Ja.«

»Er befand sich in einem Locale, in welchem wir noch nicht gewesen waren.«

»Und dieses Local lag nicht weit vom Mittelpunkte.«

»Richtig! Und aus dem Raume, in welchem der Maler steckte, führte eine Thür weiter.«

»Wohin mag sie gehen?«

»Wir werden es heute sehen. Gestern Abend gab es keine Zeit zu dieser Untersuchung.«

»Waren Sie noch im Steinbruche?«

»Ja. Es war eigentlich nicht nothwendig. Ich habe nichts Neues gehört. Aber meine Vermuthung über die Richtung des Ganges hat sich bestätigt. Dieser Letztere ist nur an seinem Ausgange in den Steinbruch zugeschüttet. Räumt man den Schutt hinweg, so steht der Eintritt offen. Jetzt aber komm. Wir wollen beginnen.«

»Aber der Alte?«

»Ich fürchte ihn nicht.«

»Das weiß ich. Besser aber ist es doch auf alle Fälle, daß er uns nicht überrascht. Wie mag er sich das Verschwinden des Malers erklären?«

»Lassen wir ihm dies selbst über. Komm!«

Sie zogen den Stein hinweg, krochen in die Oeffnung und schlossen diese dann von innen. Auf dieselbe Weise gelangten sie dann auch in den Gang. Dort angekommen, brannte Müller seine Laterne an.

Nun suchten sie das Gewölbe auf, in welchem gestern Herr Hieronymus Aurelius Schneffke gesteckt hatte. Alle Thüren, welche sie öffneten, verschlossen sie hinter sich wieder.

An Ort und Stelle angekommen, schloß Müller die zweite Thüre auf, welche er gestern bemerkt hatte. Diese führte in eine runde Halle, welche vollständig leer war und keine andere, zweite Thüre besaß. Aber gerade in der Mitte ging ein ungefähr sechs Fuß im Durchmesser haltendes Loch in die Tiefe hinab.

»Was mag das sein?« fragte Müller.

»Ein Brunnen vielleicht.«

»Möglich. Aber man erkennt keine Spur irgend einer Vorrichtung, wie sie bei Brunnen gewöhnlich sind. Dieses Loch kommt mir verdächtig vor.«

»Ob es tief sein mag?«

»Wollen sehen.«

Er suchte nach einem Steine, um ihn hinabzuwerfen, doch war nicht das kleinste Steinchen zu sehen.

»Ich habe Siegellack einstecken,« bemerkte Fritz.

»Schön. Brich ein Stück davon ab.«

Sie ließen das Stückchen hinabfallen und horchten. Es dauerte mehrere Secunden, ehe sie einen leisen Ton vernahmen. Der Brunnen war ungewöhnlich tief.

»Hast Du den Schall richtig gehört?« fragte Müller.

»So ziemlich.«

»Klang es nach Wasser?«

»Ja. Auf festen Grund ist das Siegellack nicht gefallen.«

»Das denke ich auch. Wollen eine zweite Probe machen.«

Er nahm die sämmtlichen Streichhölzchen, welche er bei sich trug, brannte sie an und warf sie hinab. Die schwefelige Flamme sank ziemlich schnell zur Tiefe und verlöschte unten so schnell, daß mit Gewißheit auf Wasser zu schließen war.

»So ist es also vergebens,« sagte Müller. »Es ist ein Brunnen, weiter nichts, kein Schacht, wie ich erst dachte. Wir wollen aber nichts unversucht lassen und noch an die Wände klopfen.«

Auch das führte zu Nichts. Die Mauern waren rundrum massiv, natürlich mit Ausnahme der Thür, durch welche sie Beide gekommen waren.

»Also wieder hinaus! Suchen wir nun den Amerikaner!«

»Aber wo? Diese unterirdischen Gänge sind so ausgedehnt, daß man tagelang vergebens suchen kann.«

»Ich habe eine Vermuthung. Da vorn, wo wir den Alten mit Rallion belauschten, scheint der Gefängnißraum zu sein. Wollen zuerst dort nachsuchen.«

Sie bogen von diesem jetzigen Gange nach links ab, welcher in der Richtung nach dem Schlosse führte. Sie erreichten die wohlbekannte Thür und den Keller, in welchem die Kisten standen. Hier blieben sie zunächst stehen, um zu lauschen. Es war nichts zu hören. Dennoch aber begaben sie sich nach dem Hintergrunde, wo Müller an die Thür klopfte.

»Ist Jemand da drin?« fragte er.

Keine Antwort.

»Steckt Jemand hinter dieser Thür?« wiederholte er.

Da war es, als ob ein Räuspern zu vernehmen sei.

»Warum wird nicht geantwortet?«

Abermals dasselbe Räuspern, aber keine Antwort.

»Es steckt Jemand drinnen, unbedingt,« sagte Fritz. »Aber warum antwortet man nicht?«

»Werden es gleich erfahren.«

Müller schob die Riegel zurück und öffnete. Er ließ den Schein der kleinen Laterne auf den Boden fallen, wo eine Gestalt zusammengekrümmt lag.

»Warum antworten Sie nicht?« fragte er.

Beim Klange dieser Stimme sprang der Bewohner dieses Loches blitzesschnell empor.

»Höre ich recht?« fragte er. »Sie, Herr Doctor?«

»Ja.«

»Ich dachte, der Capitän sei es; darum antwortete ich nicht.«

»Ach so! Aber, Master Deep-hill, wie kommen Sie in diese schauderhafte Lage?«

»Der alte Teufel hat mich in die Falle gelockt. Wie aber kommen Sie hinter seine Schliche und dann hierher, um mir zu öffnen?«

»Davon nachher! Jetzt kommen Sie zunächst heraus! So! Schieben wir die Riegel wieder vor. Setzen Sie sich auf diese Kiste, und erzählen Sie uns, wie es der Alte angefangen hat, Sie herabzulocken!«

»Zunächst die Frage: Kennen Sie diese Räumlichkeiten alle?«

»Ja.«

»Und auch den Zweck, zu welchem sie gebraucht werden?«

»Sehr genau.«

»Gut, so werde ich keine Sünde begehen, wenn ich davon spreche.«

Er erzählte nun, wie er gestern dem Alten im Walde begegnet sei und was darauf Alles geschehen war. Als er zu Ende war, fragte er dann:

»Welchem Umstande habe ich nun aber diese so unerwartete Befreiung zu verdanken?«

Müller klärte ihn darüber auf und erkundigte sich dann angelegentlichst:

»Was werden Sie nun thun, Master?«

»Ich gehe natürlich direct von hier aus zum Staatsprocurator, um diesen Satan in Ketten schlagen zu lassen!«

»Vielleicht thun Sie das doch nicht.«

»Nicht?« stieß der Amerikaner hervor. »Halten Sie mich für wahnsinnig? Soll ich so einem Teufel etwa noch gar eine öffentliche Belobung zu Theil werden lassen?«

»Das nicht. Aber ich werde Sie bitten, die Anzeige aus Rücksicht auf mich zu unterlassen.«

»Jede Bitte will ich Ihnen erfüllen, jede, jede, aber nur diese eine nicht! Er hätte mich verschmachten lassen, und ich wäre auch wirklich verschmachtet, denn selbst die Qualen einer Hölle hätten mich nicht zwingen können, ihn in den Besitz der verlangten Summe zu bringen.«

»So werde ich Ihnen die Gründe mittheilen, welche mich zu meiner Bitte bewegen. Diese werden Sie wenigstens anhören.«

»Das kann ich Ihnen nicht versagen.«

»Ich danke! Sie ahnen nicht, was ich in diesem Augenblicke wage, Monsieur. Ich spiele va banque, aber ich weiß, daß Sie ein Ehrenmann sind, der mein Vertrauen nicht zu mißbrauchen vermag. Sie sind ein Franzose und lieben Ihr Volk und Ihr Vaterland?«

»Ich liebe mein Vaterland; aber die Erfahrungen, welche ich gegenwärtig mache, sind nicht geeignet, mich an meine Landsleute zu ketten.«

»Sie haben gesagt, daß Sie die Deutschen hassen?«

»Zu wem?«

»Zu diesem da.«

Er ließ den Lichtschein auf Fritzens Gesicht fallen.

»Ah, der Pflanzensammler!« sagte der Amerikaner erstaunt. »Sie, Sie kommen, mich zu befreien?«

»Warum soll er das nicht? Er wird noch mehr für Sie thun, wie Sie bald erfahren werden. Lernen Sie erst die Deutschen kennen. Auch ich bin einer.«

»Auch Sie?« fragte Deep-hill, indem er einen Schritt zurücktrat. »Wirklich, auch Sie?«

»Ja. Sie verzeihen, daß ich Ihnen das nicht früher sagte! Die Umstände gestatteten das nicht.«

»Aber, mein Gott, diese Dame, Miß Harriet de Lissa?«

»Ist meine Schwester.«

»Also auch eine Deutsche?«

»Ja.«

»Was höre ich da! Das ist ja – – ah!«

Er holte tief, tief Athem. Wäre es heller gewesen, hätte man sehen können, daß beinahe Todesblässe sein Angesicht bedeckte. Müller legte ihm beruhigend die Hand auf die Achsel und sagte:

»Bitte, urtheilen Sie nicht jetzt, sondern nachher! Fritz, gehe vor an die Thür und passe auf, daß wir nicht überrascht werden. Hörst Du Schritte, so kommst Du sofort zurück!«

»Ein Deutscher! Sie ein Deutscher!« wiederholte Deep-hill. »Und das sagen Sie mir hier, hier an diesem Orte, an welchem Ihre Feinde den Tod, welcher Ihr Volk treffen soll, in solcher Ausdehnung vorbereiten! Wenn das der alte Capitän wüßte!«

»Nur Gott lenkt die Geschicke der Völker; den Capitän fürchten wir nicht. Bitte, setzen Sie sich mir gegenüber, und hören Sie mir zu!«

Der Amerikaner setzte sich und Müller begann mit halblauter Stimme zu erzählen von seinem Großvater Hugo und seiner Großmutter Margot. Er erzählte weiter und weiter, Alles was seine Familie erlitten und erduldet hatte. Er nannte den Namen Königsau nicht, aber den Namen des Capitäns nannte er.

Deep-hill hörte wortlos zu und selbst als die Erzählung zu Ende war, schwieg er noch eine ganze Weile; dann sagte er leise vor sich hin:

»Schrecklich! Kann es wirklich solche Menschen geben?«

»Gewiß! Sie haben das ja selbst an sich erfahren.«

»Ich?«

»Ja. Hat man nicht ein heißgeliebtes Weib und zwei herzige Kinder von Ihrer Brust gerissen? Der das that, war ein Franzose, Ihr eigener Vater, und Ihr Weib, welches mit allen Lebensfasern an Ihnen hing, war eine Deutsche.«

»Sie irren! Sie liebte mich nicht; sie war mir nicht treu. Sie verließ mich schamlos eines Buhlen wegen!«

»Das ist Lüge!«

»Das denken Sie, aber beweisen können Sie es nicht. Warum hat sie sich nicht von mir finden lassen? Ich habe sie gesucht an allen Orten, bis auf den heutigen Tag. Wo ist sie? Wo sind meine Kinder? Sie ist es selbst gewesen, die sich mir geraubt hat, sich und meine Kinder. Mein ganzes Vermögen würde ich opfern, um nur meine Kinder zu sehen! Wo sind sie, wo?«

»Halten Sie Ihr Weib wirklich dessen fähig, sie, die Sie einst nicht anders nannten als » mon doux et aimé becquefleur«?«

Da fuhr Deep-hill von seinem Sitze auf und fragte:

»Herr, woher wissen Sie das?«

»Warten Sie einen Augenblick!«

Er holte den von Schneffke gemalten Frauenkopf und gab das Blatt dem Amerikaner.

»Lesen Sie und sehen Sie!« sagte er, indem er das Licht der Laterne auf die Zeichnung fallen ließ.

Der Blick des Amerikaners fiel auch darauf. Seine Hände begannen zu zittern; ein tiefer, tiefer Athemzug hob seine Brust, ganz als ob seine Lunge zerspringen wolle.

»Amély, Amély!« sagte er dann. »Ja, es ist Amély, mein Kolibri! O Gott, o Gott!«

Er ließ das Blatt aus den Händen fallen und brach selbst beinahe in sich zusammen. Er vermochte nicht, ein plötzliches, gewaltig hervorbrechendes Schluchzen zu unterdrücken.

Müller verhielt sich ruhig. Endlich raffte Deep-hill das Blatt wieder auf und fragte:

»Lebt sie noch?«

»Nein; aber sie hat ihre Rechtfertigung hinterlassen!«

»Haben Sie sie gekannt?«

»Nein. Nur der Zufall hat mir dieses Blatt in die Hand gegeben. Das und das Weitere werden Sie dort von meinem Diener erfahren.«

»Ihr Diener? Ah! Sie selbst sind der Sohn jener Familie, von welcher Sie erzählten?«

»Ja, Sie rathen richtig.«

»Und Sie sind gekommen, sich an dem Capitän zu rächen?«

»Nein. Ich überlasse Gott die Rache; aber ich thue meine Pflicht. Werden Sie mir vielleicht dabei Hindernisse bereiten, Monsieur Guston de Bas-Montagne?«

»Wie? Sie kennen meinen Namen?«

»Natürlich, da ich nicht nur das Bild Ihrer Frau besitze, sondern auch – – sind Sie stark genug, es zu hören?«

»Was?«

»Ihre Kinder – –«

»Meine Kinder? Gott, o Gott! Sagen Sie, sagen Sie, leben Sie noch?«

»Ja.«

»Wo, wo? Schnell, schnell!«

»Wenn Sie es wünschen, können Sie sie heute noch sehen.«

»Natürlich, natürlich wünsche ich es! Mein Gott! Meine Kinder am Leben! Ich soll sie sehen! Welch eine Seligkeit! Sagen Sie, Herr Doctor, wo befinden sie sich denn?«

»Hm!« lächelte Müller. »Sie haben sie vielleicht bereits gesehen, eine der Schwestern aber ganz gewiß.«

»Wo? Wo denn?«

»Hier in der Nähe. Jedenfalls können Sie sich auf ihre Frau Gemahlin besinnen?«

»Sehr gut, sehr gut! Sie steht noch ganz lebensvoll in meinem Gedächtnisse.«

»Auch ihre Züge?«

»Ja, ja. O, dieses liebe, milde, zarte, freundliche Angesicht habe ich doch nicht vergessen können!«

»Nun gut! Ist Ihnen hier nicht vielleicht eine Dame begegnet, welche Ihrer verstorbenen Frau ähnlich ist?«

»Doch, o doch! Ich war ganz frappirt über die Aehnlichkeit.«

»Wer war es?«

»Fräulein Nanon. Ich wiederhole, daß ich beim Anblicke dieser jungen Dame fast bestürzt war; aber – –«

»Was aber?«

»Ich erkundigte mich nach ihrem Namen. Er lautete Charbonnier. Die Aehnlichkeit mußte also eine ganz zufällige sein.«

»Haben Sie sich auch nach ihren Familienverhältnissen erkundigt, Herr Deep-hill?«

»Ja. Sie ist eine Waise.«

»Aus?«

»Aus Schloß Malineau in der Gegend von Etain.«

»Aber Sie erfuhren doch auch, daß sie eine Schwester hat?«

»Ja. Ich bin mit dieser Schwester gefahren. Sie befand sich mit Ihrer Fräulein Schwester im Coupee.«

»Und die Züge von Fräulein Madelon sind Ihnen nicht aufgefallen? Die beiden Schwestern sehen sich ja außerordentlich ähnlich.«

»Madelon trug im Coupee Halbschleier.«

»Aber auffallen muß Ihnen doch wenigstens jetzt nun, daß es zwei Schwestern giebt, welche Waisen sind, ihren Vater nicht gekannt haben und eine so große Aehnlichkeit mit Ihrer Frau besitzen!«

»Allerdings. Aber – wollen Sie etwa sagen, daß Nanon und Madelon meine Kinder sind?«

»Ja, sie sind es.«

»Mein Gott! Wirklich?«

»Es ist gar kein Zweifel möglich!«

»Aber wie wollen Sie das beweisen? Die bloße Aehnlichkeit ist noch kein Beweis.«

»Das ist wahr. Aber dort mein Diener wird im Stande sein, Ihnen weitere Aufklärungen zu geben.«

»So kommen Sie, schnell, schnell! Wir gehen sofort nach Schloß Ortry, wo ich die Kinder treffen werde.«

Es war eine leicht zu erklärende Eilfertigkeit über ihn gekommen. Er wendete sich, um schnell zu gehen; Müller aber hielt ihn zurück und sagte:

»Halt, nicht so rasch! Denken Sie wirklich daran, jetzt nach Ortry zu gehen?«

»Gewiß! Natürlich!«

»Und der alte Capitän?«

»Was frage ich jetzt nach ihm!«

»Was Sie betrifft, so ist es freilich begreiflich, daß Sie jetzt an nichts Anderes denken, als Ihre Kinder zu finden; aber ich bitte dringend, auch auf mich Rücksicht zu nehmen.«

»Wieso?«

»Ich möchte ein Zusammentreffen zwischen Ihnen und dem Capitän jetzt noch vermeiden.«

»Warum?«

»Aus naheliegenden Gründen, welche mir ganz außerordentlich wichtig sind, obgleich wir sie jetzt nicht zu erörtern brauchen. Mir ist jetzt das Allerwichtigste die Frage, wie Sie sich in Bezug auf den Capitän zu verhalten gedenken.«

»Wegen der Anzeige?«

»Ja.«

»Nun, angezeigt wird er. Seine Strafe muß er leiden. Ich lasse mich nicht zum Zwecke der Beraubung von ihm einsperren.«

»Wenn ich Sie nun ersuche, von dieser Anzeige jetzt noch abzustehen?«

»Aus welchem Grunde aber?«

»Ich habe Ihnen bereits eine Andeutung gegeben. Es sind in diesen unterirdischen Gewölben noch Menschen eingesperrt, welche ihre Lebensbedürfnisse nur durch den Capitän erhalten. Wenn er arretirt wird und nichts von ihnen gesteht, müssen sie elend verkommen und verschmachten.«

»So muß man ihn zum Geständniß bringen!«

»Wodurch?«

»Durch Zwang.«

»Welchen Zwang meinen Sie? Die Zeiten der Tortur sind glücklicher Weise vorüber.«

»So muß man, sobald man ihn eingesperrt hat, nach diesen Unglücklichen schleunigst suchen!«

»Meinen Sie, daß man sie finden wird, ehe sie verschmachtet, verhungert und verdurstet sind?«

»Halten Sie dieses Nachforschen für so schwer?«

»Gewiß. Bedenken Sie, daß sich jedenfalls auch mein Vater unter ihnen befindet!«

»Dann möchte ich allerdings Ihren Wunsch berücksichtigen.«

»Und noch Eins, was ich Ihnen als Ehrenmann ja wohl nicht zu verheimlichen brauche: Es giebt noch gewisse andere Gründe, welche es mir wünschenswerth erscheinen lassen, daß der Alte jetzt noch frei bleibt.«

»Politische?«

»Auch mit.«

»Hm! Ich verstehe und werde Sie natürlich nicht verrathen. Zeige ich den Capitän an, so müssen Sie als Zeuge dienen. Er aber soll jetzt noch nicht wissen, daß Sie sein Feind sind.«

»So ist es, Herr Deep-hill. Also – – –?«

»Gut! Ich stehe jetzt noch von einer Anzeige ab. Aber nach Ortry muß ich dennoch, um meine Töchter zu sehen!«

»Das ist nicht nothwendig. Fritz Schneeberg mag Sie zu meiner Schwester führen, welche sich wegen Ihres Verschwindens bereits in großer Besorgniß befand.«

»Wirklich?« fragte der Amerikaner rasch.

»Ja. Ich ging zu ihr, um mich zu erkundigen, ob Sie vielleicht bei ihr gewesen seien. Ihr Erscheinen wird sie beruhigen. Dann führe ich Ihnen Ihre Töchter zu.«

»Werden sie von Ortry fort können?«

»Wer will sie halten?«

»Der Alte!«

»O, der ahnt ja nichts. Also gehen wir! Vorher aber wollen wir dafür sorgen, daß hier keine Spur meiner Anwesenheit zu finden ist.«

»Thun Sie das! Vorher aber noch Eins, mein bester Herr Doctor! Sie haben mir nicht nur die Freiheit wiedergegeben, sondern Sie haben mir sogar das Leben gerettet. Ich hätte die Sonne nie wieder gesehen. Sie können versichert sein, daß ich Ihnen das nicht vergessen werde. Ich bleibe Ihr Schuldner für die ganze Lebenszeit. Verfügen Sie über mich ganz nach Ihrem Belieben!«

Müller warf ihm einen ernsten, forschenden Blick zu und fragte dann sehr langsam und mit Nachdruck:

»Wirklich nach Belieben?«

»Ja.«

»Wissen Sie, was das heißt? Haben Sie auch an die Tragweite dieses Wortes gedacht?«

»Gewiß!«

»Nun, was mich betrifft, das heißt, meine Person, so haben Sie allerdings nicht die geringste Verbindlichkeit. Ich adressire Ihre Dankbarkeit dort an Den, den ich jetzt meinen Diener nenne, und an noch Einen, den Sie wohl noch kennen lernen werden. Dennoch aber sehe ich voraus, daß ich gezwungen sein werde, Sie mit Bitten zu belästigen. Werden Sie diese berücksichtigen, so sind Sie nicht mein Schuldner, sondern ich bin der Ihrige.«

»Bitten, welche mit Ihrer vermuthlichen Mission hier in Beziehung stehen?«

»Ja.«

»Ich werde sie erfüllen.«

»Aber Sie sind Franzose!«

»Und Sie sind Deutscher. Ich haßte die Deutschen. Ich kam, um das Meinige zu ihrem Nachtheile beizutragen. Aber ich denke jetzt bereits ganz anders, Herr Doctor. Betrachten Sie mich immerhin als Ihren Schuldner! Und nicht nur als das, sondern auch als Ihren Freund. Sie können versichert sein, daß ich nichts thun werde, was Ihnen bei der Erfüllung Ihrer Pflichten hinderlich sein könnte.«

»Ich danke Ihnen! Ich halte Sie für einen Ehrenmann, fühle mich aber dennoch durch Ihre Versicherung doppelt beruhigt, wie ich Ihnen aufrichtig gestehe.«

»Und noch Eins, Herr Doctor. Wer ist dieser Zweite, von dem Sie vorhin sprachen?«

»Dem Sie Dank schulden?«

»Ja.«

»Ein Maler, welcher sich jetzt in der Gegend von Thionville befindet.«

Das fiel dem Amerikaner auf. Er fragte:

»Er ist also nicht von hier?«

»Nein.«

»Wohl ein kleiner, dicker Kerl?«

»Ja.«

»Mit Calabreserhut und goldener Brille?«

»Allerdings.«

»Ah, den kenne ich, wenn Sie nämlich diesen sogenannten Hieronymus Aurelius Schneffke meinen.«

»Den meine ich allerdings.«

»Ihm bin ich Dank schuldig?«

»Ja, sogar sehr großen, wie Sie jedenfalls recht bald erfahren werden.«

»Oh weh!«

»Was?«

»Ich bin mit ihm zusammengerathen.«

»Weshalb?«

»Einer Kleinigkeit wegen. Mein verteufeltes Temperament! Ich bin nämlich ungemein hitzig, Herr Doctor!«

»Das läßt sich bei einiger Mühe und Aufmerksamkeit wohl ändern. Doch kommen Sie jetzt! Dieser Ort ist nicht zum Verweilen einladend. Und was wir noch zu besprechen haben, dazu wird ja später Zeit.«

Sie gingen. Draußen im Freien angekommen, gab Müller Fritz den Befehl, in der Stadt sofort nach dem Maler zu suchen und ihn zum Apotheker zu führen. Dann trennten sie sich.

Müller wendete sich der Richtung des Schlosses zu. Da er auf den gebahnten Pfaden einen Umweg gemacht hätte, so drang er in gerader Richtung mitten durch den Wald. Er war noch gar nicht weit gekommen, so blieb er stehen.

»Was war das?« dachte er, indem er lauschte.

Es war ein eigenthümlicher Ton, welcher sich jetzt wieder hören ließ, an sein Ohr gedrungen.

»Was mag das sein? Die Stimme eines Thieres? Das ist ein Brummen oder Blöcken, wie ich es noch gar nicht gehört habe – so dumpf, verworren und tief!«

Er horchte weiter. Der Ton ließ sich zum dritten Male vernehmen.

»Dieser Laut läßt sich nicht unter die Thierstimmen registriren. Das ist keineswegs etwas Gewöhnliches. Wollen einmal sehen!«

Er ging dem Schalle nach und blieb von Zeit zu Zeit stehen, um zu horchen.

»Wahrhaftig, das ist ein Mensch! Er ruft in zwei Sprachen, deutsch und französisch, wie aus der Erde heraus.«

»Holla!« rief er laut. »Wer ist hier?«

»Vorwärts, vorwärts!« klang es als Antwort.

»Wohin denn?«

»Zu mir!«

»Ja, wo sind Sie denn?«

»Donnerwetter! Im Loche!«

»Und wo ist das Loch?«

»Sehen Sie es denn nicht?«

»Nein.«

»Mohrenelement! Es ist tief genug. Sie müssen doch an meiner Stimme hören, wo ich stecke.«

»Jedenfalls in der Erde. Aber gerade deshalb täuscht der Schall. Rufen Sie noch einmal, aber lauter.«

»Me voilâ – ici, ici! Hier, hier!« brüllte es.

»Schön! Jetzt wirds deutlicher. Rufen Sie weiter.«

Er ging langsam, um sich nicht zu täuschen, dem Schalle nach, schien sich aber doch von dem Orte, den er suchte, zu entfernen.

»Lauter!« befahl er.

»Hier! Hier! Oder soll ich etwa singen?«

»Ja, singen Sie!« lachte Müller.

»Schön!« klang es ihm dumpf und hohl entgegen.

Aber dann erscholl es, wie aus einem Grabe heraus, aber bei jedem Schritte, den er that, deutlicher:

»Mein Lieb ist eine Alpnerin,
   Gebürtig aus Tyrol.
Sie trägt, wenn ich nicht irrig bin,
   Ein stattlich Camisol!«

»Halt! Aufhören!« gebot Müller. »Ich bin da!«

»Gott sei Dank!« antwortete es.

Müller stand nämlich vor einer grünen, dichtmoosigen Stelle, in deren Mitte ein kleines Loch zu sehen war. Dieses Letztere hatte kaum den Durchmesser einer halben Elle. War hier wirklich ein Mann hinabgestürzt? In diesem Falle mußte die eigentliche Oeffnung weiter sein und wurde von dem elastischen Moose trügerisch versteckt. Darum ging er nicht weiter, sondern er blieb in vorsichtiger Entfernung vor dem Loche halten.

»Sind Sie hier hinab?« fragte er.

»Ja.«

»Das ist doch kaum möglich!«

»Warum?«

»Ihrer Stimme nach sind Sie kein Kind, und für einen Mann ist das Loch zu klein.«

»Nein, ein Kind bin ich nicht, und dick bin ich auch genug, für zwei Männer. Aber dennoch bin ich hier herab.«

»Gestürzt?«

»Gestiegen nicht, Sie Esel!«

»Aha! Ist es tief?«

»Freilich!«

»Wie tief denn?«

»Na, ich kann mich täuschen. Hier unten ist es finster, und wenn ich emporblicke, sehe ich des Mooses halber auch nur einen halbdustern Fleck. Dreimal Mannestiefe wird es wohl betragen.«

»Sind Sie aus Versehen hinab?«

»Aus was sonst? Etwa aus Uebermuth, um das Genick zu brechen, he?«

»Nein,« antwortete Müller, welchem die kräftige Weise des Unbekannten Spaß machte. Dieser hatte sich jedenfalls keinen Schaden gethan, und so war kein Grund zur Angst und Besorgniß vorhanden.

»Oder,« rief es von unten herauf, »halten Sie mich vielleicht für einen Regenwurm, der sich in die Erde bohrt, um von den Maulwürfen gefressen zu werden? Kommen Sie herunter, so werden Sie sehen!«

»Was denn?«

»Ob ich Aehnlichkeit mit einem Wurme habe!«

»Das werde ich zu sehen bekommen, wenn Sie wieder herauf sind.«

»Schön! Aber wie komme ich hinauf?«

»Können Sie klettern?«

»Ja, wie eine Katze.«

»Nun, so ist es ja leicht.«

»Wieso denn?«

»Machen Sie es wie ein Essenkehrer – schieben Sie sich mit Hilfe des Rückens und der Kniee empor!«

»Schöner Rath! Was denken Sie denn?«

»Geht das nicht?«

»Nein! Absolut nicht!«

»Warum nicht?«

»Erstens bin ich zu schwer, und zweitens ist das Loch viel zu weit für so eine Essenkehrermanipulation.«

»Wie aber wollen Sie sonst in die Höhe kommen?«

»Holen Sie gefälligst eine Leiter!«

»Schön! Da müssen Sie aber eine tüchtige Weile warten. Eine Leiter kann ich nur auf dem Schlosse bekommen.«

»Donnerwetter! Das machte ich nicht.«

»Warum nicht?«

»Hm! Das kann ich nicht einem Jeden sagen! Wer sind Sie denn eigentlich?«

»Zunächst möchte ich Sie fragen, wer Sie sind.«

»Ein Pole.«

»Ah! Was denn?«

»Maler.«

»Maler? Sapperment! Wie heißen Sie?«

»Schneffka.«

»Schneffka? Ah, das ist hochinteressant!«

»Hochinteressant? Sie dummer Kerl! Mir kommt es in dieser Mördergrube nicht sehr interessant vor!«

»Natürlich heißen Sie Hieronymus Aurelius?«

»Sapperment! Sie kennen mich?«

»Habe die Ehre!«

»Woher denn?«

»Ich bin Doctor Müller.«

»Doctor Müller? Juchhei! Das ist der Richtige! Das ist Der, den ich hier ganz allein gebrauchen kann.«

»Warum?«

»Hier giebt es Geheimnisse.«

»Wirklich? Welche denn?«

»Das Loch ist nicht von ohngefähr. Es ist mit Fleiß gemacht, ganz künstlich. Ein breites, tiefes Loch. Oben darauf Knüppel gelegt, darauf Erde und diese Erde mit Moos bepflanzt. Die Knüppel müssen an der Stelle, wo ich durchgebrochen bin, verfault sein. Das ganze Ding ist so eingerichtet wie eine Grube in den indischen Dschungeln, um Tiger zu fangen.«

»Dieses Mal ist es kein Tiger!«

»Etwa ein Rhinoceros?«

»Will es nicht in Abrede stellen.«

»Hole Sie der Teufel!«

»Schön!«

»Vorher, ehe er Sie holt, holen Sie mich aber fein hübsch hinauf!«

»Das geht am Besten mit Hilfe einer Leiter. Warum aber soll ich die nicht vom Schlosse holen?«

»Wegen des alten Capitäns.«

»Das verstehe ich nicht.«

»Er darf nicht wissen, daß Einer hier hereingestürzt ist.«

»Warum nicht?«

»Weil es, wie gesagt, hier Geheimnisse giebt. Ich stecke nämlich nicht in einem gewöhnlichen Loche, sondern hier ist ein Gang oder Stollen mit Thüren rechts und links.«

»Sapperment! Da darf der Alte allerdings kein Wort erfahren. Drei Männer tief? Hm! Wie stellt man das an, Sie heraufzubringen? Soll ich herunterkommen, um Sie zu heben?«

»Wollen Sie sich auf diesen Kalauer Etwas einbilden?«

»Gar nichts. Aber wenn Sie sich zehn Minuten gedulden wollen, so habe ich Hilfe.«

»Was für welche?«

»Es sind unweit von hier Bäume gefällt worden, junger, dreißigjähriger Wuchs. Ich hole einen Stamm.«

»Stecken ihn in das Loch?«

»Ja.«

»Schön! Laufen Sie!«

Müller entfernte sich. Er war an dem Holzschlage vorübergekommen. Dort angelangt, fand er einen Stamm, welcher von den Aesten befreit und stark genug war, den dicken Maler zu tragen. Er nahm ihn auf die Achsel und trug ihn zurück.

Wieder beim Loche angekommen, untersuchte er sehr sorgfältig den Boden, um nicht selbst einzubrechen. Dann ließ er den Stamm hinabrutschen.

»Ah! Sakkerment!« schrie es unten.

»Was giebts?«

»Thun Sie doch das Maul auf, ehe Sie mich anspießen oder zerstampfen.«

»Ich dachte, Sie merkten es ganz von selbst. Wird es gehen auf diese Weise?«

»Will's versuchen.«

Müller hörte ein Stöhnen und Pusten, dann erscholl es aus der Tiefe herauf:

»Das ist doch eine ganz verfluchte Patsche, in die ich da gerathen bin.«

»Wieso?«

»Es will nicht gehen.«

»Ich denke, Sie können klettern!«

»Gewiß! Aber der Baum dreht sich immer um sich selbst herum. Ich bin doch nicht etwa hier herabgerutscht, um Reitschule oder Caroussel zu treiben!«

»So giebt es nur ein Mittel: Ich halte den Stamm.«

»So brechen Sie durch!«

»Nein. Die künstliche Decke hält doch fester, als ich dachte. Noch besser aber wird es sein, ich komme auch einmal hinab.«

»Dann stecken wir Beide in der Tinte.«

»Keine Sorge! Bin ich unten, so kann ich schieben, und Sie kommen viel leichter herauf.«

»Na, da versuchen Sie es!«

»Treten Sie auf die Seite.«

»Bin es schon!«

Müller umfaßte zunächst mit den Händen den Stamm, schlang dann auch die Beine um denselben und rutschte hinab.

*


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