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Müller faßte festen Boden und blickte sich um; weit, weit hinten sah er den Lichtschein. Er schlüpfte darauf zu, bis er die erste Thür erreichte. Als vorsichtiger Mann zog er den Schlüssel und steckte ihn in das Schloß. Er paßte, und das beruhigte ihn.
Nun schlich er leise und vorsichtig weiter. Es gelang ihm, so nahe zu kommen, daß er nicht nur Alles sehen, sondern sogar Einiges verstehen konnte.
»Darum ist es möglich, daß ich erst in einigen Stunden zurückkehren kann,« sagte eben der Alte.
»Donnerwetter!« fluchte Rallion.
»Was?«
»Ich hoffe doch nicht!«
»Was hoffen Sie nicht?«
Das Folgende wurde so schnell und in eigenthümlichen Tonfällen gesprochen, daß es nur als Gemurmel an Müllers Ohr drang. Sodann hörte er Rallion fragen:
»Wer ist der Mann?«
»Ein Deutscher. Er kam, um eine Kriegskasse auszugraben. Ich habe ihn daran verhindert – – –«
»Wie heißt er?«
Die Antwort verstand Müller nicht.
Die beiden Schurken gingen einige Thüren weiter und blieben dann vor einer stehen, welche der Capitain öffnete. Müller schlich sich nach, bis er vor derjenigen stand, an welcher sich die Beiden vorher befunden hatten. Er konnte nun nicht weiter, da Rallion in dieser Zelle seine Laterne stehen gelassen hatte. Wäre er in den Schein derselben getreten, so hätte er bemerkt werden müssen. Er horchte um so schärfer hin und hörte den Alten sagen:
»Das ist er!«
»Einer dieser verdammten Deutschen! – – –«
»Ja, er verfault; er verfault bei lebendigem Leibe!«
Das Andere blieb unverständlich, bis der Alte mit lauter Stimme befahl:
»Steh auf! Laß Dich sehen, Hund!«
Nun trat der Capitain in die Zelle. Was er hier that und sprach, das konnte Müller nicht sehen und hören. Und das war ein Glück. Hätte er bemerkt, daß der Insasse des Loches geschlagen wurde, so hätte er sich auf Rallion und Richemonte gestürzt und Beide erwürgt.
Er sagte sich, daß seine Ahnung ihn nicht getäuscht habe, daß Der, bei dem sich jetzt die Beiden befanden, sein Vater sei. Sein Herz bebte vor Wonne, Verlangen, Zorn und Grimm; aber er beherrschte sich. Er mußte ruhig bleiben und seine ganze Besonnenheit zu wahren suchen.
Endlich verschloß der Alte die Thür. Müller hörte ihn sagen:
»Das ist Rache – – – – und die Schlüssel zu seinen Fesseln hängen an demselben Nagel, und er kann nicht zu ihnen, eben weil er gefesselt ist!«
Rallion murmelte eine Antwort, welche Müller nicht verstand; der Capitän antwortete Etwas darauf, und dann sagte Rallion:
»Ihr – – Neffe?«
»Ja. Vielleicht erzähle ich Ihnen – – –«
Müller konnte nichts weiter verstehen, weil er sich zurückziehen mußte, da die Beiden wieder zurückkamen. Dabei aber vernahm er doch wieder des Alten Worte:
»Haben Sie nun Vertrauen zu mir?«
»Ja.«
»Sie glauben, daß ich wiederkomme und Sie abhole?«
»Sicher!«
»Gut! So besiegen Sie einstweilen diese spröde Unschuld da drin. Ich wünsche, daß Sie Sieger sind, wenn ich zurückkehre!«
Jetzt sah Müller, daß der Capitain sich entfernen wollte. Darum mußte er fort. Auf den Zehen gehend, lief er beinahe Trab, denn er mußte bereits in Sicherheit sein, wenn der Alte unter dem Luftlocke ankam.
Er erreichte dasselbe. Der Strick hing noch. Er ergriff denselben, turnte sich rasch empor und fühlte dabei, daß Fritz das Ende an sich zog. Oben ankommen, das auseinandergerissene Moos zusammenstreichen und sich niederlegen, das war bei ihm das Werk eines Augenblickes.
»Haben Sie Etwas gesehen? flüsterte Fritz.
»Pst! Man kommt!«
Sie bogen nun das Moos wieder um ein Wenig auseinander und sahen nun beim Scheine seiner Laternen den Alten unten vorüber passiren.
»Der Capitän allein?« fragte Fritz.
»Ja. Ich hatte mich sehr zu beeilen, um von ihm nicht erwischt zu werden.«
»Wo ist Rallion geblieben?«
»In der fünften Zelle. Er soll da eine Spröde besiegen.«
»Donnerwetter! Wenn das Marion ist!«
»Wahrscheinlich ist sie es! Wir müssen sofort hinab.«
»Ich mit.«
»Ja. Uebrigens ist mein Vater unten.«
»Herr des Himmels! Haben Sie ihn gesehen?«
»Nein. Aber ich kann Dir jetzt nichts weiter sagen. Wir haben keine Zeit zu verlieren. Wer weiß, was dieser Schuft mit Marion vorhat. Ich gehe voran und Du kommst sofort nach!«
»Aber wenn der Alte zurückkehrt, befinden wir uns zwischen zwei Feuern.«
»Er wird erst nach einigen Stunden kommen, wie ich gehört habe. So lange sind wir sicher. Komm!«
Er griff sich an dem Seile hinunter, und einen Augenblick später stand Fritz neben ihm.
Sie sahen den Schein von Rallions Laterne aus der offenen Kerkerthür dringen und schlichen sich leise hinzu.
»Ich höre sprechen!« sagte Fritz.
»Ich auch. Wollen den Kerl erst belauschen.«
Marion war nämlich aus ihrer Ohnmacht erwacht und Rallion sprach mit ihr. Die beiden Deutschen kamen unbemerkt bis an die offene Zellenthür und blieben da stehen. Müller streckte den Kopf ein Wenig vor und sah Marion an den Händen und Füßen gefesselt auf dem Stroh liegen, Rallion kniete neben ihr und sagte eben jetzt:
»Wie, Sie könnten mich wirklich nicht lieben?«
»Ich verachte Sie,« antwortete sie.
»O, ich heirathe Sie trotz dieser Verachtung.«
»Elender! Geben Sie mir die Hände frei, und ich werde Ihnen zeigen, was Ihnen gehört.«
»Die Hände frei geben? Fallt mir nicht ein.«
»Feigling.«
»Ja, ich springe eines schönen Mädchens wegen nicht in die Mosel, wie Ihr buckeliger Schulmeister; ich weiß mir die Schönheit auf andere Weise unterthänig zu machen. Ich frage Sie zum letzten Male, ob Sie meine Frau werden wollen.«
»Nie!«
»Und dennoch werden Sie es!«
»Niemals!«
»Ah, ziehen Sie vielleicht vor, meine Geliebte zu sein?«
»Eher würde ich sterben.«
»Wie wollen Sie sterben? Wollen Sie sich erschießen, ersäufen, vergiften? Sie sind ja gefesselt.«
»Ich werde diese Fesseln nicht immer tragen!«
»Allerdings ist das wahrscheinlich; aber bis dahin sind Sie mein Eigenthum geworden. Bis der Capitän zurückkehrt, habe ich Ihren Widerstand gebrochen. So ist es zwischen uns verabredet worden.«
Jetzt legte Müller sich auf den Boden und kroch näher. Der Franzose kniete so, daß er dem Eingange den Rücken zukehrte; er konnte den Deutschen nicht sehen. Auch Marion sah ihn nicht, da Rallion sich zwischen ihnen befand.
»Ungeheuer!« antwortete sie voller Abscheu.
»O,« lachte Rallion, »auch Ungeheuer trachten nach Liebe und Erhörung. Ich werde, wenn nicht die Erstere, aber doch die Letztere finden. Und um dabei systematisch zu Werke zu gehen, werde ich Sie zunächst um einen Kuß ersuchen.«
»Kommen Sie mir nicht zu nahe!«
»O, was wollen Sie dagegen thun? Sie sind ja ganz in meine Hand gegeben! Komm her, mein süßes Liebchen! Mein Mund sehnt sich nach Deinen Lippen.«
Er streckte die Arme nach ihr aus, um sie zu umfassen. Sie schnellte sich trotz ihrer Fesseln zur Seite.
»Schöne Schlange, wie Du Dich windest! Aber es ist vergeblich. Mein wirst Du doch!«
Angst und Abscheu zuckten über ihr schönes Gesicht; aber – was war das? Plötzlich leuchteten ihre Augen auf. Sie warf einen triumphirenden Blick auf Rallion und sagte:
»Rühre mich nicht an, Elender, sonst bist Du verloren!«
Da sie jetzt eine andere Stellung eingenommen hatte, war ihr Blick auf Müller gefallen, welchen jetzt das Licht traf.
Rallion lachte laut auf und fragte:
»Ich, verloren? Was willst Du mir thun? Du entschlüpfest mir nicht. Komm her! Ich will Liebe und Seligkeit von Deinen süßen Lippen trinken!«
Jetzt gelang es ihm, sie zu fassen, aber in demselben Augenblick legte ihm Müller seine Linke von hinten um den Hals und schlug ihn mit der geballten Rechten so an die Schläfe, daß er sofort zusammenbrach.
»Ist es so recht, gnädiges Fräulein?« fragte er dann lächelnd.
Ihr Auge ruhte mit einem Strahle auf ihm, der ihm bis ins tiefste Herze drang.
»Zur rechten Zeit!« sagte sie. »Im letzten, allerletzten Augenblicke!«
»Aber doch nicht zu spät. Bitte, geben Sie her!«
Er zog sein Messer und ergriff ihre Hände, um diese von den Fesseln zu befreien. Da aber erklang es hinter ihm:
»Nicht schneiden! Nicht schneiden, Herr Doctor!«
»Noch Jemand hier?« fragte Marion überrascht.
»Nur ich, Mademoiselle!« antwortete Fritz, indem er aus dem Dunkel näher trat.
»Monsieur Schneeberg! Wenn es eine Heldenthat giebt, sind Sie doch stets dabei.«
»O, hier handelt es sich um kein großes Heldenthum!«
»Aber warum mir die Fesseln nicht abnehmen? Soll ich gebunden bleiben?«
»Nein. Nur nicht zerschneiden soll der Herr Doctor die Stricke.«
»Warum?«
»Sie müssen ganz bleiben, weil wir diesen braven Rallion damit binden müssen.«
»Ach so! Soll das wirklich geschehen, Herr Doctor?«
»Fritz hat Recht,« antwortete Müller. »Wir müssen diesen Menschen wenigstens für so lange unschädlich machen, als wir uns hier befinden.«
Er begann also die Knoten der Stricke zu lösen und erkundigte sich dabei:
»Aber wie sind Sie in die Hände dieser beiden Elenden gefallen, jetzt, am hellen Tage?«
Sie erzählte es und fragte dann:
»Und wie konnten Sie wissen, daß ich mich in dieser schrecklichen Gefahr befand?«
»Davon nachher. So, jetzt sind Sie frei. Bitte, treten Sie hinaus in den Gang, während wir Rallion binden.«
Sie berücksichtigte diese Bitte. Rallion, welcher noch ohne Bewußtsein war, wurde gefesselt, wie vorher Marion es gewesen war; dann zog Müller seinen Schlüssel und schloß ihn ein, ließ ihm aber die brennende Laterne in der Zelle.
»Was nun?« fragte jetzt Fritz. »Sie sagten doch vorhin, daß auch Ihr – –«
Müller warf ihm einen warnenden Blick zu und fiel ihm dabei in die Rede:
»Behalten wir unsere Besonnenheit! Vor allen Dingen muß ich wissen, wie dieser Gang mit den übrigen Gängen in Verbindung steht. Sehen konnten Sie nichts, gnädiges Fräulein?«
»Nein.«
»Aber hören?«
»Vieles habe ich nicht vernommen. Ich bekam fast gar keinen Athem; es rauschte mir in den Ohren und dann verlor ich die Besinnung. Als ich erwachte, befand sich dieser entsetzliche Rallion bei mir.«
»Darf ich nicht das Wenige wissen, was Sie hörten?«
»Man hatte mich auf kalte, feuchte Steine gelegt und da sprachen sie von einem Brunnen.«
»Ah!
»Von da, wo sie sich befanden, war, wie der Capitän sagte, ein Gefangener entkommen, den er dann bei Bertrand wiedergesehen hat.«
»Das ist der Maler gewesen.«
»Der Brunnen war nur scheinbar ein Brunnen.«
»Ich war dort; ich habe ihn gesehen.«
»Ich auch,« fügte Fritz hinzu. »Was soll es denn sein, wenn es kein Brunnen ist?«
»Ein Eingang. Es sind Eisenstangen eingefügt, auf welche man treten kann.«
»Dann muß aber die oberste dieser Stangen so tief unten sein, daß man sie mit der Hand nicht erreichen kann.«
»Das eben sagte der Capitän.«
»Hat man Sie da hinabgetragen?«
»Die Beiden stiegen hinunter; ich wurde an einem Stricke hinabgelassen.«
»Wo ging es denn hin?«
»Ich hörte sagen, daß in halber Tiefe des Brunnens sich ein Gang öffene. Da hinein wird man mich gebracht haben, wie ich vermuthe.«
»Aber dieser Gang liegt in gleichem Niveau mit den anderen Gängen – –«
»Ich habe gefühlt, daß ich eine Reihe von Stufen emporgetragen wurde.«
»Ah so! Hörten Sie vielleicht Thüren öffnen?«
»Nein.«
»Schön, das genügt! Wir Beide, gnädiges Fräulein, werden auf diesem Wege zurückkehren.«
»Wohin?«
Und ehe Müller noch antworten konnte, fiel Fritz ein:
»Aber warum denn nicht zu unserm Loche hinauf, Herr Doctor?«
»Ich habe meine Absicht. Da hinauf wirst Du mit dem anderen Gefangenen müssen.«
»Noch ein Gefangener?« fragte Marion.
»Leider, ja!«
»Natürlich befreien wir ihn?«
»Selbstverständlich!«
»Wo befindet er sich?«
»Gar nicht weit von hier. Bitte, wollen Sie hier warten?«
»Warum soll ich nicht mit?«
»Der Anblick der Zelle und des Gefangenen ist zu gräßlich für Sie.«
»Alles, was Sie thun, Herr Doctor, ist wohl überlegt und gut, ich muß Ihnen gehorchen. Aber hier diese Finsterniß!«
»Wir werden Ihnen eine der Laternen zurücklassen.«
»Aber bleiben Sie nicht lange!«
Die Beiden schritten weiter in den Gang hinein.
»Warum darf sie nicht mit?« fragte Fritz leise. »Weil ich um Dich besorgt war.«
»Um mich?«
»Ja. Hättest Du nicht vorhin beinahe Alles verrathen?«
»Verzeihung, Herr Doctor!«
»Von meinem Vater zu sprechen!«
»Aber es muß doch herauskommen!«
»Doch jetzt noch nicht!«
»Ich denke dennoch. Wenn wir ihn hin zu ihr bringen.«
»Wieso denn?«
»Nun, er wird Sie doch seinen Sohn nennen!«
»Nein.«
»Ah!«
»Ich sage ihm gar nicht, daß ich sein Sohn bin.«
»Herr Doctor, bringen Sie das übers Herz?«
»Ja.«
»Das glaube ich kaum!«
»Es muß aber sein. Ich habe mit Schmerzen nach ihm gesucht und jetzt, da ich ihn finde, will mir das Herz vor Wonne zerspringen; aber ich muß schweigen.«
»Ich sehe doch keinen Grund!«
»Es giebt mehrere Gründe. Zunächst soll Marion noch nicht wissen, wer und was ich bin und sodann muß ich den Vater schonen. Er ist kaum noch lebendig zu nennen. Der Gedanke, frei zu sein, wird ihn überwältigen. Hört er, daß ich sein Sohn bin, so kann ihn die Freude geradezu tödten. Man muß ihm das Glück nur in Portionen reichen. Das klingt beinahe herzlos, aber Du kennst mich; Du weißt, daß ich ein Herz habe.«
»O, Herr Doctor, was das betrifft, so ist – – ah, das Licht nähert sich, Mademoiselle kommt also!«
Es war so; Marion kam ihnen nach.
»Zürnen Sie nicht!« bat sie. »Ich war allein und Sie standen berathend bei einander, ich glaubte, es gebe irgend eine Gefahr.«
»Es giebt keine,« beruhigte sie Müller. »Aber, da Sie nun hier sind, so sollen Sie auch bleiben. Doch müssen Sie sich auf Schreckliches gefaßt machen.«
»Schrecklicher kann es nicht sein als die Einsamkeit in diesen Gängen!«
Müller zog den Schlüssel und öffnete. Er holte tief, tief Athem. Er mußte seine ganze Selbstbeherrschung zusammen nehmen, um nicht unter lautem Schluchzen sich dem Vater erkennen zu geben.
Der Gefangene bewegte sich nicht, als der Schein des Lichtes abermals in seine Zelle drang. Aber bei dem Anblicke dieses Elendes stieß Marion einen lauten Schrei des Entsetzens aus.
»Vater im Himmel!« sagte sie. »Liegt hier ein Mensch?«
»Leider!« stieß Müller hervor, indem er die Zähne zusammenbiß.
Bei dem Klange der weiblichen Stimme hob der Gefangene den Kopf.
»Ein Weib! Wahrhaftig, ein Weib!« stammelte er. »Was willst Du von mir?«
Sie trat trotz des entsetzlichen Gestankes näher und sagte:
»Ich bringe Ihnen die Freiheit.«
»Die Freiheit? O, welcher Hohn!«
»Es ist kein Hohn; es ist die Wahrheit!«
Er richtete sich weiter auf und fragte mit zitternder Stimme:
»Weib, Mädchen, betrüge mich nicht!«
Und Müllers Stimme zitterte nicht weniger, als er bestätigte:
»Man betrügt Sie nicht; es ist die Wahrheit.«
Er hatte diese Worte in deutscher Sprache gesprochen. Darum fuhr der Gefangene auf:
»Was höre ich? Man spricht deutsch? Deutsch, deutsch! Mein Gott, wie lange habe ich diese Klänge nicht gehört!«
Und laut weinend brach er wieder zusammen.
Marion weinte mit. Fritz schluchzte und Müller preßte die Zähne zusammen, aber die Thränen flossen ihm doch über die Wangen herab.
»Haben Sie nicht vorhin dem Capitän gesagt, daß Deutsche kommen würden, um Ihnen die Freiheit zu bringen?« stieß er dann hervor.
»Ja, das sagte ich. Haben Sie es gehört?«
»Ich stand in der Nähe und lauschte. Ich glaube, so ähnlich verstanden zu haben. Wo hängen die Schlüssel zu Ihren Fesseln?«
»Dort unter der Peitsche.«
Erst jetzt erblickte Müller die Peitsche.
»Eine Peitsche!« rief er aus. »Sind Sie etwa geschlagen worden? Schnell, schnell, sagen Sie es!«
Der Gefangene schüttelte den Kopf, aber er antwortete nicht.
»Sagen Sie es!« drängte Müller.
»Kann der Todte sagen, daß er gestorben ist?«
»Herr, mein Gott! Ja, Sie haben Recht! Sie können nicht davon sprechen! Aber wehe Dir, alter Satan! Du sollst jeden Hieb zehnfach empfinden! Diese Peitsche wird mit uns gehen. Der Name Königsau, welcher durch sie befleckt worden ist, soll – –«
Er hielt inne. Der Grimm hatte ihn vermocht, diesen Namen zu nennen. Der Gefangene aber näherte sich rasch, so weit als die Ketten und seine Kräfte es erlaubten, und fragte:
»Was war das? Welchen Namen nannten Sie?«
»Königsau,« antwortete Müller, da es nun nicht mehr zu umgehen war.
»Wirklich! O, ich hatte doch recht gehört! Kennen Sie diesen Namen?«
»Ich kenne ihn.«
»Können Sie mir von der Familie sagen?«
»Ja, so bald Sie von hier fort sind.«
»Fort, fort, fort? Ich soll wirklich fort? Ich soll wirklich frei sein?«
»Ja. Hier sind die Schlüssel. Ihre Ketten werden fallen.«
»Gott, mein Gott, mein Gott!«
Er schlug die gefesselten Hände vor das Gesicht; dann sanken sie langsam herab, und er glitt wieder in den entsetzlichen Schmutz.
»Er ist ohnmächtig!« sagte Marion weinend.
»Er wird wieder zu sich kommen,« suchte Müller mehr sich als sie zu beruhigen.
Dabei kniete er neben den Besinnungslosen nieder und schloß ihm die eisernen Handschellen auf. Dann trug er ihn heraus in den Gang und schloß die Thür zu.
»Wollen ihn untersuchen!« sagte Fritz.
»Nein,« antwortete Müller. »Wir haben keine Zeit zu verlieren. Du mußt mit ihm hinauf in die freie, frische Luft. Komm! Kommen Sie, gnädiges Fräulein!«
»Ich bin wie im Traume,« sagte sie.
»Sie werden fröhlich erwachen.«
Er nahm seinen Vater auf die Arme und trug ihn fort bis unter das Loch.
»Wie ihn aber hinaufbringen?« fragte Fritz.
»Zieh Deinen Rock aus. Wir knöpfen ihn hinein. Dann ziehst Du ihn am Seile empor.«
Das wurde gemacht. Fritzens Rock wurde wie ein Tuch benutzt, in welches der Ohnmächtige geknöpft wurde. Dann stieg der Erstere empor und zog. Als die Last oben angekommen war, bat Müller:
»Gedulden Sie sich einen einzigen Augenblick, gnädiges Fräulein! Ich kehre gleich zurück.«
Er schwang sich am Seile hinauf und untersuchte den Vater.
»Wie steht es?« fragte der besorgte Pflanzensammler.
»Er lebt. Er ist außerordentlich schwach. Wenn er erwacht und fragt, so sagst Du ihm noch nichts.«
»Aber wenn er fragt, wer wir sind?«
»Du bist Pflanzensammler und ich bin Hauslehrer. Im Uebrigen verweisest Du ihn auf mich.«
»Und hier soll ich warten?«
»Nein. Bis Vater erwacht, trägst Du die Stämme fort. Dann suchst Du mit ihm nach dem Waldloche zu kommen, wo wir uns treffen werden.«
»Aber warum kommen Sie nicht gleich mit?«
»Weil ich jetzt dem Verstande mehr zu gehorchen habe als dem Herzen. Ich will, noch ehe der Alte wieder kommt, mit Marion zu ihrer Mutter.«
»Zu Liama?«
»Ja. Wir nehmen sie mit.«
»Sapperment! Welch ein Schlag für den Alten! Wohin werden sie geschafft?«
»Das wird sich finden! Spute Dich jetzt und gieb Dir Mühe, nicht gesehen zu werden!«
Er küßte den Vater auf die eingefallene Wange und ließ sich dann am Seile hinab, welches Fritz sofort wieder hinaufzog.
»Ich hatte bereits wieder Sorge,« gestand Marion.
»Sie müssen entschuldigen! Ich wollte wissen, ob der Schwächezustand dieses armen Menschen Befürchtung erregend ist.«
»Wie haben Sie ihn gefunden?«
»Er wird sich erholen.«
»Gott sei Dank! Also er ist ein Königsau?«
»Ja.«
»So erklären Sie mir, wie – –«
»Bitte, bitte!« unterbrach sie Müller. »Heben wir das für später auf. Jetzt muß es unsere Sorge sein, in Sicherheit zu kommen, bevor der Capitän zurückkehrt. Wir müssen eilen. Sind Sie bei Kräften?«
»Ich bin bei Ihnen und da geht es!«
»Stützen Sie sich auf meinen Arm!«
Sie legte ihren Arm in den seinigen und nun schritten sie in den Gang hinein. Dabei flüsterte sie:
»Wenn uns nun der Capitän entgegenkommt?«
»Er hat uns mehr zu fürchten, als wir ihn. Auf alle Falle nehme ich es mit ihm auf!«
Sie erreichten die Stufen, welche sie hinabstiegen. Dann ging es wieder eben fort, bis sie die Stelle erreichten, wo der Gang in den Brunnen mündete. Müller leuchtete hinauf.
»Also hier herunter sind Sie gekommen? Nun, da werden wir wohl auch hinaufgelangen.«
»Die Eisenstäbe sind stark,« bemerkte Marion, indem sie einen der Stäbe befühlte.
»Und nur in Fußweite auseinander. Das läßt sich bequem steigen. Wollen Sie es wagen?«
»Gewiß. Es ist kein Wagniß, sondern fast bequemer als eine Leiter.«
»Nur oben werden Sie sich meiner Hand anvertrauen müssen. Also bitte!«
Sie kamen glücklich in dem runden Brunnenraume an. Von hier aus öffnete Müllers Schlüssel die Thüren, so, daß sie nun in den Kreuzgang gelangten. Da bog Müller links ab und als er um die Ecke getreten war, blieb er stehen und sagte:
»Jetzt endlich können Sie ein Wenig ruhen. Nun mag der Capitän zurückkehren; er kann uns nicht mehr begegnen.«
»Wissen Sie das sicher?« fragte sie.
»Ja,« antwortete er. »Der Capitän kommt von rechts da hinten und geht nach links. Hier herüber kommt er nicht. Uebrigens fürchten wir ihn ja nicht.«
»Gott sei Dank!«
Er fühlte, daß sie sich schwerer auf seinen Arm legte. Sie war doch nicht so stark, wie sie sich den Anschein gegeben hatte. Nur in seiner Nähe hatte sie Muth gefunden. Jetzt war es ihr nun, als müsse sie vor Schwäche zusammenbrechen.
Er hörte einen tiefen, tiefen Athemzug.
»Wird Ihnen übel, Mademoiselle?« fragte er.
»So schwach!« hauchte sie.
Da wagte er es, den Arm um ihre Taille zu legen, um sie besser stützen zu können. Da legte sie ihm die Hand auf die Achseln und das Köpfchen an seine Brust.
»Monsieur Müller!« klang es leise.
»Mademoiselle!« flüsterte er zurück.
»Wie oft retteten Sie mich!«
»O, noch tausend, tausend Male, wenn es möglich wäre!«
»Ich glaube es. Sie sind meine Vorsehung!«
Das kleine Köpfchen preßte sich fester an seine Brust. Und als er nicht antwortete, fuhr sie leise fort:
»Wissen Sie noch, als ich Sie im Steinbruche traf?«
»Ja.«
»Und was Sie mir da sagten?«
»Ich weiß es noch.«
»Sie versicherten, mich zu lieben!«
»Ich wagte das.«
»Und es war wahr?«
»Gewiß, o gewiß!«
»Ist es jetzt anders?«
»Nein, gnädiges Fräulein. Meine Liebe wird nur mit meinem Leben sterben!«
»Haben Sie vielleicht geglaubt, daß ich Ihnen wegen dieser Liebe zürne?«
»Muß ich es denn nicht glauben?«
»Warum?«
»Sie, das von Gott mit allen Gaben begnadete Kind der Aristokratie, und ich – – ah!«
»Bitte, geben Sie mir einmal Ihre Hand!«
Sie hatte die Linke noch immer auf seiner Achsel liegen. Jetzt ergriff sie mit der Rechten seine Hand und sagte:
»Ich fühle mich jetzt ganz und gar nicht als Aristokratin. Ich bin recht arm und elend, so arm und elend wie selten Eine. Was ich jetzt besitze, das ist Ihr Schutz und Ihre Freundschaft. Was wäre ich ohne Sie! Herr Müller, ich wollte, es bliebe so! Ich möchte stets nirgends weiter als bei Ihnen und mit Ihnen sein!«
Sie schwieg und erwartete seine Antwort. Sie kam sich in diesem Augenblicke so hilflos und verlassen vor, und doch wußte sie, daß er nie das erste Wort sprechen werde. Darum hatte sie es jetzt gesprochen.
Es dauerte eine Weile, ehe er antwortete:
»Mademoiselle Marion, haben Sie diese Worte geprüft, ehe Sie sie aussprachen?«
»Nein. Herzensworte braucht man nicht zu prüfen.«
»O doch! Ich bin arm!«
»Sie sprachen von einer Stelle, welche Sie haben.«
»So tief dürfen Sie nie herabsteigen!«
»Ich steige nicht herab, sondern zu Ihnen hinauf.«
»Und ich bin nicht nur arm, sondern – – –«
»Sondern – – –?«
»Ich bin nicht wohlgestaltet.«
»O, sprechen Sie nicht davon. Man liebt an dem Manne ja vor allen Dingen den Geist, das Herz!«
»Wenn Sie wüßten, in welche Versuchung Sie mich führen.«
»Folgen Sie dieser Versuchung!«
Da beugte er sich zu ihr herab.
»Ist das Ihr Ernst, Marion?«
»Ja, mein größter heiligster Ernst.«
Sie erwartete, daß er sie jetzt in heißer Liebe umschlingen werde, und sie hätte ihm mit Freuden den Mund zum Kusse geboten; aber statt dessen erklang es mahnend:
»Und jene Photographie?«
»Welche Photographie?«
»Welche Ihnen im Steinbruche entfiel.«
Er hatte die Laterne eingesteckt. Es war vollständig finster, und darum sah er nicht, welche glühende Röthe sich bei diesen Worten über ihr Angesicht verbreitete. Aber er fühlte, daß ihre Hand leise erzitterte.
»Die ich Ihnen dann zeigte?« fragte sie.
»Ja, die Photographie des preußischen Ulanenoffiziers.«
»Was ist's mit ihr?«
»Enthält sie nicht die Züge, welche Sie im Herzen getragen haben?«
Sie schwieg und erst nach einer Weile fragte sie:
»Warum sagen Sie mir das? Jetzt, jetzt?«
»Weil ich ehrlich gegen Sie sein will.«
»Sie sind nicht ehrlich gegen mich, sondern grausam gegen sich selbst!«
»Und Sie, Mademoiselle, sind dankbar gegen mich und halten diese Dankbarkeit für ein zärtlicheres Gefühl.«
Ihr Köpfchen zog sich langsam von seiner Brust zurück, und ihre Hand sank von seiner Schulter. Sie fühlte in diesem Augenblicke, daß sie diesem äußerlich unscheinbaren und geistig doch so überlegenen Manne zu Eigen sein müsse für ihr ganzes Leben; aber sie hatte den kühnen Schritt gethan, durfte sie weiter gehen?
Und er, als er fühlte, daß sie sich zurückzog, sagte sich, daß er mit seinen Worten Recht gehabt habe. Ihm wollte sie dankbar sein, aber den Offizier liebte sie.
»Meinen Sie nicht, daß Sie sich irren?« fragte sie noch.
»Nein.«
»Es war ja nur ein Phantom, eine Fata morgana.«
»Aber eine unvergeßliche. Ich habe Ihnen den Namen dieses Offiziers genannt, da ich die Familie zufällig kenne. Heute finden Sie einen Königsau in den unterirdischen Kerkern von Ortry. Können Sie wirklich sagen, daß Sie die Herrin Ihres Herzens sind?«
»Sind Sie nicht gar zu viel der Herr des Ihrigen?«
»Seien Sie gnädig, Mademoiselle. Geben Sie diesem Herzen Zeit! Das Ihrige wird ja sogleich auf das Außerordentlichste in Anspruch genommen werden.«
»Wodurch?«
»Ich stehe im Begriff, Sie zu Jemand zu führen.«
»Zu wem?«
»Errathen Sie es nicht?«
»Nein.«
»Ich will Ihnen beweisen, daß ein körperliches Wesen kein Geist ist.«
»Gott! Sie meinen meine Mutter?«
»Ja.«
»Sie behaupten noch immer, daß sie lebt?«
»Sie befindet sich hier in der Nähe.«
»Und ich soll sie sehen?«
»Fühlen Sie sich stark genug dazu?«
»O ja, ja, ja! Kommen Sie; kommen Sie schnell!«
»Warten Sie noch! Es liegt mir nämlich sehr daran, sie von hier zu entfernen. Sie soll einsehen, daß sie dem alten Betrüger ihr Versprechen nicht zu halten braucht.«
»Wohin wollen Sie sie bringen?«
»Dahin, wo ich Sie morgen hin begleiten werde. Errathen Sie auch das nicht?«
»Nein.«
»Bitte, denken Sie an den Brief, welchen Sie mir zu lesen gaben!«
»Ah, nach Malineau?«
»Ja.«
»Zu Ella von Latreau?«
»Zu dieser Ihrer Freundin. Der Vater derselben, der General, wird Sie gern in seinen Schutz nehmen. Bei ihm sind Sie sicher vor jeder Gefahr, auch sicher vor Rallion und dem Capitän.«
»Sie haben Recht, sehr Recht!« sagte sie schnell. Aber langsamer fügte sie hinzu: »Aber Sie –?«
»Ich kann allerdings nicht in Malineau bleiben; aber wir werden uns wiedersehen.«
»Wirklich?«
»Ja, sicher.«
»Wann?«
»Das ist nicht genau zu bestimmen.«
»Wohin werden Sie gehen?«
»Mein Beruf führt mich in nächster Zeit nach Paris.«
Er dachte dabei an einen siegreichen Einzug in die französische Hauptstadt; sie ahnte das nicht und bat also:
»Aber Ihre Adresse werden Sie mir zurücklassen!«
»Ich kenne sie jetzt selbst noch nicht, werde sie Ihnen aber dann sicher mittheilen. Aber jetzt, bitte, gehen wir weiter!«
Er zog seine Laterne wieder hervor. Nach den ersten Schritten blieben sie wieder stehen.
»Monsieur Müller!« sagte sie zaghaft.
»Mademoiselle!«
»Lebt sie wirklich?«
»Ja, sie lebt.«
»O Gott, o Gott! Fühlen Sie hier!«
Sie führte seine Hand an ihr Herz, welches er schlagen fühlte. Er fragte besorgt:
»Sind Sie wirklich stark genug?«
Ihr Angesicht war jetzt tiefblaß; sie blickte ihn mit großen, dunklen Augen zögernd an und sagte dann:
»Ja, ich bin stark genug, denn ich habe Sie bei mir.«
Ohne ein weiteres Wort zu sagen, schritt er mit ihr vorwärts. Die Thür, welche bei seinem vorigen Besuche offen gestanden hatte, war jetzt verschlossen. Er zog den Schlüssel hervor und öffnete.
Der Raum, welchen er bereits gesehen hatte, war durch eine Lampe erleuchtet. Liama saß mit gekreuzten Beinen nach orientalischer Weise am Boden und ließ die Gebetkugeln durch die Finger gleiten. Sie hielt den Rücken gegen die Thür gerichtet und bewegte sich auch dann nicht, als sie hörte, daß diese geöffnet wurde.
Marion war draußen im dunklen Gange stehen geblieben, Müller aber trat herein.
»Liama!« sagte er.
Sie mochte doch sofort hören, daß dies nicht die Stimme des Capitäns sei. Sie wandte den Kopf. Als sie den Deutschen erblickte, sprang sie schnell auf.
»Du?« fragte sie.
»Ja, ich,« antwortete er, ihr freundlich zunickend.
»Warum kommst Du wieder?«
»Weil ich mit Dir sprechen will.«
»Habe ich Dich nicht gewarnt?«
»Ich fürchte ihn nicht.«
»Der Weißbart ist schrecklich in seinem Grimm!«
»Ich verachte seinen Grimm.«
»So mußt Du sehr mächtig sein.«
»Ich bin nicht mächtig, aber ich habe ein gutes Gewissen, während das seinige nie zur Ruhe kommt.«
»Er selbst hat keine Ruhe. Er wandelt stets. Er kann auch jetzt kommen und dann bist Du verloren!«
»Er hat mich mehr zu fürchten, als ich ihn. Er ist ein Lügner und Betrüger. Er betrügt auch Dich.«
»O nein. Mich betrügt er nicht. Allah verlieh mir klare Augen. Ich würde es sehen, wenn er mich täuschte.«
»Und dennoch betrügt er Dich. Er ist Dein Feind und ein Feind Deines Kindes.«
»Meines Kindes? Nein. Er hat mir versprochen, Marion zu schützen und er wird Wort halten.«
»Er hat sein Wort gebrochen. Er trachtet, Uebles mit Deiner Tochter zu thun. Ich habe mit ihr gesprochen.«
»Du hast sie gesehen? Spricht sie von Liama, ihrer Mutter?«
»Sie spricht von Dir und will Dich sehen.«
»Nein, nein, sie darf mich nicht sehen. Ich habe es geschworen.«
»Und er hat dafür geschworen, sie zu schützen?«
»Er hat es geschworen bei Allah und bei seinem Gotte.«
»Er hat den Schwur gebrochen.«
»Beweise es!«
»Hier!«
Er trat zur Seite. Hinter ihm stand Marion unter der Thür. Liama starrte sie mit weit geöffneten Augen an. Dann breitete sie langsam die Arme aus und fragte:
»Wer ist das? Wen bringst Du da? Wer ist dieses herrliche Bild der Unschuld und Jugend?«
»Mutter!«
Dieses eine Wort nur sprach Marion, dann eilten Beide sich entgegen und lagen sich in den Armen.
Müller trat aus der Thür und machte dieselbe zu. Er wollte die Seligkeit der Beiden nicht durch seine Gegenwart entweihen und lieber Wächter ihrer Sicherheit sein. Jubelnde und klagende Töne erklangen drin in dem Raume. Niemand schien an ihn zu denken. Er zog die Uhr. Eine Viertelstunde verging und noch eine. Da wurde die Thür geöffnet.
»Bist Du noch da?« fragte Liama heraus.
»Hier!«
»Komm herein!«
Er trat ein und zog die Thür hinter sich zu. Die einstige Maurin war eine ganz Andere geworden. Ihre Augen blitzten und ihre Wangen hatten sich geröthet.
»Was Du mir gesagt hast, das ist wahr,« sagte sie. »Warst Du es, der mein Grab öffnete?«
»Ja.«
»Wer war dabei?«
»Hassan, der Zauberer.«
»Ich dachte es; ich hatte ihn erkannt. Du willst es, daß Marion vor dem Weißbart fliehen soll?«
»Ja.«
»Und ich soll mit ihr gehen?«
»Ja.«
»Wann soll ich gehen?«
»Jetzt, sogleich.«
»Gut. Ich gehorche Dir. Mein Schwur hat keine Giltigkeit, denn er hat den Seinigen gebrochen.«
»Bist Du das Weib des Barons gewesen?«
»Nie.«
»Ah, unbegreiflich!«
»Liama hat ihn nie geliebt. Ich mußte ihm folgen, um den Vater und den Geliebten zu retten, aber nicht der Kadi hat mich ihm gegeben und von einem Eurer Priester habe ich keinen Segen verlangt.«
»So ist Marion nicht seine Tochter?«
»Nein. Er durfte mich nie berühren.«
»Wessen Tochter ist sie dann?«
»Das werde ich ihr sagen, wenn die Zeit dazu gekommen ist. Wohin ist Abu Hassan gegangen?«
»Ich weiß es nicht.«
»Auch nicht, ob er wiederkommen wird?«
»Auch nicht. Aber warum bist Du bei dem Baron geblieben?«
»Ich hatte es ihm geschworen und er bedurfte meiner, wenn der Wahnsinn seinen Geist verfinsterte.«
»Wie aber kam es, daß Du sterben mußtest?«
»Ich sollte es nicht wissen, aber ich habe es belauscht. Eine Andere liebte den Baron. Sie wurde sein Weib, und ich mußte weichen.«
»Ich habe es mir gedacht. Du folgst mir also. Hast Du Etwas mitzunehmen?«
»Nein, gar nichts.«
Da fragte Marion:
»Werde ich wieder in das Schloß zurückkehren?«
»Nein, Mademoiselle.«
»Aber ich habe doch Manches, was ich mitnehmen muß.«
»Ich werde es Ihnen besorgen. Wir gehen jetzt zu Doctor Bertrand. Dort schreiben Sie Alles auf, was Sie brauchen. Können wir also gehen?«
»Ja.«
Liama ließ die Lampe brennen und Alles stehen und liegen, wie es stand und lag. Sie erfaßte die Hand ihrer Tochter und sagte:
»Komm, mein Kind. Fluchen wir dem alten Graubart nicht. Allah wird ihn treffen mit seinem Zorne und ihn vernichten mit seinem Grimme!«
Müller schritt mit der Laterne voran und sie folgten ihm durch den Gang bis hinaus in das Waldloch. Es war unterdessen dunkel geworden und man konnte nicht weit sehen. Schon wollte Müller einen Ruf nach Fritz ausstoßen, als er daran verhindert wurde.
»Pst!« erklang es hinter einem Baume hervor.
»Fritz?«
»Ja. Ah, ich konnte Sie doch nicht sogleich erkennen.«
Er trat zu ihm heran. Müller erkundigte sich:
»Ist – der Gefangene mit da?«
»Ja. Er liegt dort im Moose und schläft. Die frische Luft ermüdet ihn.«
»Hat man Euch gesehen?«
»Kein Mensch. Ich habe den – – den Herrn bis hierher tragen müssen. Es ist ein Herzeleid, wie es ihm ergangen ist.«
»Wie lange ist er gefangen gewesen?« fragte Marion.
»Volle sechszehn Jahre.«
»Und diese Ewigkeit hat er in dieser Zelle gesteckt?«
»Ja.«
Sie schlug die Hände zusammen, fühlte sich aber unfähig, ein Wort zu sagen.
»Führe uns zu ihm!« bat Müller.
Fritz brachte sie eine Strecke weiter in den Wald hinein, wo Gebhardt von Königsau schlafend lag. Sein Athem ging ruhig. Man merkte förmlich, daß bei jedem Athemzuge Erquickung in seinen Körper strömte.
»Lassen wir ihn schlafen!« sagte Müller.
»Aber dürfen wir hier warten?« bemerkte Fritz.
»Kann er nach der Stadt gehen? Und darf Liama in ihrer orientalischen Kleidung gesehen werden? Eile Du, so schnell Du kannst, zu Doctor Bertrand; spanne seinen Wagen an und komme heraus, uns abzuholen!«
»Schön! Wo treffe ich Sie?«
»Drüben am Waldesrande, wo der Vicinalweg vorüber geht.«
»Und wenn Bertrand fragt – –?«
»Du sagst nichts.«
»Oder das gnä – – wollte sagen, Miß de Lissa?«
»Kein Wort! Beeile Dich! Wir haben heute noch sehr viel zu thun!«
Der treue Kerl eilte fort, so schnell er vermochte. Die Andern ließen sich im Grase und Moose nieder, Marion neben der Mutter und Müller neben seinem Vater. Er bewachte dessen Athemzüge, während Mutter und Tochter, die Arme eng verschlungen, leise mit einander flüsterten.
Müller wollte nichts hören, aber es drang doch, wenn auch nur schwer verständlich, zu ihm herüber:
»Und Du liebst ihn, mein Kind?«
»So sehr, so sehr!«
»Er ist es werth!«
Von wem sprachen sie? Müller veränderte seinen Platz, so daß er nichts mehr zu hören vermochte. –
*