Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Fortsetzung 96

Da drehte Miß de Lissa sich langsam wieder zu Deep-hill um. Ihr Gesicht war ernst aber ruhig und ihre Stimme klang vollkommen klar, als sie, ihm die Hand reichend, sagte:

»Ich gönne es Ihnen von ganzem Herzen, die Langverlorenen wiederzufinden. Beide sind werth, die Töchter eines solchen Mannes zu sein. Ich wünsche jedoch, daß sich Ihre Hoffnung nicht als trügerisch erweise.«

»Ich befinde mich in einer Spannung, in einer Aufregung, von welcher Sie keine Ahnung haben, gnädiges Fräulein.«

»Das läßt sich denken. Wissen die beiden Damen vielleicht bereits etwas davon?«

»Bisher wohl nicht; aber es ist möglich, daß Herr Doctor Müller, welcher sie holen will, ihnen mittheilt, warum sie zu Ihnen kommen sollen.«

»Warum begaben Sie sich nicht nach dem Schlosse?«

»Eben der Herr Doctor rieth mir davon ab. Ich sollte von dem Capitän nicht gesehen werden.«

»Ach so! Dieser soll noch nicht wissen, daß Sie ihm entkommen sind?«

»So ist es.«

»Wie aber geriethen Sie in seine Gewalt?«

»Durch Verrath von seiner und Unvorsichtigkeit von meiner Seite. Darf ich Ihnen erzählen?«

»Ich bitte sogar darum!«

Er begann, ihr zu berichten, was geschehen war, seit er sie gestern verlassen hatte. Dann klopfte es, und Fritz trat ein.

»Nun?« fragte Emma. »Wo ist der Maler?«

»Ich konnte nur ausfindig machen, wo er wohnt; zu treffen war er nicht. Ich habe aber anbefohlen, ihn sofort, sobald er zurückkehrt, nach hier zu schicken.«

Er erhielt einen Stuhl angewiesen, und als er Platz genommen hatte, fragte ihn Deep-hill:

»Sie kennen also die beiden Schwestern genauer?«

»Madelon war mir bereits längere Zeit bekannt; Nanon aber sah ich erst vor Kurzem hier das erste Mal.«

»Haben Sie sich öfters getroffen?«

»Zufällig, bei Spaziergängen. Kürzlich starb ihr Pflegevater. Sie reiste mit der Schwester zu seinem Begräbnisse. Sie wollte diese Reise nicht ohne Schutz unternehmen, und da wurde mir die Ehre zu theil, die Damen begleiten zu dürfen.«

»War denn Gefahr zu befürchten?«

»Ja. Diese Befürchtung hat sich dann auch als sehr begründet bewiesen.«

»Was ist geschehen?«

»Wir haben ein kleines Abenteuer erlebt, welches ich Ihnen, bis der Maler kommt, erzählen kann.«

Er begann seinen Bericht, hatte denselben aber noch nicht bis zu Ende gebracht, als er durch einen sehr lauten Wortwechsel gestört wurde, welcher unten auf der Treppe in französischer Sprache geführt wurde.

»Nein! Sie dürfen nicht!« rief eine Stimme. »Ich verbiete es Ihnen, Monsieur!«

»Mir verbieten? Du? Wurmsaamenhändler, der Du bist? Packe Dich zum Teufel!« antwortete eine zweite Stimme.

»Es soll kein Fremder hinauf!«

»Ich bin kein Fremder, mein lieber Latwergenmeister!«

»Sie haben herabzugehen und das Haus zu verlassen!«

»Schere Dich zu Deinen Pillen, holder Salmiakgeist, sonst werfe ich Dich zur Bude hinaus!«

»Das wollen wir sehen, Sie Grobian!«

»Pah! Ich stecke Dich in eine Klystierspritze und spritze Dich hinauf an die Thurmuhr, damit Du erfährst, welche Zeit es ist, wenn ich beginne in die Wolle zu gerathen!«

»Das ist der dicke Maler,« sagte Fritz. »Ich werde ihn hereinlassen.«

Er öffnete die Thür.

» Herr Schneffke!«

»Ja.«

»Kommen Sie!«

»Gleich! Aber darf ich nicht vorher erst diesen Weinsteinsäureheinrich in die Westentasche stecken?«

»Bitte, lassen Sie ihm seine Freiheit!«

»Schön! Er mag dieses Mal noch so mit einem blauen Auge davon kommen. Das nächste Mal sorge ich dafür, daß er noch weit mehr blau wird als nur sein Auge!«

Er trat ein und verbeugte sich vor Emma.

»Ihr Diener, Miß! Soll ich mich wieder einmal zu Ihren Füßen legen?«

»Ich danke! Nehmen Sie lieber Platz wie gewöhnliche Leute!«

»Das fällt mir schwer. Ich bin leider nur zu Ungewöhnlichem geboren. Ergebenster, Monsieur Deep-hill! Ist der Zaun bereits ausgebessert worden?«

»Ich werde nachsehen!«

»Schön! Wie ich höre, bin ich gesucht worden?«

»Hat man es Ihnen im Gasthofe gesagt?« fragte Fritz.

»Nein.«

»Von wem haben Sie es denn erfahren?«

»Von Herrn Doctor Müller.«

»Von dem? Waren Sie denn in Ortry?«

»Nein.«

»Wo denn?«

»Im Loche.«

»Im Loche? In welchem Loche?«

»Ja, da haben Sie schon wieder einen Beweis, daß ich nur zu Ungewöhnlichem geboren bin. Ich war draußen im Walde und brach in den Erdboden ein, ziemlich tief hinab. Ich befand mich in einem unterirdischen Gange. Da kam der Herr Doctor und half mir heraus. Bei Gelegenheit erfuhr ich, daß ich erwartet werde. Ich eilte mit der Geschwindigkeit eines Courirzuges hierher und traf aber unten den gelehrten Jungen des Apothekers, welchen ich bereits von vorher einmal ins Herz geschlossen hatte. Es wäre zu einem Duell mit beiderseits tödtlichem Ausgange gekommen, wenn nicht Sie, Herr Schneeberg, uns gerettet hätten.«

»Sie sind unverbesserlich!«

»Diese hohe Tugend besitze ich bereits seit langer Zeit.«

»Wie konnten Sie denn aber in ein Loch fallen!«

»Wie? Sapperment! So, wie man in ein Loch zu fallen pflegt: Mit dem schwersten Körpertheile nach unten!«

Die Anwesenden lachten, und zugleich winkte Fritz, welcher am offenen Fenster stand, mit der Hand nach der Straße.

»Sie kommen,« meldete er.

»Sind sie allein?« fragte der Amerikaner erregt.

»Fräulein Marion ist mit.«

»Der Herr Doctor nicht?«

»Nein.«

Die drei Damen traten ein und wurden herzlich begrüßt. Marion hatte den Schwestern nichts verrathen, dennoch herrschte eine Stimmung, wie sie vor einer wichtigen Entscheidung unausbleiblich ist. Man war gespannt, fühlte sich gepreßt und verheimlichte sogar einige Verlegenheit.

Bald kam auch Müller. Er wendete sich sofort an Marion:

»Hatten Sie vor Ihrem Fortgehen vielleicht eine Unterredung mit dem Capitän, gnädiges Fräulein?«

»Ja.«

»Unfreundlich?«

»Noch mehr als das.«

»Sagten Sie ihm, wohin Sie gehen wollten?«

»Nein.«

»Nun, er wird es dennoch sehr schnell erfahren. Ich war eher da, als Sie, und trat mit Ueberlegung da drüben in die Restauration. Dort beobachtete ich den Stallknecht von Ortry, welcher aufpaßte. Der Capitän hat ihn geschickt. Es steht vielleicht gar zu erwarten, daß er selbst nachkommen wird.«

»Wozu?«

»Vielleicht malt ihm sein böses Gewissen vor, daß hier Etwas ihm Feindseliges besprochen oder vorgenommen werden soll. Das will er unterdrücken.«

»Darf er mich da sehen?« fragte Deep-hill.

»Und mich?« fügte Schneffke hinzu.

»Das kommt auf die Umstände an,« antwortete Müller. »Mich aber darf er keineswegs zu Gesicht bekommen. Stellt er sich wirklich ein, so gehen sämmtliche Herren in das Nebenzimmer. Auf sein Verhalten wird es dann ankommen, wie Mademoiselle Marion zu handeln hat. Fritz, bleibe am Fenster, um aufzupassen!«

Als dann auch er Platz genommen hatte, sah er sich lächelnd im Kreise um und sagte:

»Meine Herrschaften, ich habe diesen beiden Damen mitgetheilt, daß sie hier vielleicht in Beziehung auf ihre Geburtsverhältnisse eine Neuigkeit hören werden. Herr Schneffke, wollen Sie die Güte haben, zu beginnen!«

»Hm!« brummte der dicke Maler. »Beginnen? Bei was soll ich anfangen?«

»Sprechen Sie ganz nach Belieben.«

»Nun, da will ich bei dem wichtigen Augenblicke beginnen, an welchem ich mich den Damen und Herrn Schneeberg Abends in Etain vorstellte.«

»Dieser Augenblick soll höchst dramatisch gewesen sein,« lachte Müller.

»Entschuldigung! Ich bin stets dramatisch, nicht nur an einem vorübergehenden Augenblick! Eigentlich für die Bühne geboren, habe ich mir mein Dasein mit den Brettern beschlagen, welche die Welt bedeuten. Ich bin der Dichter meines eigenen Lebens und spiele dieses Stück zu meinem eigenen Vergnügen. Trollgäste und Leute mit Freibillets werden geduldet. Abonnements aber dulde ich nie! Also, Herr Doctor, wenn jener große Augenblick an der Thür und auf der Treppe des Hotels zu Etain Ihnen vielleicht zu dramatisch erscheint, so beginne ich bei etwas Anderem, bei dem Wichtigsten, nämlich bei der Gage. Nicht wahr, Mademoiselles, Ihre Mutter ist arm gestorben?«

»Ja,« antwortete Nanon.

»So haben Sie gedacht. Aber sie hat dem Schurken Berteu fünfzehntausend Franken geborgt. Sein Sohn mag sie Ihnen zurückgeben.«

»Woher wissen Sie das, Monsieur?«

»Die Anweisung steckt im Pastellbilde. Nämlich, Monsieur Deep-hill, ist Ihnen vielleicht der berühmte Porzellanmaler Merlin in Marseille bekannt gewesen?«

»Sehr gut. Er war weit älter als ich, aber mein Freund.«

»Hat er Ihnen Etwas gemalt?«

»Mein Porträt.«

»In Pastellmanier?«

»Ja.«

»Das M, sein Facsimile, steht unten in der Ecke?«

»Gewiß,«

»Und auf der hintern Seite des Bildes steht »Baron Guston de Bas-Montagne«?«

»So ist es; so ist es! Haben Sie dieses Bild gesehen?«

»Ja. Es war etwas veraltert und ich habe es nach Kräften aufgefrischt. Ich werde Ihnen zeigen, wie Ihre Figur gehalten ist.«

Er nahm Papier und Bleistift vom Schreibtische, zeichnete mit größter Gewandtheit eine Figur und reichte sie dem Amerikaner hin.

»Ist es so?«

»Ja, ja,« antwortete Deep-hill. »Sie haben dieses Bild gesehen. Aber wo? Wo?«

»Auf Schloß Malineau bei Etain. Aber noch ein zweites Porträt, Monsieur, wenn Sie gestatten.«

Er nahm ein zweites Blatt und zeichnete. In kaum zehn Minuten war er fertig und gab auch dieses Blatt dem Amerikaner.

Dieser stieß einen Ruf der Ueberraschung aus.

»Meine Frau, meine Frau! Amély, mein lieber, süßer Kolibri! Sie ist's, sie ist's!«

Er drückte das Blatt in größter Aufregung an seine Lippen, wurde aber in demselben Augenblicke von vier weichen Mädchenarmen umschlungen.

»Vater, Vater, lieber Vater!«

Mit diesem Ausrufe schmiegten die beiden Schwestern sich an seine Brust. Er zog sie fester an sich und rief:

»Es ist kein Zweifel; es bedarf keines weiteren Beweises. Unsere Herzen haben gesprochen. Ihr seid meine Kinder! Gott, Gott, ich danke Dir!«

Er weinte laut, seine beiden Töchter ebenso und auch kein anderes Auge blieb thränenlos. Es bedurfte einer ganzen Weile, bis der Sturm der Aufregung sich legte, dann fragte Deep-hill:

»Monsieur Schneffke, daß Sie mein Bild zeichnen können, das begreife ich, da Sie mein Porträt gesehen haben; aber wie kommen Sie dazu, auch meinen Kolibri zeichnen zu können?«

»Ich fand das Porträt Ihrer Frau bei einem Bekannten.«

»Was ist er?«

»Sonderling.«

»Er muß doch einen Beruf haben.«

»Ja. Er ist von Beruf nämlich Quälgeist. Das heißt, er macht sich und Anderen das Leben so sauer wie möglich. Am Besten ist's, ich zeichne Ihnen seinen Kopf.«

Sein Stift fuhr über ein drittes Blatt und als dann Deep-hill die Zeichnung betrachtete, rief er aus:

»Mein Vater, mein Vater! Zwar um Vieles älter, aber er ist es! Ich habe lange, lange Jahre nach dem Vater, nach Weib und Kindern gesucht, ohne nur eine Spur zu finden, und Sie, Monsieur Schneffke, wissen Alles. Wie haben Sie das angefangen?«

»Beim richtigen Zipfel. Hören Sie!«

Er begann zu erzählen, von Anfang bis zu Ende; aber er sagte nicht, daß der Vater des Amerikaners in Berlin wohne und nannte auch dessen jetzigen Namen nicht.

Als er mit seiner Anwesenheit auf Schloß Malineau zu Ende war, sagte Müller:

»Mein bester Schneffke, ich habe Ihnen sehr Unrecht gethan, als ich Ihnen heute da unten im Loche etwas scharf entgegentrat. Sie sind ein tüchtiger Junge!«

»Ein prachtvoller Mensch!« fügte Deep-hill hinzu. »Sie haben mit einer Umsicht gehandelt, welche Ihnen alle Ehre macht. Ihnen allein habe ich es zu verdanken, daß ich meine Kinder sehe und auch den Vater finden werde.«

»Mir allein? Unsinn! Uebertreiben Sie nicht! Diesen beiden Damen haben Sie es zu verdanken, daß Sie sie haben. Wenn sie nicht mehr lebten, wäre mein ganzer berühmter Scharfsinn der reine Quark!«

»Sie sind bescheiden! Aber, Herr, ich bin Millionär; wenden Sie sich in jeder Lebenslage an mich!«

»Das werde ich bleiben lassen. Ich habe, was ich brauche. Aber, Herr, ich bin Maler; wenden Sie sich in jeder Körperlage an mich! Ich male Sie von allen Seiten, sogar von unten, wenn Sie es wünschen.«

Alle lachten, nur der Maler allein blieb ernsthaft.

»Aber,« wendete sich der Amerikaner an ihn, »Sie haben noch gar nicht gesagt, wie mein Vater sich jetzt nennt. Er muß seinen Namen verändert haben, sonst hätte ich ihn gefunden.«

»Er hat ihn nicht verändert, sondern ihn nur, ganz so wie Sie, in eine andere Sprache übersetzt, nämlich in die Deutsche. Er nennt sich Untersberg.«

»So wohnt er in Deutschland?«

»Ja.«

»Dieser ist Deutschenhasser fast bis zum Uebermaß!«

»Das wird einen Grund haben, den ich ahne, einen psychologischen Grund.«

»Welchen?«

»Er war Deutschenfeind. Sie heiratheten eine Deutsche. Er verstieß sie deshalb; er machte Ihre Frau unglücklich. Er trieb sie mit den Kindern in die Fremde hinaus. Er schilderte sie Ihnen als treulos!«

»Ja, das that er.«

»Aber er war doch immer Mensch. Er hatte ein Herz, ein Gewissen. Die Reue kam, je später desto gewaltiger. Der Sohn war fort, Weib und Kinder auch. Er konnte nichts wieder gut machen; darum legte er sich wenigstens die eine Buße auf: Er verließ Frankreich und ging nach Deutschland. Er lernte die verhaßte Sprache dieses Landes und wurde Einsiedler, um auf die Vorwürfe seines Gewissen Tag und Nacht ungestört hören zu können.«

»Einsiedler? Lebt er so in der Abgeschiedenheit?«

»Sie meinen etwa im Walde?«

»So ungefähr.«

»O nein. Er lebt in einer großen Stadt.«

»In welcher?«

»Hm! Werden Sie ihn aufsuchen?«

»Das versteht sich ganz von selbst. Er hat schlimm an mir gehandelt, aber er ist mein Vater. Wir werden ihm vergeben, nicht wahr, meine Kinder?«

Die beiden Mädchen nickten ihm freudig zu; dann setzte er seine Erkundigung fort:

»Also in welcher Stadt?«

»In Berlin.«

»Wie lautet seine Adresse? Welche Straße und auch welche Nummer, Herr Schneffke?«

»Halt, halt! Das geht nicht so schnell wie das Bretzelbacken! Man muß hier vorsichtig sein. Wann wollen Sie hin zu ihm?«

»Morgen fahren wir nach Schloß Malineau, um mit Monsieur Melac zu sprechen. Sodann geht es gleich nach Berlin, direct vom Bahnhofe zum Vater.«

»Sachte, sachte! Der würde Sie hinausschmeißen, gerade wie meinen Freund, den Maler Haller.«

»Maler Haller?« fragte Müller schnell. »Kennen Sie denn diesen Herrn?«

»O, sehr gut!«

»Wo lernten Sie ihn kennen?«

»Bei einer Schlittenparthie im Tharandter Walde.«

»Sie fuhren Schlitten einer Gouvernante zu Liebe?«

»Ja. Sodann ritt ich ihr zu Liebe spazieren; aber Gouvernanten scheinen solche Verehrungsweisen nicht anzuerkennen; darum habe ich dieser Gouvernante den Korb gegeben und mich nach einer geeigneten Persönlichkeit umgesehen.«

»Haben Sie Glück gehabt?«

»Ja, bin bereits einmal mit ihr vom Sessel herab in die Stube gefallen. Die Hochzeit wird nicht lange auf sich warten lassen.«

»Gratulire!«

»Danke!«

»Warum,« fragte Bas-Montagne, »warum glauben Sie denn, daß mein Vater uns nicht empfangen wird?«

»Weil er überhaupt außer mich keinen einzigen Menschen zu sich läßt.«

»Aber, seinen Sohn, seine Enkelinnen!«

»Erst recht nicht! Man durfte ja davon gar nicht sprechen. Er muß auf ganz andere Weise gepackt werden.«

»Wie denn?«

»Mit Ihrem Bilde. Ich habe Ihnen bereits gesagt, daß er sich bestrebt, Ihren Kopf zu zeichnen. Eines schönen Tages muß ihm das gelingen. Was darauf folgt, das muß abgewartet werden.«

»Ihr Rath ist nicht zu verwerfen. Werden Sie sich auf der Reise nach Berlin uns anschließen?«

»Gern.«

»Und ebenso lieb wäre es mir, wenn Sie morgen mit uns nach Etain fahren wollten.«

»Lieber heute noch!«

»Das geht nicht. So wichtig mir diese Angelegenheit ist, ich mag sie doch nicht überstürzen.«

»Pst!« warnte Fritz in diesem Augenblicke. »Ein Wagen aus Ortry!«

»Der Alte?« fragte Müller.

»Ich weiß es noch nicht. Das Verdeck ist zu. Ich kenne aber die Pferde.«

Er trat vom Fenster zurück, um nicht selbst auf seinem Posten bemerkt zu werden, ließ aber trotzdem den Blick nicht von unten weg und meldete nun auch:

»Ja, der Capitän. Gehen wir hinaus?«

»Gewiß!« antwortete Müller. »Kommen Sie, meine Herren! Ich darf auf keinen Fall anwesend sein.«

Kaum hatte sich die eine Thüre hinter den vier Herren geschlossen, so ging die andere auf, um Richemonte eintreten zu lassen. Er verbeugte sich höflich vor Emma von Königsau und sagte:

»Verzeihung, daß ich störe, Miß! Ich hörte, daß meine Enkelin sich hier befindet, und komme, sie abzuholen.«

»Sie stören keineswegs. Bitte, nehmen Sie Platz, Herr Capitän!«

Er setzte sich auf die Hälfte des Sessels, so wie Einer, welcher bereits im nächsten Augenblicke wieder aufbrechen will. Sein Auge schweifte forschend im Zimmer umher; dann sagte er:

»Ich glaubte, Herrengesellschaft hier zu finden?«

»Wieso?«

»Ich sah Hüte draußen liegen. War vielleicht Herr Maler Haller hier?«

»Nein,« antwortete Emma.

»Ich möchte aber doch behaupten, daß er hier gewesen ist!«

Die scheinbare Engländerin errieth sofort den Zusammenhang, da sie die Aehnlichkeit Fritzens mit Haller kannte.

»Sie dürften sich sehr irren!« sagte sie.

»Wohl nicht!« lachte er höhnisch überlegen.

Sie stand von ihrem Stuhle auf und antwortete in stolzem, verweisendem Tone:

»Sie scheinen nicht gelernt zu haben, mit Leuten von Bildung zu verkehren, Herr Capitän.«

»Ah!« stieß er hervor.

»Es ist eine gesellschaftliche Infamie, eine Dame einer Lüge zu zeihen!«

»Infamie! Donnerwetter! Wenn ich nun beweisen kann, daß diese Dame wirklich gelogen hat!«

»So wäre Ihr Verhalten immer noch ein nicht nur rohes, sondern sogar rüdes. Uebrigens würde Ihnen dieser Beweis wohl schwer fallen!«

Sie trat zur Nebenthür, öffnete diese und sagte:

»Herr Schneeberg, bitte!«

Fritz trat in das Zimmer.

»Nun, das ist ja Herr Haller!« sagte der Alte, indem er höchst befriedigt dem Deutschen die Hand entgegenstreckte. »Diese Dame hat also doch gelogen!«

Marion hatte sich bisher völlig theilnahmslos verhalten. Jetzt hielt sie es für an der Zeit, auch ein Wort zu sagen:

»Verzeihen Sie, Miß de Lissa. Mein Großvater wird alt. Er leidet an Hallucinationen und hat sogar zuweilen Anfälle eines allerdings höchst ungefährlichen Irrsinnes. Man darf nicht auf ihn hören!«

Der Alte stand da, als ob er zur Statue geworden sei. Das war ihm denn doch noch nicht geboten worden!

»Was sagst Du? Was meinst Du?« stieß er zischend zwischen den Zähnen hervor.

Dies sollte nur der Anfang seines Wuthausbruches sein. Aber Marion fiel ihm in die Rede:

»Eine Dame von solcher Distinction eine Lügnerin schimpfen, das ist Irrsinn, und diesen Herrn hier für den Maler halten, das ist ein Beweis von Hallucination. Mache Dich nicht lächerlich, sondern siehe diesen Herrn genauer an! Herr Schneeberg, Pflanzensammler bei Herrn Doctor Bertrand!«

Da trat der Alte einen Schritt zurück, stieß einen erstaunten Pfiff aus und fragte:

»So so! Berteu sprach von diesem Manne! Ein deutscher Spion, den wir unschädlich machen werden. Giebt es vielleicht in Etain und Malineau noch Etwas für Sie zu thun, Monsieur Schneeberg?«

Draußen im Nebenzimmer hatte Müller die drei Anderen instruirt, was sie vorkommenden Falles antworten sollten. Fritz entgegnete einfach:

»Wüßte nicht, was ich dort zu suchen hätte!«

»Aber Sie hatten Etwas zu suchen!«

»Freilich! Ich suchte fünfzehntausend Franks, welche der ehrenwerthe Monsieur Berteu an Mademoiselle Nanon und deren Schwester schuldet.«

»Hm! Sie sind wohl der Beschützer dieser Damen?«

»Es kam mir ganz so vor, als ob in Malineau Damen gar sehr des Schutzes bedürften. Ist das auf Schloß Ortry vielleicht auch der Fall, Herr Richemonte?«

»Frecher Kerl! Ich werde mit der hiesigen Polizei sprechen. Man wird Ihnen das Handwerk legen!«

»Verbrennen Sie sich nicht, alter Herr! Wer weiß, was Sie selbst für ein Handwerker sind.«

»Pah! Ich werde Sie zertreten wie einen Wurm!«

Und sich an Marion wendend, fragte er höhnisch:

»Giebt es vielleicht noch mehrere solche Spione hier? Die Hüte draußen scheinen auf die Anwesenheit von dergleichen Gesellen zu deuten!«

Sie zuckte die Achseln und antwortete in überlegener Ruhe:

»Du scheinst Dich für diese Hüte außerordentlich zu interessiren!«

»Natürlich!«

»Nun, wollen doch einmal sehen, ob sie wirklich ein solches Interesse verdienen!«

Sie öffnete den Eingang, griff auf den neben der Thür stehenden Tisch und trat, mit dem Hute des Malers in der Hand, dann zu dem Alten heran.

»Wem mag dieser da gehören?« fragte sie.

»Jedenfalls einem Subjecte!«

»Du kennst ihn also nicht?«

»Nicht so nahe! Fort mit ihm! Er stinkt und duftet nach Spitzbubenfleisch.«

»Ich werde mir erlauben, Dir diesen Spitzbuben vorzustellen.«

Sie öffnete die Nebenthür und sagte:

»Bitte, Herr Hieronymus!«

Schneffke trat ein.

Hätte den Alten der Schlag getroffen, er hätte kein anderes Bild geben können. Er wußte ganz genau, daß er diesen Menschen eingesperrt hatte und noch dazu in Fesseln und hinter mehreren verschlossenen Thüren. Er hätte tausend Eide geschworen, daß er sich tief unter der Erde befinde und nun stand er hier, vor ihm, leibhaftig, lebendig! Der Alte fragte sich, ob Marion denn vielleicht doch vorhin Recht gehabt habe, als sie behauptete, daß er an periodischem Irrsinn leide.

Der kleine dicke Maler lachte dem consternirten Alten lustig in das Gesicht und sagte:

»Sie machen ja ein Gesicht, wie eine geräucherte Schlackwurst, die von den Ratten angefressen worden ist. Kommen Sie gefälligst zu sich, Alter, sonst denke ich, daß Ihnen Ihr letztes Bischen Verstand pfeifen gegangen ist.«

»Wie – wie – – heißen Sie?« stammelte der Capitän.

»Hieronymus Aurelius Schneffke, mein lieber, alter Groß-, Ur- und Capitalspitzbube! Sie denken, die Klugheit mit Löffeln gegessen zu haben; aber prosit die Mahlzeit! Sie werden von Ihren Unterthanen doch über den Löffel barbirt! Kaum hatten Sie mich fest, so kam Einer, der ließ mich wieder heraus. Ich glaube, er hieß Ribeau, der Busenfreund eines gewissen Berteu.«

»Lügner!«

»Mach keinen Unsinn, alter Karfunkelhottentott! Du bist so dumm, daß der, welcher Dich betrügen will, die Wahrheit sagen muß, denn Du glaubst sie ja doch nicht. Dein Verstand ist ganz von den Motten zerfressen und Dein Gehirn ist der reine Mehlwürmertopf, zerwühlt und zerfressen durch und durch. Alter Hallunke, Du kannst mich dauern! Mit Dir geht es gewaltig auf die Neige. Für Dich ist's am Besten, Du legst das Licht ins Bette und bläsest Dich selber aus!«

Dem Capitän wollte der Athem vergehen. Er schnappte nach Luft – endlich, endlich gurgelte er hervor:

»Schuft! Spion verdammter!«

»Sei still! Du brauchst Dich hier gar nicht erst vorzustellen. Wir kennen Dich schon.«

»Ich werde sofort nach Polizei schicken!«

»Thue das, trautes Giraffengerippe. Ich habe gar nichts dagegen, daß sie Dich in Sicherheit bringen. Deine Stunden sind gezählt. Du pfeifst aus dem letzten Loche!«

»Spotte nur, Erbärmlicher. Sobald ich dieses Haus verlassen habe, wird man sich Deiner und dieses Kräutermenschen bemächtigen. Das also ist die Gesellschaft, mit welcher die Baronesse Marion de Sainte-Marie umgeht.«

Marion antwortete kalt:

»Es fehlt noch Einer, um sie vollständig zu machen. Oder sollte es nicht eher die Gesellschaft sein, mit der Du selbst umgegangen bist? Wollen sehen!«

Sie öffnete abermals die Thür und Deep-hill trat ein. Der Capitän stieß einen unarticulirten Schrei aus. Seine Adern traten weit hervor und seine Augen starrten gläsern auf den Amerikaner.

»Nun, kennst Du ihn?« fragte Marion.

Er schlang und schlang; man hörte seine Zähne knirrschen, aber sprechen konnte er nicht. Deep-hill trat auf ihn zu und sagte in höhnisch mitleidigem Tone:

»Deine Krallen sind stumpf geworden, alte Hyäne. Du wirst in Deinem eigenen Koth verhungern. Du hast mich morden wollen und deshalb den Zug entgleisen lassen. Da dies nicht gelang, hast Du mich in die Falle gelockt; aber diese Falle war nicht fest genug! Ich könnte Dich den Gerichten übergeben, aber selbst der Galgen graut vor Dir, Du bist so erbärmlich, daß ich Dich nicht einmal verachten kann. Gehe nach Hause. Kein Mensch wird Dir Etwas thun. Aber grüße mir den jungen Rallion. Er weiß die Hauptschlüssel, welche Du verloren glaubtest, sehr gut zu gebrauchen. Du siehst, daß Du von Deiner eigenen Brut verrathen wirst; Deine besten Verbündeten betrügen Dich, obgleich Du sie zum Eidam haben willst. Geh schlafen, alter Scorpion!«

Ein Wink an Fritz. Dieser trat herbei und faßte den Capitän bei beiden Schultern. Er schob ihn zur Thür hinaus bis an die Treppe.

»So, mach Dich nun fort, Kellerunke! Und siehe zu, daß Du mir nicht wieder unter die Hände kommst!«

Der Alte widerstrebte nicht. Wie im Traume stieg er die Treppe hinab, und wie im Traume stieg er auch in seinen Wagen. Eben als dieser sich in Bewegung setzen wollte, fuhr ein zweiter vorüber, in welchem ein Mann saß. Als dieser den Capitän erblickte, ließ er halten.

»Herr Capitän,« sagte er. »Wie gut, daß ich Sie hier sehe. Ich wollte hinaus nach Ortry zu Ihnen.«

Der Alte wendete ihm sein leichenstarres Antlitz zu. Beim Anblick dieses Mannes belebte es sich sofort. Er gewann augenblicklich die Sprache wieder:

»Herr Haller! Ah, das ist die Erlösung! Wann kamen Sie nach Thionville?«

»Vor zwei Minuten mit dem Zuge.«

»Warum blieben Sie nicht in Berlin?«

»Man hat mich telegraphisch zurückgerufen.«

»Sprechen Sie leiser! Man belauscht uns wahrscheinlich! Zurückgerufen nach Paris?«

»Ja. Ich stieg hier aus, um es Ihnen zu melden. Nun habe ich nicht nöthig, nach Ortry zu fahren.«

»Haben Sie Etwas ausgerichtet, Graf?«

»Viel, sehr viel.«

»Mit diesem Königsau?«

»Mit seinem Vater. Er selbst war verreist, zu einem Verwandten. Aber ich habe alle seine Arbeiten und Manuscripte gelesen. Diese Preußen sind tausendmal dümmer als die Sünde.«

»Ich weiß es.«

»Wir werden leichtes Spiel haben. Preußen ist nicht gerüstet, und Süddeutschland geht mit uns. Leben Sie wohl!«

»Wollen Sie wirklich nicht mit nach Ortry?«

»Nein. Der Zug hält eine Viertelstunde; er steht noch da, ich komme noch mit ihm fort. Baldigst mehr! Umkehren!«

Die beiden Wagen hatten so nahe neben einander gestanden, daß es den Sprechern leicht geworden war, das Gespräch flüsternd zu führen. Nicht einmal einer der Kutscher hatte ein Wort erlauschen können. Das Lohngeschirr des Grafen Lemarch, alias Maler Haller, lenkte um.

»Also Glück auf dem Wege!« sagte der Alte noch. »Adieu, Monsieur!«

»Adieu, Herr Capitän!«

Der Eine fuhr dahin und der Andere dorthin.

»Gut, gut!« brummte der Alte in sich hinein. »Die Rache beginnt bereits! Ah, ich werde mich mit wahrer Wollust in ihr wälzen!«

Droben am Fenster hatte Müller gestanden, um den Alten einsteigen und fortfahren zu sehen. Schneffke befand sich an seiner Seite. Er blickte aus dem Hinterhalte hinab.

»Sapperment! Wer ist das?« sagte er.

»Wer?«

»Der dort in dem Wagen kommt.«

Müller bog sich ein Wenig weiter vor, fuhr aber sofort wieder zurück.

»Haller!«

»Ja, Haller!« stimmte der Dicke bei. »Ich werde ihn rufen.«

Er fuhr mit dem Kopfe zum Fenster hinaus, aber Müller faßte ihn und zog ihn schnell zurück.

»Um aller Welt willen, begehen Sie keine Dummheit!«

»Dummheit? Mein Freund Haller aus Stuttgart!«

»Lassen Sie sich das nicht weiß machen! Es ist kein Maler, sondern Chef d' Escadron Graf Lemarch. Er ist als Spion nach Berlin gegangen.«

»Tausendschwerebrett!«

»Ja, ja, mein Bester!«

»Sie irren!«

»Nein. Er war in Ortry, ehe er nach Berlin ging und kommt jetzt wieder, um dem Alten Bericht zu erstatten. Ah, er lenkt wieder nach dem Bahnhofe zu. Gut, so sind wir ihn los und brauchen nicht mit seiner Anwesenheit zu rechnen.«

Die Beiden kehrten aus dem Neben- in das Hauptzimmer zurück. Marion fragte Müllern:

»Haben Sie Haller gesehen, Herr Doctor?«

»Ja, gnädiges Fräulein.«

»Welche Aehnlichkeit mit Fritz!«

»Mit mir?« fragte der Genannte.

»Ungeheuer!«

»Dann schade, daß ich nicht auch am Fenster war.«

Da steckte das Dienstmädchen den Kopf zur Thür herein.

»Herr Schneeberg, eine Depesche!«

Fritz nahm und öffnete sie.

»Ist's wichtig?« fragte der Maler neugierig.

»Gar nicht. Der Mann konnte auch schreiben,« antwortete Fritz gleichmüthig. »Jetzt, meine Herren, können wir wieder auf unsere Angelegenheiten zurückkommen. Ist vielleicht noch irgend Etwas aufzuklären?«

Dabei spielte er Müllern die Depesche heimlich in die Hand.

»Für den Augenblick wohl nicht,« antwortete Deep-hill. »Wir haben uns nur über unsere morgende Abreise zu besprechen.«

Müller hatte einen raschen Blick auf das Papier geworfen. Es enthielt nur das eine Wort ›Zurück‹. Das war das Zeichen, Ortry zu verlassen und in Berlin wieder einzutreffen. Er fühlte einen schmerzlichen Stich in seinem Innern, ließ sich aber nichts merken, sondern antwortete in gleichmüthigem Tone:

»Wann fahren Sie?«

»Doch wohl morgen früh mit dem ersten Zuge,« meinte der Amerikaner. »Wenn ich auch heute noch bleibe, so will ich doch von morgen an jede Stunde benutzen. Kinder, packt Eure Sachen zusammen und kommt dann hierher. Auf dem Schlosse sollt Ihr keinen Augenblick mehr bleiben. Dieser alte Schurke – Verzeihung, gnädiges Fräulein! Er ist Ihr Großvater; aber ich kann mir nicht helfen – er ist ein Schurke!«

»O bitte! Ich habe ihn nie als Verwandten anerkannt.«

»Das beruhigt mich. Wie gut, Herr Doctor, daß Sie uns vorher im Zimmer instruirten. Nun fällt sein Verdacht auf Ribeau und Rallion.«

»Diesen Letzteren wird er sofort vornehmen. Aber, Herr Deep-hill, was haben Sie in Beziehung auf den Capitän beschlossen?«

»Ich folge Ihrem Rathe.«

»Ihn nicht anzuzeigen?«

»Ja.«

»Ich danke Ihnen.«

Bei diesen Worten aber winkte er dem Amerikaner zu, nichts Weiteres zu sagen, um ihn nicht zu verrathen. Marion war ja noch gar nicht eingeweiht. Darum lenkte Deep-hill ab und wendete sich an Fritz:

»Wie hübsch, Herr Schneeberg, wenn auch Sie mit nach Malineau könnten! Der Angeredete warf einen schnellen Frageblick auf seinen Vorgesetzten. Dieser antwortete an seiner Stelle:

»Vielleicht giebt ihm Herr Doctor Bertrand noch einmal Urlaub. Wenn Sie meinem Rathe folgen wollen, so packen Sie ein, was Mademoiselle Nanon in Ortry hat, und schicken es nach Berlin voraus. So sind Sie von allen Weiterungen befreit. Das ist das Allerbeste.«

»Wird mich der Capitän gehen lassen?« meinte Nanon.

»Der wird gar nicht gefragt,« antwortete ihr Vater.

»Wer doch auch mit könnte!« seufzte Marion. »Das wäre eine Erlösung für mich. Brechen wir auf?«

»Ja, wir erwarten Euch hier, Kinder,« antwortete der Amerikaner. »Bleibt nicht zu lange aus.«

Die drei Damen brachen auf. Müller flüsterte dem Vater, der seine Töchter bis zur Thür begleiten wollte, schnell und unbemerkt noch zu:

»Bitte, sagen Sie heimlich den beiden Damen, daß sie Marion nicht verrathen sollen, was sie von mir wissen.«

»Schön!«

Dann trat Müller an Marions Seite.

»Kommen Sie bald nach, Herr Doctor?« fragte sie.

»In einigen Minuten.«

»Mir ist so bang. Ich verliere Nanon. Wen habe ich noch, als Sie! Ich wiederhole: Könnte ich doch auch fort! »Sie können fort,« antwortete er leise.

»Wirklich?«

»Ja. Aber es muß Geheimniß bleiben. Niemand darf es ahnen, nicht einmal die Schwestern. Wir reisen auch!«

»Wann? »Morgen.«

»Wohin?«

»Nach Malineau.«

»Ist's wahr?« fragte sie, freudig erregt.

»Ja, ich gebe Ihnen mein Wort!«

»Gott sei Dank! Aber Sie müssen zurück!«

»Leider! Aber bitte, sorgen Sie sich nicht; ich werde an Alles, Alles denken.«

Die drei Damen gingen, und Müller kehrte mit dem Amerikaner zu den Anderen zurück. Dieser Letztere sagte dann zu ihm:

»Herr Doctor, haben Sie Vertrauen zu mir?«

»Ja, Herr Baron.«

»Nun, so lassen Sie mich sehen, woran ich bin! Die Depesche, welche Herr Schneeberg erhielt, war eigentlich für Sie bestimmt?«

»Woraus schließen Sie das?«

»Ich sah, daß er sie Ihnen zusteckte.«

»Gut, ich leugne es nicht.«

»War es wichtig?«

»Ja.«

»Darf man es erfahren?«

»Ich reise auch.«

»Ah, dachte es mir! Gnädiges Fräulein mit?«

»Natürlich.«

»Bitte, wohin?«

»Ich habe dasselbe Ziel wie Sie: Nach Berlin!«

»Herrlich, herrlich! Aber ich muß leider erst nach Malineau.«

»Ich werde dafür sorgen, daß wir uns treffen.«

»Wollen wir das telegraphisch thun?«

»Nein. Ich will mich nicht in Gefahr begeben. Ich verspreche Ihnen, daß wir uns treffen werden; und ich pflege Wort zu halten. Für jetzt aber muß ich mich verabschieden. Fritz, Du begleitest mich.«

Da zog ihn seine Schwester in die Fensternische und sagte:

»Das kommt so plötzlich! Befehl vom Commando?«

»Ja. Es macht mir einen Strich durch die Rechnung.«

»Wenn Vater sich wirklich als Gefangener in Ortry befände! Mein Gott!«

»Ich will eben jetzt noch mein Möglichstes thun. Ich wage Alles.«

»Aber sei vorsichtig.«

»Habe keine Sorge. Jetzt brauche ich keine Rücksicht mehr zu nehmen. Wer mir heute widerstrebt, der ist verloren. Ich bin bewaffnet.«

»Wäre es nicht dennoch besser gewesen, Ihr hättet den Capitän der Polizei überwiesen?«

»Nein. Die Lösung meiner Aufgabe geht mir über Alles.«

»Aber muß er denn partout frei bleiben?«

»Unbedingt. Ich kenne das Schloß, die Niederlagen und alles Nöthige weiter. Käme der Capitän fort, so würden Aenderungen eintreten, welche meinen ganzen Plan vernichteten. Es muß so bleiben.«

Er ging mit Fritz. Unten trafen sie auf den Arzt.

»Herr Doctor,« sagte Müller, »haben Sie bemerkt, daß der Capitän oben war?«

»Ja.«

»Wir hatten einen bedeutenden Auftritt!«

»Ich habe es bemerkt.«

»Er wird Ihnen zürnen, daß diese Personen hier waren. Sie werden in Ungelegenheiten kommen, vielleicht sogar in Gefahr gerathen!«

»Ich fürchte mich nicht. Miß de Lissa wohnt bei mir. Ich kann ihr nicht vorschreiben, wen sie in ihrer Wohnung empfangen darf und wen nicht. Und was den Alten betrifft, so verstehe ich, ihm entgegenzutreten.«

»Vielleicht kommt die Zeit, in welcher ich Ihnen so danken kann, wie ich es wünsche.«

»Haben Sie nicht einige feste, längere Stricke? Ich brauche sie und möchte mich doch dadurch, daß ich welche kaufe, nicht verrathen.«

»Genug. Ich selbst werde nachsehen.«

»Und noch Eins: Sie haben für Ihre Landpraxis Pferd und Wagen?«

»Ja.«

»Ist das Pferd gut?«

»Ein sehr flotter Läufer.«

»Wie viele Personen faßt der Wagen?«

»Zwei, außer dem Kutscher.«

»Würden Sie mir ihn verkaufen?«

»Hm! Ich möchte Sie nicht in Ausgaben sehen, welche nicht unbedingt nöthig sind. Wie lange brauchen Sie das Geschirr, Herr Doctor?«

»Nur auf höchstens zwei Tage.«

»Warum denn da kaufen? Ich leihe es Ihnen ja ganz gern.«

Müller ging natürlich darauf ein. Die Stricke wurden ausgesucht. Fritz machte ein Packet daraus und dann erhielt er von seinem Herrn den Befehl:

»Jetzt kaufst Du noch Lichte für die Laterne und dann erwartest Du mich am Waldwege, wo wir uns immer zu treffen pflegen.«

»Reisen wir wirklich morgen?«

»Ja.«

»Aber heimlich?«

»Warum diese Vermuthung?«

»Weil Sie einen Wagen nehmen.«

»Richtig! Adieu jetzt!«

Er ging nach Ortry.

*


 << zurück weiter >>