Gregor Samarow
Kreuz und Schwert
Gregor Samarow

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Vierundzwanzigstes Kapitel

Etwa zwei Stunden nach der Ankunft des Kaisers im Lager von Chalons war seine Equipage und sein Gefolge angekommen.

Doktor Nélaton und Baron Larrey hatten sich in das Kabinett des Kaisers begeben und waren längere Zeit bei demselben geblieben.

Dann war Napoleon in dem großen Empfangszimmer des kaiserlichen Pavillons erschienen. Er hatte Toilette gemacht, und wenn auch sein Gesicht noch immer bleich und abgespannt war, wenn seine Blicke auch trübe den Boden 449 suchten, so war doch seine ganze Haltung und Erscheinung kräftiger und frischer als bei seiner Ankunft.

Der Kaiser hatte befohlen, daß man den kaiserlichen Prinzen nicht wecken solle, und zugleich den Marschall Mac Mahon rufen lassen, um mit ihm über die nächsten militärischen Operationen zu sprechen.

Der Marschall befand sich bereits in dem Empfangszimmer, mit ihm der Prinz Napoleon, der General Castelnau, der General Reille, der Fürst von der Moskwa und der General Vauberg de Genlis.

Napoleon begrüßte den Kreis der Generale mit einem Anflug seiner früheren liebenswürdigen und gewinnenden Freundlichkeit. Er schritt zum Marschall Mac Mahon, reichte ihm die Hand und führte ihn zu dem in der Mitte des Zimmers stehenden großen Tisch.

»Ich bitte Sie, Herr Herzog,« sagte Napoleon, indem er dem Marschall einen Stuhl vor der Mitte des Tisches bezeichnete und sich selbst zur Seite desselben niederließ, »ich bitte Sie, den Kriegsrat zu eröffnen und demselben zu präsidieren. Sie führen das Kommando, ich habe hier keine militärische Autorität. Ich wünsche nicht als General, sondern als Souverän des Landes diesem Kriegsrat beizuwohnen – und auch nur«, fügte er mit einem matten, traurigen Lächeln hinzu, »als Souverän in partibus, denn ich habe ja meine Regierungsgewalt in die Hände der Regentschaft gelegt.«

»In der einen oder der anderen Form«, sagte der Marschall Mac Mahon, indem er sich mit einer Verneigung gegen den Kaiser auf den Stuhl setzte, »wird das Schicksal Frankreichs immer in den Händen Eurer Majestät liegen und Ihre endliche Entschließung wird immer maßgebend sein; sowohl die Regentschaft als das Armeekommando wird doch nur kraft Ihres Auftrags und Ihres Willens geführt, und jede Autorität verschwindet, wenn die Grundlage dieses Willens ihr entzogen wird.«

Der Kaiser antwortete nicht, sondern machte nur eine Bewegung mit der Hand, welche den Marschall aufzufordern schien, die Entwickelung seiner Meinung über die gegenwärtige Sachlage zu beginnen. Dann zog er einen 450 Bogen Papier und einen Bleistift, welche auf dem Tisch lagen, zu sich heran und begann, den Kopf tief herabbeugend, unregelmäßige und verworrene Linien zu zeichnen, während der Prinz Napoleon und die übrigen Generale an dem Tisch Platz nahmen.

»Sire,« sagte der Marschall, »nach meiner Überzeugung ergibt sich der Plan, nach welchem die Operationen dieser Armee geleitet werden müssen, mit unabweisbarer Notwendigkeit aus der Situation selbst. Der Marschall Bazaine hat seinen Rückzug hierher begonnen, der Feind versucht denselben zu hindern, der Marschall ist scharf engagiert. Er ist infolge einer bewunderungswürdigen kombinierten Bewegung der preußischen Armeen von verschiedenen Seiten angegriffen, und ich fürchte, daß sein Rückzug gehindert, und er gezwungen werden wird, sich nach Metz zurückzuziehen.«

»Das wäre sehr traurig«, sagte der Kaiser.

»Man muß hoffen, Sire, daß es nicht geschieht«, fiel der Marschall schnell ein. »Ich hoffe immer das Beste, aber um Entschlüsse zu fassen, muß man auch vor allem den möglichst ungünstigen Ausgang ins Auge fassen, und nach den Nachrichten, welche von Metz hierher dringen, kann ich kaum darauf rechnen, daß es der Armee gelingen werde, ihren Rückzug auszuführen. Aber die Vereinigung beider Armeen ist von hoher Wichtigkeit für das fernere Schicksal des Krieges.«

»Man müßte von hier aus vorrücken, um Bazaine Hilfe zu bringen«, sagte der schlanke General Castelnau, indem er das scharf geschnittene Profil seines Gesichtes dem Marschall zuwandte und sein dunkles, lebhaftes Auge fragend auf denselben richtete.

Der Prinz Napoleon zuckte die Achseln und trommelte ungeduldig mit den Fingern seiner vollen fleischigen Hand auf dem Tisch, während der Kaiser, ohne aufzublicken, mit dem Bleistift seine Linien über das Papier zog, Linien, welche sich nicht, wie das sonst wohl zu geschehen pflegte, unter seiner Hand zu Adlerflügeln und Krallen gestalteten, sondern welche verworren und bunt durcheinander liefen, vielfach sich kreuzend und durchschneidend, ohne irgendein Bild zu zeichnen.

451 »Von hier aus Bazaine entgegenzumarschieren,« sagte der Marschall ruhig, indem er auf die Bemerkung des Generals Castelnau erwiderte, »würde ich für eine sehr fehlerhafte Bewegung halten. Wir würden niemals schnell genug dorthin gelangen können, um Bazaines Armee in ihren gegenwärtigen Engagements zu Hilfe zu kommen. Ich habe mir die größte Mühe gegeben, in diesen Tagen die ganze hier vereinigte, schwer erschütterte Armee neu zu organisieren und auch moralisch ihren Mut, ihr Vertrauen und vor allen Dingen ihre Disziplin zu stärken. Eure Majestät«, sagte er, sich zum Kaiser wendend, »werden sich selbst überzeugen können, daß mir namentlich das letztere noch nicht vollständig gelungen ist, und daß die traurige Folge aller Niederlagen, die Auflösung der Disziplin, noch immer ihren so schädlichen und verderblichen Einfluß ausübt. Auch heute ist die Armee noch nicht wieder vollständig schlagfertig, und wenn sie es wäre, so würde es immerhin unmöglich sein, in die Kämpfe, welche jetzt vor Metz stattfinden, noch entscheidend und wirksam einzugreifen. Einen Marsch dorthin auch nur zu versuchen, scheint mir daher eine vollkommen unnütze Verschwendung von Zeit und ein neues Hemmnis in der so absolut notwendigen Rekonstruierung der innern Armee von Chalons. Wenn es dem Marschall Bazaine gelingt, sich die freie Rückzugslinie zu öffnen, so wird er es sein, der sich hier mit uns vereinigt. Gelingt es ihm nicht, so würde unser Vormarsch keinen andern Erfolg haben können, als uns mitten in den Kreis siegreicher feindlicher Armeen hineinzuführen, denen wir mit den heute verfügbaren Kräften noch nicht gewachsen sind.«

»Der Herr Marschall hat recht, vollkommen recht,« rief der Prinz Napoleon lebhaft, »an den Grenzen ist für uns das Spiel verloren, es kann nur darauf ankommen, das Herz des Landes zu schützen und hier alles vorzubereiten, um die volle nationale Kraft dem vordringenden Feind entgegenzustellen.«

»Auch ich, Sire, teile vollkommen die Ansicht des Marschalls,« sagte der General Reille mit seinem ernsten, militärisch festen und ruhigen Gesicht, auf welchem trotz der schweren, unheilvollen Situation eine gewisse hofmännische 452 Ruhe lag, – »es ist ja ganz unmöglich für uns, in diesen Tagen die Armee schlagfertig nach Metz zu führen, und wenn Bazaine wirklich dort unten siegen sollte, so wird er seinerseits so schnell als möglich hierhermarschieren, um sich mit uns zu vereinigen und die Gesamtarmee zu sammeln und zu reorganisieren.«

Der Kaiser sagte nichts; ohne die Augen von seinem Papier zu erheben, ohne einen Augenblick die Bewegungen seiner Hand mit dem Bleistift zu unterbrechen, neigte er nur den Kopf gegen den Marschall, ohne daß man zu erkennen vermochte, ob dies ein Zeichen der Zustimmung zu den von demselben ausgesprochenen Ansichten sein solle oder eine Aufforderung an ihn, in der Auseinandersetzung seiner Meinung weiter fortzufahren.

»Ich gehe noch weiter,« sprach der Marschall, indem er den klaren Blick seines hellen, blauen Auges in dem Kreise der Generale hingleiten ließ, – »ich gehe noch weiter: anstatt eine vergebliche und zeitraubende Bewegung zu machen, um meinerseits zu Bazaine vorzudringen, welcher, wie ich wiederholen muß, wenn er überhaupt Freiheit seiner Bewegung sich erkämpft, seinerseits sich mit uns vereinigen wird – anstatt eine solche nutzlose und gefährliche Bewegung zu machen, halte ich es für notwendig, diese Armee von Chalons, sobald ihr innerliches Gefüge wieder vollkommen hergestellt ist, auf Paris zurückzuführen.«

Der Prinz Napoleon nickte mehrmals unter dem Ausdruck lebhaftester Zustimmung mit dem Kopf.

Der Kaiser blickte empor und sah den Marschall wie fragend und erstaunt an, indem seine Hand zugleich mitten in die verworrenen Linien hinein, welche das Papier vor ihm bedeckten, mit großen Buchstaben das Wort »Paris« schrieb.

»Wenn diese Armee auf Paris zurückgeführt wird,« fuhr der Marschall fort, »wenn sie dort auf Paris gestützt – das nach meiner Ansicht sogleich in ernsten Verteidigungszustand zu setzen ist, – wenn sie den Mittelpunkt bildet für eine innerhalb der Kaders der Mobilgarde schleunigst zu organisierende allgemeine Volksbewaffnung, so wird sie eine gewaltige und schwerwiegende Macht bilden, gewiß 453 vollkommen geeignet, jedes weitere Vordringen des Feindes durch ihr plötzliches Dasein aufzuhalten. Bazaine, nach Metz zurückgedrängt, kann sich bei den ungeheuren Vorräten an Proviant und Munition, welche dort vorhanden sind, sehr lange halten, und dann wird der Feind gezwungen werden, zwischen unsere beiden großen und an feste Positionen gelehnten Armeen hineinzurücken, oder aber zunächst vor Metz stehen zu bleiben und uns Zeit zu lassen, unsere Kraft so zu stärken und zu organisieren, daß wir wieder zur Offensive übergehen können, zur Offensive, welche dann durch die organisierte Begeisterung des ganzen Landes gestützt sein wird. Dies meine militärischen Gründe, Sire, Gründe, welche unterstützt werden durch die Ansichten jenes großen Strategen, des Marschalls Niel, den der Tod zu unserm Unglück uns entrissen hat; denn auch er hatte für den Fall, daß sein erster Plan eines dreifachen Offensivvorstoßes nach Deutschland hinein nicht ausführbar sein sollte, die Idee entwickelt, die deutsche Armee diesseits der Festungslinie heranzuziehen und sie so zwischen zwei Feuer zu nehmen. Ich bin Soldat«, fuhr er fort, »und will nichts anderes sein. Ich könnte mich deshalb mit der Entwicklung jener militärischen Gründe begnügen. Doch in einem Augenblick, in welchem von dem Schicksal der Armee auch das Schicksal des Landes – seine Regierung,« fügte er mit fester Betonung hinzu, – »seine Zukunft auf lange hinaus abhängt – in einem solchen Augenblick, Sire, muß auch der Soldat die politischen Verhältnisse in den Kreis seiner Erwägungen ziehen und auf seine Entschlüsse einwirken lassen. Eure Majestät kennen«, fuhr er fort, »die Aufregung, welche in Paris herrscht, Eure Majestät wissen, was die Aufregung des Volkes in Paris zu bedeuten hat. Unsere ersten Niederlagen haben das Ministerium Ollivier in einem Augenblick verschwinden lassen. Weitere Niederlagen, welche ich wahrlich nicht in Aussicht stellen will, aber deren Möglichkeit ich nicht zu leugnen unternehmen kann, würden vielleicht das Ministerium Palikao noch schneller und noch spurloser verschwinden lassen, als das Ministerium Ollivier verschwand. Und welches Schicksal würde man in einem solchen Falle der Regentschaft vorhersagen können?«

454 »Das ist der Punkt«, sagte der Prinz Napoleon. »Diese Regentschaft ist schon heute kaum mehr vorhanden. Das Ministerium dekretiert noch in ihrem Namen, aber ihr Inhalt, ihr Wesen ist nicht mehr da. Es sind die Majoritäten des Corps législatif, welche die Maßregeln des Ministeriums inspirieren. Bald werden auch diese Majoritäten verschwinden vor den Rufen der Masse, welche aus den Tiefen der Gesellschaft von Paris heraufsteigt. Diese Rufe werden nicht heißen: »Es lebe der Kaiser!« – noch viel weniger aber: »Es lebe die Kaiserin!« fügte er mit bitterem Lachen hinzu.

Die Generale schlugen schweigend die Augen nieder.

»Fahren Sie fort, Herr Marschall«, sagte der Kaiser kalt und ernst.

»Wenn nun«, sprach Mac Mahon weiter, »Eure Majestät diesen möglichen Fall annehmen, wenn Eure Majestät daran denken, daß es geschehen könnte, daß, während die Armeen, von der Hauptstadt weit entfernt, mit einem bisher siegreichen Feind ringen, in Paris selbst die Revolution ihr Haupt erhöbe, daß dort die kaiserliche Regierung nicht mehr Herrin wäre – dann, Sire, wäre wirklich das Ende da, dann, Sire, wäre Frankreich verloren. Ich wage kaum daran zu denken, welches Schicksal die Zukunft unserm unglücklichen Vaterlande bringen müßte.«

»Ja, ja,« rief der General Castelnau, »der Herr Marschall hat recht, dieser Grund ist entscheidend.«

Beistimmend neigten die Generale Reille und Vauberg de Genlis den Kopf.

Der Prinz Napoleon sah mit brennenden Blicken, vor Ungeduld zitternd, auf den Kaiser, welcher, ohne ein Zeichen seiner Zustimmung oder seiner abweichenden Meinung zu geben, auf sein Papier niederblickte.

»Und wenn sich die Armee auf Paris zurückzieht?« fragte er mit leiser Stimme, indem er, ohne die Augen aufzuschlagen, den Kopf nach der Seite des Marschalls neigte.

»Wenn sich die Armee auf Paris zurückzieht,« erwiderte der Herzog von Magenta, »wenn die Bewaffnung des Volkes, gerade der Elemente des Volkes, welche die Revolution machen, militärisch organisiert und an die Armee unter meinem Kommando« – sagte er, stolz den Kopf 455 erhebend – »angefügt wird, – dann, Sire, wird jede Revolution unmöglich sein. All jenes unruhige und wilde Feuer, welches die Bevölkerung von Paris erhitzt, welches ungeleitet und unbeherrscht gegen die Regierung und gegen die Dynastie seine drohenden Flammen aufschlagen lassen möchte, wird sich dann mit furchtbarer Macht gegen den Feind richten, gegen den Feind, der dann zu gleicher Zeit auch in einer strategisch für ihn höchst gefährlichen Position sich befinden wird.«

»Ich bitte Eure Majestät,« rief der Prinz Napoleon lebhaft, »ich beschwöre Sie um Frankreichs, um unseres Hauses willen, genehmigen Sie den Plan des Marschalls – in ihm allein liegt die Rettung!«

Der Kaiser schlug langsam den Blick auf und ließ ihn über die anwesenden Generale hingleiten. In allen Mienen las er die Zustimmung zu den Plänen des Marschalls.

»Ich habe keine Genehmigung zu erteilen,« sagte er dann – »der Marschall allein hat zu bestimmen. Er führt das Kommando, und ich wünsche nicht, seine Verantwortlichkeit durch Eingreifen in seine Entschließungen zu erschweren. Doch scheint es mir, daß es notwendig wäre, den Plan, welcher hier soeben entwickelt wurde, der Regentin und den Ministern mitzuteilen und deren Meinung darüber zu hören, denn in Paris allein ist man in diesem Augenblick imstande, das Ganze der Situation nach allen Richtungen zu übersehen. Ich halte eine Anfrage in Paris um so mehr für geboten und nützlich, als ja der Marschall selbst für seine Pläne auch politische Gründe angeführt hat und als gerade diese Gründe doch nur dort, im Mittelpunkt der Politik, richtig beurteilt und gewürdigt werden können.«

»Anfragen und immer Anfragen,« rief der Prinz Napoleon heftig, »in diesem Augenblick in welchem die einzelnen Armeen voneinander getrennt sind und in welchen die Regierung in Paris kaum imstande ist, irgend welche Politik machen zu können, selbst wenn sie den Mut und den Entschluß dazu hätte – in diesem Augenblick sollte wahrlich jeder auf seine eigene Verantwortung handeln, und wenn jeder dabei nach seinen Kräften das Beste tut, um das Vaterland zu retten, so wird auf diesem Wege allein eine 456 glückliche Wendung erreicht werden können. Es ist wahrlich keine Zeit vorhanden, um Berichte zu erstatten und die Antworten darauf abzuwarten.«

»Ich bin weit entfernt,« sagte der Marschall Mac Mahon, sich gegen den Kaiser verneigend, »meine Ansichten für die allein oder absolut richtigen zu halten und bin gern bereit, sie der Beurteilung derjenigen zu unterwerfen, welche, mit den Vollmachten Eurer Majestät ausgerüstet, im Mittelpunkt der Regierung stehen. Ich werde sogleich meinen Plan und die Gründe für denselben kurz zusammenfassen und telegraphisch die Meinung des Grafen Palikao darüber einholen. Da die Verbindung von hier nach Paris in voller Ordnung ist, so kann in ganz kurzer Zeit eine Antwort hier sein, und notwendige Operationen, welche ohnehin nicht auf der Stelle begonnen werden können, werden dadurch nicht aufgehalten werden.«

»Tun Sie das, mein lieber Marschall,« sagte der Kaiser, sich langsam erhebend, »und teilen Sie es mir mit, sobald Sie eine Antwort von Paris haben; wir wollen dann diese Beratungen sogleich fortsetzen und den definitiven Entschluß feststellen.«

»Wiederum Zeit verloren, Zeit und immer Zeit, das Kostbarste, was wir in diesem Augenblick haben!« rief der Prinz Napoleon, indem er heftig aufsprang und mit einer leichten Verbeugung gegen den Kaiser das Zimmer verließ.

»Ich habe Eurer Majestät noch mitzuteilen,« sagte der Marschall, »daß vor einer Stunde der General Trochu hier angekommen ist. Er ist zum Kommandeur eines Armeekorps ernannt, welches hier in Chalons aus Mobilgarden und den schleunigst einzuziehenden Rekruten gebildet werden soll. Er hat von der Kaiserin den Auftrag erhalten, sich bei Eurer Majestät zu melden und über die Lage in Paris Bericht zu erstatten.«

»Trochu,« sagte Napoleon, – »Trochu als Retter in der Not? Glauben Sie, daß Trochu fähig und geeignet wäre, mit Ihnen zu operieren – unter Ihrem Befehl – denn unter Ihrem Befehl würde er doch stehen?«

»Ich glaube, Sire,« erwiderte der Marschall, »daß die Regentin und der Ministerrat die Idee gehabt haben, die 457 Armee, welche der General Trochu hier organisieren soll, selbständig unter sein Kommando zu stellen – er würde allerdings mit mir gemeinschaftlich zu operieren haben und unter dem Oberbefehl Bazaines stehen, der ja das höchste Kommando über die ganze französische Armee führt. Was übrigens den General Trochu betrifft,« fuhr er fort, »so ist er einer der unterrichtetsten Offiziere der Armee. Er besitzt große und umfassende Kenntnisse und hat tiefe Studien über die Taktik und Strategie gemacht, auch über den preußisch-österreichischen Krieg von 1866 sehr eingehend und wissenschaftlich geschrieben. Ich zweifle nicht, daß er alle diese Kenntnisse, wenn er die Gelegenheit dazu findet, auch praktisch zu verwerten imstande sein wird.«

Der Kaiser schüttelte mit schweigendem Nachdenken den Kopf.

»Nun, ich bitte Sie, Herr Marschall,« sagte er nach einigen Augenblicken, »Ihr Telegramm zu redigieren und abzusenden. Denn wir können ja doch keinen bestimmten Entschluß fassen, bevor wir nicht eine Antwort auf dasselbe erhalten haben. Und wollen Sie die Güte haben, dem General Trochu zu sagen, daß ich ihn erwarte.«

Er drückte dem Marschall die Hand und verneigte sich gegen die übrigen Generale, welche in ernstem Schweigen mit dem Herzog von Magenta das Zimmer verließen.

»Dahin ist es gekommen,« sagte der Kaiser, indem er langsam an das Fenster trat, das auf den innern Hof des Pavillons führte, auf welchem alles so ruhig und geordnet war wie zur Zeit der Übungslager, – »dahin ist es also gekommen, daß man Männer zu Hilfe rufen muß wie diesen Trochu, welcher stets im innersten Herzen mein Gegner war, welcher mit den Orleans zusammenhing, diesen unversöhnlichsten Feinden meines Thrones und meines Hauses. Man muß in Paris die Lage für sehr gefährlich halten, daß man auf diesen Gedanken gekommen ist. – Doch«, sagte er dann nach längerem Schweigen, »vielleicht ist der Gedanke gut und richtig, vielleicht ist ein Mann, der mein Gegner ist, in diesem Augenblick weniger gefährlich, wenn er an der Spitze einer Armee gegen den Feind des Landes zu marschieren gezwungen ist – wenn er gezwungen ist, 458 indem er das Vaterland verteidigt, zugleich für meinen Thron und für mich zu fechten. Und sollte das Schicksal Rettung aus dieser Not gewähren, sollte Frankreich endlich noch siegreich aus dieser Katastrophe hervorgehen, so werden ja alle diejenigen, welche in diesem Kampf den Degen geführt, mit dem Kaiserreich für immer eng und fest verbunden sein. Oh, wie schwer ist es, ein Land zu regieren, welches so viele feindliche Elemente in sich schließt, die nur durch die Macht und den Erfolg zurückgedrängt werden können und deren zersetzender Einfluß sich geltend macht, sobald der Erfolg zweifelhaft ist und die Macht erschüttert wird! – Meine Nation kann keine Niederlagen ertragen, während der König von Preußen, dem ich gegenüberstehe, auch durch die schwersten Niederlagen nur noch fester und inniger mit seinem Volk verbunden wird, wie die Geschichte von Jena und Waterloo zeigt – ich hätte das bedenken sollen, – es ist stets verhängnisvoll, wenn man die Lehren der Geschichte nicht beachtet.«

Der diensttuende Ordonnanzoffizier trat ein und meldete den General Trochu.

Mit tiefem Seufzer wandte sich der Kaiser um, befahl, den General einzuführen und trat demselben entgegen, indem sein Gesicht den Ausdruck ruhiger und verbindlicher Höflichkeit annahm.

Der General Trochu, welcher mit festem, elastischem Schritt eintrat und nach einer tiefen Verbeugung vor dem Kaiser stehen blieb, war eine mittelgroße Gestalt von schlankem, kräftigem Körperbau. Er trug mit einer gewissen, sorgfältigen, bis in die Kleinigkeiten zierlichen Eleganz die Uniform des Divisionsgenerals, welche sich eng und fest an seine kräftigen und geschmeidigen Glieder anschloß, und auf der Brust das Kreuz der Ehrenlegion. Seine hohen, glänzenden Stiefel, welche den schlanken Fuß hervortreten ließen, schienen mehr für das Parkett des Salons als für das Feld bestimmt. Sein scharfgeschnittenes, regelmäßiges Gesicht, mit der charakteristisch vorspringenden Nase, dem schwarzen, spitzen Schnurrbart, dem schmalen Henriquatre und den kleinen, funkelnden schwarzen Augen, zeigte in seinem lebhaft bewegten Mienenspiel Geist und Intelligenz, 459 aber zugleich auch jene unerschütterliche Selbstgenügsamkeit, welche aus dem Kreise, in welche sie gebannt ist, nicht herauszutreten vermag und die selbst aufgebauten Theorien stets gegen die evidenteste Wirklichkeit aufrecht zu erhalten geneigt ist. Die Eigentümlichkeit dieses ausdrucksvollen, kriegerischen Gesichtes wurde durch einen vollkommen kahlen Schädel, auf welchem nur zur Seite der Schläfe einige wenige, aber ganz schwarze Haare bemerkbar waren, erhöht.

»Ich freue mich, Sie wieder zu sehen, Herr General,« sagte der Kaiser, »und danke Ihnen, daß Sie sich entschlossen haben, in einem Augenblick großer Gefahr des Vaterlandes, in einem Augenblick schwerer Entscheidungskämpfe wieder in den aktiven Dienst zu treten und die Bildung einer Armee zu übernehmen, welche unter Ihrer Führung jedenfalls sehr wesentlich dazu beitragen wird, das Unglück abzuwenden, welches mich und Frankreich bedroht.«

»Meine Kräfte, Sire, stehen dem Vaterlande stets zur Verfügung, sobald es derselben bedarf. Es wäre ein Verbrechen, ruhig und untätig zu bleiben, sobald Frankreich in Gefahr ist«, erwiderte der General mit seiner kräftigen, sonoren Stimme, welche der gesucht scharfen Betonung einen gewissen Anklang an theatralisches Pathos gab. »Ich habe«, fuhr er dann fort, »Eurer Majestät ein Schreiben der Kaiserin zu übergeben, welches dieselbe mich beauftragt hat, persönlich in Ihre Hände zu legen.«

Er nahm aus dem goldbordierten Generalshut mit der weißen Feder, den er in der Hand hielt, einen versiegelten Brief und reichte ihn dem Kaiser.

»Sie erlauben, General,« sagte Napoleon, indem er an das Fenster trat und das Siegel öffnete.

Langsam durchlas er den Brief der Kaiserin und ließ seine Blicke, nachdem er geendigt, nochmals eine Zeitlang über die Zeilen hingleiten, als wolle er sich den Inhalt derselben vollkommen klar machen oder als suche er einige Augenblicke Zeit zu gewinnen, um seine Gedanken über die Mitteilungen, welche der General ihm gebracht, zu sammeln.

Dann wandte er sich zum General Trochu zurück, ersuchte denselben, sich zu setzen, und ließ sich selbst in einen 460 der von Rohr geflochtenen Fauteuils nieder, welche das Ameublement dieses mit militärischer Einfachheit ausgestatteten Lageraufenthaltes bildeten.

»Die Kaiserin schreibt mir,« sagte er, »daß nach Ihrer Ernennung zum Kommandanten einer bei Chalons zu bildenden Armee neue Erwägungen im Schoß des Ministerrats stattgefunden hätten, daß infolge dieser Erwägungen der Gedanke aufgetaucht sei, den sie Ihnen auch bereits mitgeteilt habe – Sie, Herr General, zum Gouverneur von Paris zu ernennen und Ihnen nicht nur die so hochwichtige Aufrechterhaltung der Ordnung in der Hauptstadt anzuvertrauen, sondern auch deren Verteidigung im Fall einer Belagerung durch die deutschen Armeen.«

»Die Kaiserin hat mit mir darüber gesprochen, Sire,« erwiderte der General, »und ich habe derselben meine Bereitwilligkeit erklärt, auch diese so schwierige und so hoch verantwortungsvolle Stellung zu übernehmen, um Paris in dieser großen nationalen Katastrophe die Rolle spielen zu lassen, welche seine Pflicht ist – der Mittelpunkt zu werden der großen Anstrengungen, der großen Opfer und der großen Beispiele.«

Er hatte diese Worte mit emphatischer Betonung gesprochen, indem er die linke Hand an den Degengriff legte.

»Sie halten es also für möglich,« sagte der Kaiser, »daß Paris einer Belagerung ausgesetzt werden könnte?«

»Ich will wünschen, daß es nicht geschehe,« erwiderte der General, »aber die Möglichkeit, ja die Wahrscheinlichkeit ist jedenfalls dazu vorhanden. Und vielleicht«, fuhr er fort, »wäre es der sicherste Weg, dem Feldzug eine glückliche Wendung zu geben, wenn es gelänge, die Feinde vor die Mauern von Paris zu ziehen und hier längere Zeit festzuhalten, während auf der anderen Seite sich alle noch im Felde befindlichen Armeen unter der Führung des Marschalls Bazaine vereinigten.«

»Aber«, erwiderte der Kaiser, »glauben Sie denn, daß Paris sich halten, daß man es verproviantieren könnte, um eine Einschließung auszuhalten?«

»Eine Einschließung?« erwiderte der General Trochu mit überlegenem Lächeln, »wo sollten die deutschen 461 Heerführer die Truppen hernehmen, um Paris einzuschließen, wenn man starke Korps vor Metz zurücklassen muß – um so stärkere, wenn Bazaine für den Augenblick gezwungen sein sollte, sich nach Metz zurückzuziehen – und wenn zu gleicher Zeit andere starke Korps gegen diese Armee Mac Mahons entsendet werden sollen? Das ist unmöglich. Ich habe meinen bestimmten Plan,« sagte er, den Kopf lebhaft zurückwerfend und wie von oben herab auf den Kaiser blickend, »ich habe meinen bestimmten Plan, ich muß nur über einige Details desselben noch nachdenken. Aber die Möglichkeit der Einschließung von Paris, welche doch gleichzeitig mit einer Belagerung von Metz stattfinden müßte, findet in diesem Plan keine Stelle – das liegt außerhalb jeder militärischen Kombination.«

»Sie würden also nicht der Meinung sein, Herr General,« fragte der Kaiser, indem er den Ellenbogen auf das Knie stützte und das Kinn in die Hand legte, »Sie würden also nicht der Meinung sein, daß diese Armee des Marschalls Mac Mahon, welche gegenwärtig hier in Chalons sich rekonstruiert, zur Deckung von Paris zurückgeführt werden müsse?«

Der General machte eine lebhafte Bewegung, legte seinen Hut auf die Knie und streckte die rechte Hand gegen den Kaiser aus.

»Es wäre ein großer Fehler, Sire,« rief er, »ein strategischer wie ein politischer Fehler. Die große Aufgabe der im Felde befindlichen Heere muß es sein, sich, wo dies immer geschehen könne, zu vereinigen. Der Marschall Mac Mahon muß, sobald seine Armee irgend marschbereit ist, aufbrechen, um Bazaine die Hand zu reichen und den Feind vor Metz zwischen zwei Feuer zu nehmen. Das ist der allgemeine Ruf in Paris, das ist die Stimme Frankreichs – ›rettet die Armee von Metz!‹ so tönt es in jedem Herzen, so schallt es aus jedem Munde wider. Ganz Frankreich würde einen Rückmarsch des Marschalls Mac Mahon auf Paris verurteilen. Man würde darin den letzten Grad der Niederlage erblicken – Bazaine mit seiner ganzen Armee würde preisgegeben sein. Das darf nicht geschehen,« sagte er mit kategorischem Ton, »ich würde in Paris für nichts stehen können, wenn eine solche Nachricht dorthin gelangte.«

462 »Und glauben Sie, in jedem Fall«, fragte der Kaiser weiter, »die Ordnung in Paris aufrecht halten zu können, sind Sie sicher, mit der Armee, welche Sie dort aus den Mobilgarden und neuen Rekruten zu bilden imstande sein werden – werden Sie«, fuhr er nach einem kurzen Zögern fort, »die Autorität der Regentin und der Regierung aufrecht erhalten können, wenn die reguläre Armee sich von der Hauptstadt entfernt und der Feind unter ihren Mauern erscheint?«

»Ich werde Paris und Frankreich retten«, erwiderte der General Trochu, indem er seine rechte Hand auf die Brust legte. »Und ich bin gewiß, daß die Bevölkerung meine Autorität respektieren und alle Opfer bringen wird, welche die Pflicht einer großen militärischen Nation sind, die in so ernster Lage mit fester Entschlossenheit die Leitung ihrer Geschicke in die Hand nimmt.«

Ein trauriges Lächeln flog einen Augenblick über die Lippen des Kaisers. Er hatte in der letzten Zeit oft schon den Ruf: »Es lebe Frankreich! Es lebe die Nation!« gehört, da, wo man sonst nur zu rufen pflegte: »Es lebe der Kaiser!« Aber es war hier zum erstenmal, daß in persönlichen Unterhandlungen ein General, der die Uniform seiner Armee trug, auf eine bestimmt gestellte Frage in seiner Antwort das Kaiserreich und die Dynastie nicht erwähnte und von der Nation sprach, welche die Leitung ihrer Geschicke selbst in die Hand nehmen müsse.

»Wenn Sie das durchführen, Herr General,« sagte er mit höflichem, aber etwas kaltem Ton, »was Sie mit so vieler Zuversicht zu unternehmen bereit sind, so werden Sie dem Thron und dem Vaterland einen Dienst leisten, welchen weder ich noch Frankreich jemals vergessen werden. Was aber«, fuhr er fort, »kann nach Ihrer Meinung der Marschall Mac Mahon tun – da Sie seinen Rückmarsch aus Paris für so verderblich halten, – um sich mit Bazaine zu vereinigen oder zu dessen Unterstützung zu operieren? Wenn Bazaine gezwungen wird, sich auf Metz zurückzuziehen, so ist jedenfalls der Weg über Verdun dorthin nicht mehr frei. In dieser Richtung würde also eine Operation unmöglich sein.«

463 »Ich habe darüber mit dem Kriegsminister und der Kaiserin gesprochen«, sagte der General Trochu. »Nach meiner Überzeugung, welche vollkommen von den Autoritäten in Paris geteilt wird, muß der Marschall schleunigst über Rheims nach der belgischen Grenze vorgehen, den Feind dort von einer Seite fassen, wo er jedenfalls keinen Angriff erwartet, und auf diese Weise die ganze feindliche Operation verwirren und die Vereinigung mit Bazaine erzwingen. Man wird sich dabei auf den Platz von Sedan stützen können und so den Feind zwischen unseren Festungen in eine sehr gefährliche Position bringen, welche dem Marschall Bazaine erlauben wird, in mächtigen Vorstößen von Metz herauszubrechen. Der Erfolg dieses Plans ist fast sicher, es ist der nächste Weg, um mit einem Schlage alles wieder gutzumachen und die bisherigen Niederlagen in einen glänzenden Sieg zu verwandeln. Nur müßte«, fuhr er fort, »dieser Plan mit dem äußersten Geheimnis umgeben werden, damit der Feind keine Zeit hat, seine Operationen danach einzurichten, denn in dem schnellen und unerwarteten Angriff von jener Seite her liegt die Sicherheit des Erfolges.«

Der Kaiser wiegte nachdenkend den Kopf hin und her. Seine bisher tief verschleierten Blicke leuchteten auf, es schien, daß der Gedanke, welchen der General Trochu mit so vieler Sicherheit entwickelte, ihm ebenfalls Zuversicht und Hoffnung einflößte.

»Und Sie sind sicher,« fragte er nach einigen Augenblicken, den Blick fest auf den General heftend, »auch allein, ohne die Armee Mac Mahons, die Ordnung in Paris aufrecht halten zu können und im äußersten Fall einen feindlichen Angriff auf die Hauptstadt so lange zurückznweisen, bis jene Operation ausgeführt ist und ihre Wirkung getan hat?«

»Ich bin dessen sicher«, erwiderte der General mit festem Ton. »Ich werde mich an den Patriotismus aller Parteien wenden, mir wird ihr Vertrauen entgegenkommen, da man in der Armee wie überall weiß, daß ich selbst keiner andern Partei angehöre als der des Landes. Ich werde mein Werk vollenden und dann mich wieder in die 464 Dunkelheit zurückziehen, aus der ich jetzt hervortrete, ohne andern Ehrgeiz als den, dem Vaterlande zu dienen.«

»Gut, Herr General,« sagte der Kaiser, – »die Kaiserin, welche ja nach ihren Vollmachten das Recht hat, den Umständen gemäß zu handeln, wünscht meine persönliche Zustimmung zu Ihrer Ernennung zum Gouverneur von Paris – ich stehe keinen Augenblick an, ihr dieselbe auszusprechen, und bitte Gott, daß er die zuversichtlichen Hoffnungen erfüllen möge, welche Sie im Herzen tragen und welche jedenfalls Ihnen Mut und Kraft geben werden, um das Äußerste zu wagen. Ich werde der Kaiserin meine Meinung in einigen Worten schreiben und bitte Sie, Herr General, ihr meinen Brief zu überbringen.«

Der General verneigte sich.

Napoleon ergriff einen Bogen Papier und schrieb einen kurzen Brief, dessen Enveloppe er mit einem kleinen Siegel verschloß, das er an der Kette seiner Uhr trug.

»Hier, Herr General,« sagte er, aufstehend, indem er dem General Trochu den Brief übergab, »bringen Sie der Kaiserin meine herzlichen Grüße, sagen Sie ihr, daß sowohl ich als der Prinz uns wohl befinden und daß ich sie bitte, vor allem Kaltblütigkeit, Mut und Vertrauen zu bewahren. So habe ich denn«, fuhr er fort, indem der General den Brief in seinen Hut legte, »das Schicksal der Hauptstadt, der Kaiserin und der Regierung Ihren Händen anvertraut, und bitte Gott, daß er Ihnen seinen Beistand leihe. Auf Wiedersehen, Herr Gouverneur von Paris, am Tage des Einzugs in die von Ihnen siegreich verteidigte Hauptstadt.«

»Ich danke Ihnen, Sire,« erwiderte der General, »für das Vertrauen, das die Verhältnisse Ihnen zu mir eingeflößt haben – ich werde es rechtfertigen. Gott schütze Frankreich!« rief er, indem er mit dem rechten Fuß in einer etwas gesuchten Attitude zurücktrat, die linke Hand auf seinen Degen stützte und die rechte mit dem Federhut in die Höhe hob. Dann verneigte er sich vor dem Kaiser, wandte sich kurz um und verließ das Kabinett.

Der Kaiser sah ihm einen Augenblick mit einem eigentümlichen Ausdruck nach.

»Vertrauen,« sprach er, – »vertrauen dem, der der 465 Freund meiner Feinde ist! – doch wenn er Erfolg hat, wenn er seine Aufgabe erfüllt, wenn er siegt, wird er für mich und meine Dynastie siegen – und wenn alles vergeblich ist – dann,« sagte er leise, mit tiefem Seufzer – »dann ist das Ende da.«

Er stand noch einige Augenblicke in tiefen, finsteren Gedanken – dann ging er leise durch sein Schlafzimmer in das Kabinett seines Sohnes.

Der kaiserliche Prinz lag noch immer in tiefem, sanftem Schlummer auf seinem Bett.

Der Kaiser trat leise auf den Fußspitzen zu ihm heran, beugte sich über ihn und sah lange in das vom Schlaf gerötete Gesicht des ruhig atmenden, lächelnden Kindes.

»Könntest du schlafen,« flüsterte er leise, »bis diese furchtbaren Tage der Entscheidung vorüber sind. Ich bin müde, ich bin gebrochen, fast möchte ich alles aufgeben, um in der Verbannung oder in der Gefangenschaft wenigstens Ruhe zu finden und Linderung dieser Schmerzen und Leiden des Körpers, welche mich zerrütten. Aber für dich will ich alles ertragen und kämpfen, solange menschliche Kräfte noch den Sieg erringen können.«

Eine Träne fiel aus seinen Augen auf die reine Stirne des Prinzen. Der Kaiser zuckte zusammen, angstvoll blickte er auf das Gesicht des Sohnes, als fürchte er, daß der aus seinen Augen herabfallende Schmerzenstropfen ihn aus seinem Schlaf erwecken könne, aber das ermattete Kind schlief ruhig weiter und die Träne trocknete langsam auf seiner Stirne. Der Kaiser machte das Zeichen des Kreuzes über dem Haupt seines Sohnes und ging leise, wie er gekommen, mit den Fußspitzen auftretend, wieder in den Empfangssaal zurück.

Er faltete dort Karten auseinander, welche auf dem Tisch lagen, setzte sich vor dieselben und verfolgte, den Kopf in die Hand gestützt, aufmerksam und sorgfältig die Linien, welche er mit der Spitze seines Fingers auf denselben zog. – – – –

So mochte er, ohne aufzublicken, beinahe eine Stunde dagesessen haben, als der Ordonnanzoffizier den Marschall Mac Mahon meldete.

466 Auf den Wink Napoleons trat der Marschall ein. Er hielt eine Depesche in der Hand und näherte sich in ernster, fast feierlicher Haltung dem Kaiser.

»Die Antwort aus Paris ist angekommen, Sire!« sagte er.

»Und?« fragte Napoleon, den Kopf emporrichtend und den Marschall mit gespannten Blicken ansehend, während die Spitzen seiner Finger noch immer auf den Karten ruhten.

»Der Graf von Palikao«, erwiderte Mac Mahon, »erklärt, daß er den Rückmarsch auf Paris weder aus strategischen noch aus politischen Gründen billigen könne und fordert mich auf das bestimmteste auf, entweder Bazaine freizumachen oder, wenn dies nicht mehr tunlich sei, den Marsch nach dem Norden anzutreten und von dort aus gegen Metz zu operieren.«

»Ich erwartete es,« sagte der Kaiser leise, »das ist die Idee, die Trochu mir entwickelt hat. Und was ist nun Ihre Meinung?« fragte er dann.

»Sire,« erwiderte der Marschall noch ernster als vorhin, »ich kann und darf es nicht wagen, meine Ansicht dem bestimmt ausgesprochenen Willen der obersten Autorität entgegenzusetzen, welche gesetzlich und verfassungsmäßig den Vollmachten Eurer Majestät gemäß in diesem Augenblick über die Geschicke Frankreichs zu bestimmen hat. Meine Ansicht kann nicht maßgebend sein, sobald jene Autorität, welche auch vor der Geschichte ihre Verantwortung zu tragen hat, bestimmt und klar ihren Willen ausspricht. Ich bin entschlossen, den Marsch anzutreten, sobald die Armee – und das wird in wenigen Tagen der Fall sein – dazu nur eben imstande ist – es sei denn,« fügte er hinzu, »daß Eure Majestät jene Vollmachten zurückziehen und selbst die ausschließliche Regierungsgewalt wieder übernehmen wollen.«

»Das würde die allgemeine Verwirrung und Auflösung bedeuten,« sagte der Kaiser mit der Hand abwehrend, – »wie könnte ich hier, im Hauptquartier einer operierenden Armee eingeschlossen, die Regierung führen?«

»Dann, Sire,« erwiderte der Marschall, »muß der Marsch angetreten werden.«

»Die Idee desselben erscheint mir nicht unrichtig«, sagte Napoleon mit fragendem Ton.

467 »Ich bitte Eure Majestät,« erwiderte der Marschall, »mir keine nochmalige Diskussion zu befehlen. Für mich ist die Sache abgemacht, ich habe als Soldat die Befehle zu befolgen und meine Pflicht ist erfüllt, wenn ich an die schnelle und sichere Ausführung derselben meinen Eifer und meine Kräfte setze. Ich werde den Generalen die erforderlichen Instruktionen erteilen, um alles zum schleunigen Aufbruch nach Rheims vorzubereiten. Dieser Aufbruch muß um so schneller erfolgen, wenn wir nicht von dem rasch heranziehenden Feinde hier überrascht und zum Kampf gezwungen werden wollen.«

Heftig wurde die Tür geöffnet und flammenden Blickes, das Gesicht von Aufregung gerötet, stürmte der Prinz Napoleon in das Zimmer.

»Nun,« rief er, bis dicht vor den Kaiser hineilend, »ist die Antwort aus Paris gekommen? Was sagen die großen Strategen der Regentschaft?«

»Sie halten den Rückzug auf Paris für bedenklich«, erwiderte der Kaiser ruhig, »und wollen, daß die Armee nach dem Norden marschiere.«

Der Prinz hob die geballte Faust empor und schüttelte sie in der Luft, indem er die Blicke nach der Decke des Zimmers richtete.

»So ist denn Frankreich,« rief er mit vor Zorn bebender Stimme, »Frankreich und unsere Dynastie dem Verhängnis verfallen! So soll denn aller nützliche und vernünftige Rat verworfen werden! Und was willst du tun?« fragte er dann. »Willst du dein Schicksal, das Schicksal unser aller, das Schicksal des Landes und der Armee jenen törichten Träumern in Paris preisgeben, welche sich in dem engen Kreise ihrer Beschränktheit hin und her bewegen?«

»Mein lieber Vetter,« sagte der Kaiser mit dem Ausdruck eines freundlichen und milden Vorwurfs, »diejenigen, welchen ich die Regierung Frankreichs und die Verantwortung dafür übertragen habe, und welche in diesem Augenblick jedenfalls am meisten imstande sind, die Notwendigkeiten der gesamten Situation zu übersehen, scheinen mir mindestens ebenso berechtigt zu sein, ihr Urteil für das richtige zu halten als du. Würde man ihrer Meinung 468 entgegenhandeln und die Sache eine schlimme Wendung nehmen, so würden sie einen Schrei der Anklage und der Verurteilung im ganzen Lande gegen uns erheben.«

»Man hätte sie gar nicht fragen, man hätte gar nicht diskutieren, man hätte handeln sollen, handeln wie unsere Feinde, welche fortwährend vordringen, während wir in mühseligem Beraten, Hinundherfragen und Beantworten unsere Zeit verlieren. Nun,« sagte er dann, indem er einen Anfall krampfhaften nervösen Gähnens, der ihn erfaßte, unterdrückte, »wenn man denn im verblendeten Eigensinn die Wege einschlagen will, die man doch als verderblich erkannt hat, so will ich wenigstens nicht Zeuge der traurigen und schimpflichen Katastrophe sein, mit der das alles enden wird. Ich verlasse die Armee! Ich verlasse Frankreich und überlasse Dir und dem Marschall die Verantwortung für alles, was da kommen wird.«

»Ich werde die Verantwortung tragen,« erwiderte der Marschall kalt, »und wenn Eure Kaiserliche Hoheit die Armee verlassen wollen, so werden Sie damit nur den Traditionen Ihrer militärischen Vergangenheit folgen, denn ich erinnere mich, daß zur Zeit anderer Entscheidungen, die freilich nicht so ernst und gefährlich waren und die ruhmvoll für unsere Waffen ausfielen, die Armee ebenfalls Ihre Gegenwart entbehrte.«

Der Prinz fuhr zusammen, seine Augen sprühten Blitze zorniger Erregung. Er trat einen Schritt gegen den Marschall vor. Seine Lippen öffneten sich, doch es traten nur zischende Atemzüge aus denselben hervor. Er schien das Wort zu suchen, das er hervorschleudern wollte.

Der Marschall stand ruhig und unbeweglich. Die eherne Ruhe seines Gesichtes veränderte sich keine Sekunde, nur seine klaren, hellblauen Augen blickten auf den von heftiger Erregung zitternden Prinzen voll kalter Hoheit hin.

Rasch trat der Kaiser zu seinem Vetter.

»Es ist vielleicht besser,« sagte er, »wenn du die Armee verläßt, da du doch mit den Operationen, welche die Notwendigkeit gebietet, nicht einverstanden bist. Du kannst mir in anderer Weise einen großen Dienst leisten. Gehe nach 469 Italien und biete allen deinen Einfluß auf den König Viktor Emanuel auf, daß er die Verträge halte, welche wir geschlossen, und daß er keinen Angriff gegen Rom leide, welches wir von unseren Truppen haben entblößen müssen. Ein Angriff auf den Papst würde in diesem Augenblick von schweren und gefährlichen Folgen für unsere inneren Verhältnisse sein und uns der moralischen Unterstützung der Geistlichkeit berauben. Gehe nach Florenz, mein Vetter, so schnell als möglich. Du kennst die Lage nach allen Richtungen und biete alles auf, damit Italien so günstig als möglich für uns handelt. Das ist die ganze Instruktion, die ich dir zu geben habe. Kannst du die italienische Politik für unsere Interessen bestimmen, so wird das so viel wiegen, als ob Frankreich eine Schlacht gewonnen hätte.«

Der Prinz blickte lange und traurig auf den Kaiser.

»Leben Sie wohl, Sire,« sagte er dann mit halberstickter Stimme, indem seine vorher so zornig blitzenden Augen sich mit Tränen füllten. »Wir werden uns in Frankreich nicht wiedersehen, denn dies alles wird zu einem entsetzlichen Zusammenbruch führen, aber ich werde in der Mission, die Sie mir auftragen, alle meine Kräfte aufwenden, um Ihnen und dem Lande nützlich zu sein. Leben Sie wohl und seien Sie meiner Ergebenheit überall und unter allen Verhältnissen sicher.«

In lebhafter Bewegung trat er zu dem Kaiser heran, umarmte ihn und küßte ihn auf beide Wangen.

»Du siehst zu schwarz, mein Vetter,« sagte Napoleon, seine Bewegung unter einem mühsamen Lächeln verbergend, »du siehst zu schwarz. Auf Wiedersehen!«

Der Prinz drückte nochmals die Hand des Kaisers, indem er schweigend den Kopf schüttelte.

»Leben Sie wohl, Herr Marschall,« sagte er dann, »verzeihen Sie meine Heftigkeit. Möge Ihr edler Degen Frankreich retten!«

Und sich rasch umwendend verließ er das Zimmer.

»Einer nach dem andern verläßt mich«, sagte Napoleon halb für sich, indem er ihm lange nachblickte. »Die Blätter fallen von dem absterbenden Baum.«

470 »Wir haben noch, Sire,« sagte der Marschall, »die Pflicht und die Ehre, lassen Sie uns die Pflicht erfüllen, die Ehre hochhalten und das übrige Gott anheimstellen.«

Und militärisch grüßend verließ er das Zimmer, während der Kaiser in tiefer Erschöpfung in seinen Lehnstuhl niedersank.

 


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