Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Zweiter Teil. Lessing und die Lessing-Legende

I. Lessing und der sächsische Kurstaat

Gotthold Ephraim Lessing wurde am 22. Januar 1729 zu Kamenz in der oberen Lausitz geboren. Die Lausitz ist altslawisches Gebiet, und die deutsche Kolonisation hat einen nicht unbeträchtlichen Prozentsatz der alten Bewohner verschont; auf den etwa hundert Quadratmeilen der oberen Lausitz werden noch heute weit über vierhundert wendische Dörfer gezählt. Lessing ist denn auch vom Panslawismus beansprucht worden, und selbst um seinen Namen hat sich ein erbitterter etymologischer Streit entsponnen, indem die einen die Stammsilbe Less als das slawische Wort für Wald ansprachen, die anderen aber auf die deutsche Endung ing pochten.

Der an sich schon abgeschmackte Zank entbehrt obendrein jedes tatsächlichen Anhalts. Sowohl weil der Stammbaum Lessings bis ins Ende des sechzehnten Jahrhunderts eine Reihe deutscher Beamter und Prediger aufweist, als auch weil der Großvater Lessings erst in die Lausitz eingewandert ist, nachdem diese Landschaft schon mehrere Jahrzehnte dem sächsischen Staatsverbande eingefügt worden war. Hierin allein liegt ein für den historischen Lessing maßgebender Gesichtspunkt. Es ist nicht unrichtig, wenn Herr Erich Schmidt sagt, Lessing wurzele minder tief im lausitzischen als Goethe im fränkischen und Schiller im schwäbischen Boden, aber es ist ebenso geschmacklos wie schief, wenn er Lessing einen »entlaufenen Sachsen« nennt, und nun gar einen Sachsen, der zur preußischen Herrlichkeit entläuft. Lessing war so wenig Preuße oder Sachse, wie er Lausitzer war, aber wohl trifft der Geschichtsschreiber des sächsischen Staates zum Ziele, wenn er sagt, daß Einflüsse von Sachsen her »den Entwicklungsgang dieses selbständigsten aller Geister bestimmt haben« Flathe, Geschichte des Kurstaats und Königreichs Sachsen, 2, 526..

Man muß sich dabei aber vor dem ideologischen Schlagworte hüten, daß Lessing ein »zweiter Luther« gewesen sei. Ein starker Anklang daran findet sich sogar bei Heine und Lassalle; ja, Lessing selbst hat sich einmal in seinen theologischen Kämpfen mit der lutherischen Orthodoxie auf Luther selbst berufen. Allein wenn er damit nicht etwa nur eine jener »Evolutionen« machte, durch die er den hamburgischen Hauptpastor zu necken liebte, so hat er in merkwürdiger Weise gezeigt, daß sich auch die klarsten Köpfe im unklaren über die Beweggründe befinden können, die im letzten Grunde ihr Handeln bestimmen. Tatsächlich hat Lessing vom Anfang bis zum Ende seiner Laufbahn, von den Lemnius-Briefen bis zu den Anti-Goezes, seine stärksten Schläge gegen Luther und das Luthertum geführt, und dem war nicht nur so, sondern dem mußte auch so sein. Indem Luther der fürstlichen, Lessing aber der bürgerlichen Klasse vorkämpfte, vertraten beide Männer die stärksten Gegensätze, welche die deutsche Geschichte vom sechzehnten bis zum achtzehnten Jahrhundert kennt. Lessing war so wenig ein Luther auf höherer Stufenleiter, daß Goeze, Luthers echter Nachfahr, ihn vielmehr mit Recht als den richtigen Anti-Luther taxierte. Besteht doch nach Lassalles treffendem Epigramm das ganze Unrecht der Goezes von damals und heute darin – recht zu haben!

Trotzdem hat Luthers und Lessings Landsmannschaft einen tieferen Zusammenhang. In jenem Teile Deutschlands, der durch ökonomische Gründe gezwungen war, sich der habsburgisch-päpstlichen Herrschaft zu entreißen, war Sachsen weitaus das ökonomisch entwickeltste und demgemäß auch das kultivierteste Land. Der Ertrag der sächsischen Bergwerke verlieh den sächsischen Fürsten in dem Beginne der kapitalistischen Entwicklung ein gewaltiges Übergewicht; unter den deutschen Teilfürsten gab es in den ersten Jahrzehnten des sechzehnten Jahrhunderts keinen mächtigeren als den Kurfürsten Friedrich von Sachsen. Die Warenproduktion nahm in Sachsen einen schnellen Aufschwung; die große Handelsstraße aus dem Süden in den Norden Europas lief über Erfurt. Um den Besitz dieses wichtigen Stapelplatzes, der in jener Zeit zugleich die bedeutendste deutsche Universität beherbergte und der vornehmste Sitz des deutschen Humanismus war, entbrannte die lutherische Bewegung. Die Stadt Erfurt, die ihrerseits nach einer reichsunmittelbaren Stellung strebte, war ein alter Zankapfel zwischen Kur-Mainz und Kur-Sachsen; als der Hohenzoller Albrecht zum Erzbischofe von Mainz gewählt worden war,, entzündete sich der Streit von neuem. Unter diesen Umständen erschien es allerdings als eine unbillige Zumutung, daß Kurfürst Friedrich den Kommissar Albrechts, den Dominikaner Tetzel, in seinem Lande sollte den Ablaßschacher treiben lassen, dessen halber Ertrag zur Deckung der 25 000 Dukaten bestimmt war, die Albrecht für die Bestätigung seiner Wahl zum Erzbischofe von Mainz an Rom zu zahlen hatte.

Kurfürst Friedrich war ein friedliebender Herr. Und mehr noch: Er war ein äußerst bigotter Katholik; er war so gläubig, wie sein Gegner Albrecht ungläubig war. Das höchste Ziel seines Ehrgeizes bestand darin, die goldene Rose vom Papste zu erhalten; er unternahm eine Pilgerfahrt nach Jerusalem; er hatte mit ungeheuren Summen 5005 fragwürdige Heiligenknochen für die Schloßkirche in Wittenberg, eben die, an deren Türen Luther seine Ablaßthesen schlug, in aller Welt zusammengekauft und ließ sie alljährlich an einem bestimmten Tage zur Anbetung für das Volk ausstellen: ja, als Luther, kurz ehe er seine Thesen veröffentlichte, gegen den Ablaß gepredigt hatte, »verdiente er damit schlechte Gnade« bei dem Kurfürsten, der von solchen Predigten die Anziehungskraft seiner Reliquien gefährdet sah. Allein in Geldsachen hörte dazumal schon die Gemütlichkeit auf. Der Kurfürst hatte längst mit Unwillen bemerkt, daß sich die römischen Ablaßkrämer wie ein Immenschwarm und allerdings aus sehr guten Gründen in seinem Lande zu sammeln pflegten, und wieviel Geld er immer für die Knochen toter Heiliger aufwenden mochte, sowenig war er geneigt, mit den Mitteln seines Landes der römischen Kirche in dem Erzbischof Albrecht einen lebenden Heiligen zu schenken, der ihm das reiche Erfurt aus den Händen zu. reißen gedachte. So ließ er Luther gewähren, nicht als einen »Mann Gottes«, sondern als ein finanzpolitisches Werkzeug! Nichts ist haltloser, als in den Ablaßthesen Luthers eine »weltgeschichtliche Tat« zu sehen und von ihnen den Anfang der Reformationsgeschichte zu datieren. Die antirömische Bewegung war schon seit Jahrzehnten.in allen. Klassen des deutschen Volkes vorhanden, und die Bekämpfung der kirchlichen Mißbrauche hatte auch schon literarisch, beispielsweise, in den Schriften der Humanisten, einen viel schärferen Ausdruck gefunden als in Luthers ziemlich zahmen, nicht einmal den. Ablaß selbst, sondern nur seinen »Mißbrauch« tadelnden Sätzen. Auch ist es ganz falsch zu sagen, die humanistische Bildung sei Kaviar fürs Volk; gewesen, Luther aber habe in derber, volkstümlicher Weise den Stier an den Hörnern gepackt. Denn Luthers Thesen waren gleichfalls lateinisch und noch dazu absichtlich in jener schnörkelhaften Rätselschrift der scholastischen Theologie abgefaßt, die den Massen erst recht unverständlich war; Luther selbst hat oft genug seine Verwunderung darüber ausgesprochen, daß sein Auftreten so große Wirkungen gehabt habe. Was er nicht begriff und was die bürgerliche Geschichtsschreibung sich nur aus allerlei ideologischen Hirngespinsten! zu erklären weiß, ergibt sich sehr einfach aus der ökonomischen Lage der Dinge. Wenn unter den geistigen Führern der reformatorischen Bewegung der geistig beschränkteste auf dem Plane, blieb, die geistig bedeutenderen aber, die Hutten, die Münzer, die Wendel Hipler, untergingen, so geschah es, weil hinter jenem die ökonomisch mächtigste Potenz, das Fürstentum, stand, während hinter diesen die Ritterschaft, das Proletariat, die Bauern und die Städte standen, das heißt: Klassen, die als solche entweder schon im absteigenden oder erst im aufsteigenden Ast ihrer ökonomischen Entwicklung waren und die bei dem inneren Widerstreit ihrer ökonomischen Interessen sich auch zu keiner gemeinsamen Aktion gegen die Fürsten einigen konnten. Es tut nichts zur Sache, daß Luther als der Vorkämpfer der mächtigsten Klasse zeitweise, solange es sich nämlich um die Abwehr der allen Klassen verhaßten römischen Ausbeutung handelte, auch allen Klassen vorzukämpfen schien und daß er demgemäß seine historische Rolle lange nicht begriff. Nach dem Aufstande der Ritter und namentlich nach dem Bauernkriege hat er sie sehr gut verstanden, wie neben unzähligen anderen Zeugnissen schon sein herrlicher Satz zeigt: »Daß zwei und fünf gleich sieben sind, das kannst du fassen mit der Vernunft; wenn aber die Obrigkeit sagt, zwei und fünf sind acht, so mußt du es glauben, wider dein Wissen und Fühlen.«

Mit seinem wirklichen Ruhme – dem Ruhm, als armer und unbekannter Mönch die ausbeuterischen Laster der römischen Kirche erkannt und bekämpft zu haben – stand Luther unter dem proletarischen Teile der damaligen Geistlichkeit weder allein noch in erster Reihe; viele dieser kleinen Priester haben den Haß gegen Rom und die Treue gegen ihre Klasse ehrenvoll mit ihrem Tod auf dem Schlachtfelde oder auf dem Blutgerüste besiegelt. Als »hochgestiegener Bauernsohn« aber, als »Führer der Nation« war Luther der große Mann landesüblichen Schlages: Der Träger der geschichtlichen Entwicklung machte den Versuch, sich zu ihrem Herrn aufzuwerten, und wurde zu ihrem Hemmschuh, soweit seine Macht reichte, darüber hinaus aber zu ihrem Spott. Luther konnte die neue Kirche nach den Bedürfnissen des deutschen Duodezdespotismus zuschneiden; er konnte die sehr weltlichen Landesherren zu obersten Bischöfen ihrer Gebiete machen und ihnen die Verfügung über das Kirchen- und Klostergut zusprechen; er konnte in dem Abendmahlsstreite mit verbissenem Trotz an der Formel festhalten, die den Priester zum Schöpfer des Gottes macht, und so an die Stelle des einen Papstes unzählige Päpstlein setzen, aber er konnte dies alles nur als fanatischer Fürstendiener, nur als Ideolog jenes unaufhaltsamen Verfalls, der durch die dem Welthandel neu eröffneten Bahnen über Deutschland kam, nur um den Preis, daß sein Name schon um die Mitte des sechzehnten Jahrhunderts das Sinnbild der beschränktesten Reaktion wurde. Und das Einmaleins auf dem Altare der Fürstenfürchtigkeit schlachten konnte er am Ende doch nicht. Wenigstens in Sachsen nicht. Wie die hohe ökonomische Entwicklung dieses Landes das wirksamste Mittel zu Luthers Erhöhung gewesen war, so setzte sie der von Luther getragenen Fürstenvollmacht wiederum gewisse Grenzen. In einem noch halbbarbarischen Lande wie der Mark Brandenburg, wo nach dem Zeugnis des Abtes Trittheim ein gebildeter Mann so selten war wie ein weißer Rabe, mochte Kurfürst Joachim II. einen halben Übertritt zur Reformation vollziehen, um das gesamte Kirchengut bis auf die letzte Kirchenmaus zu verprassen; in einem kultivierten Lande wie Sachsen war dies summarische Verfahren unmöglich. Hier mußte ein mehr oder minder großer Teil der Beute für die Befriedigung der Kulturaufgaben verwandt werden, für die bis dahin die katholische Kirche schlecht oder recht gesorgt hatte. So entstanden die sächsischen Schulen zu Annaberg und Freiberg, zu Dresden und Leipzig, zu Naumburg und Merseburg, alle in ihrer Art berühmt, als die berühmtesten aber die aus Klöstern entstandenen sogenannten Fürstenschulen von Grimma, Meißen und Pforta. In Brandenburg war zwar auch bei der »Kirchenvisitation«, das heißt bei der Einheimsung des Kirchen- und Klosterguts in den landesherrlichen Säckel, das eine Kloster Lehnin als eine Art Stiftsschule verschont worden, aber bereits nach zwei oder drei Jahren überkam den Kurfürsten die Reue. Er untersagte nach dem Tode des alten Abtes eine Neuwahl, worauf zehn Mönche die Schädlichkeit des Klosterlebens erkannten und, mit Kleidung und Geld »mehr als verhofft« versehen, das Kloster verließen. Zwei andere Mönche waren etwas begriffsstutziger, doch half eine mehrtägige Gefangenschaft im Schlosse zu Potsdam auch ihnen zur richtigen Erkenntnis. Sie entsagten allen Ansprüchen, und der Kurfürst zog die Klostergüter und Kirchenschätze für sich ein. Heidemann, Die Reformation in der Mark Brandenburg, 234.

Anders in Sachsen. Hier entstand und dauerte ein für deutsche Verhältnisse klassisches Schulwesen. Freilich sank es auch mit seiner Ursache, mit der ökonomischen Blüte Sachsens; je unaufhaltsamer durch den Ausschluß Deutschlands vom Welthandel, durch die Entdeckung unerschöpflicher Gold- und Silberquellen in der Neuen Welt, durch den Dreißigjährigen Krieg usw. die bürgerlichen Klassen in Sachsen wie im ganzen Deutschland ökonomisch verkamen und dadurch dem traurigsten Servilismus verfielen, um so fanatischer pflegten die sächsischen Schulen, vor allen die Universitäten Leipzig und Wittenberg, das ideologische Spiegelbild so jammervoller Zustände, jenes starre und verknöcherte Luthertum, in dessen Schatten eine freie wissenschaftliche Forschung unmöglich gedeihen konnte. Aber trotz alledem war Sachsen dem übrigen Deutschland an Bildung und Wohlstand noch immer überlegen. Politisch entnervt, wie die Bevölkerung sein mochte, blieb sie ökonomisch doch noch widerstandsfähig genug, um sich der Einführung des aussaugenden Militärsystems zu widersetzen, das über die bürgerliche und bäuerliche Bevölkerung in Preußen widerstandslos verhängt worden war. Im Verhältnis zur Bevölkerungsziffer war das sächsische Heer dreimal so klein und kostete dreimal sowenig wie das preußische Heer; es bestand durchweg aus Landeskindern, übrigens sehr braven und zuverlässigen Soldaten, wie Friedrich II. oft zu seinem Schaden erfahren mußte, sowohl in der Schlacht als auch wenn er gefangene Sachsen in preußische Uniformen stecken ließ. Und ferner: Wie erblindete Spiegel auch die sächsischen Schulen geworden waren, so vermochten sie doch allein die ersten Reflexe einer neuen Bildung aufzufangen, die vom Auslande in das verwüstete Deutschland zurückstrahlte.

Lassalle hat die Behauptung Julian Schmidts, wonach Deutschland durch den Dreißigjährigen Krieg einstweilen aus der Reihe der europäischen Kulturvölker gestrichen worden sein sollte, mit derben Worten zurückgewiesen und die in der Tat staunenswerte Fülle bedeutender Köpfe aufgezählt, die Deutschland trotz alledem in und nach jenem Kriege aufgebracht hat. Diese Beweisführung ist vollkommen zutreffend gegenüber einem von platter Unwissenheit eingegebenen Schlagworte, aber man darf sie nicht dahin erweitern wollen, daß Deutschland im siebzehnten Jahrhundert in gleicher Reihe mit den anderen europäischen Kulturvölkern marschiert sei. Ein großer, wenn nicht der größte Teil jener guten Köpfe mußte ins Ausland gehen, für immer oder doch zeitweise, um den nötigen Spielraum für ihre Talente zu gewinnen; die aber in der Heimat blieben, waren als gelehrige Schüler größerer Vorbilder, wie es Christian Thomasius, einer der bedeutendsten von ihnen, offen aussprach, geistig vom Ausland abhängig. Die Tatsache erklärt sich wieder aus dem ökonomischen Verfalle Deutschlands. Der gewaltige Aufschwung der mathematischen und naturwissenschaftlichen Disziplinen, der das siebzehnte und achtzehnte Jahrhundert auszeichnet, war das Ergebnis eines mehr und mehr die Erde umspannenden Weltverkehrs; einen naturwüchsigen Ursprung konnte er nur in den Völkern haben, die an diesem Verkehr einen hervorragenden Anteil hatten, vor allem also in England und in den Niederlanden. Seine Voraussetzung war eine hohe Blüte der bürgerlichen Klassen, wie seine Folge die Erweckung dieser Klassen zu politischem Selbstbewußtsein war. In Deutschland aber gab es seit der Übersiedlung des Handels vom Mittelmeer an den Atlantischen Ozean keine bürgerlichen Klassen als selbständige Macht; die regierenden Klassen in Deutschland waren die Fürsten, und die konnten denn freilich keine nationale Wissenschaft produzieren. Was für eine Rasse diese Klasse überhaupt war, das hat ein genauer Kenner der deutschen Höfe, der Graf Manteuffel, in der ersten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts so geschildert: »Deutschland wimmelt von Fürsten, von denen drei Viertel kaum gesunden Menschenverstand haben und die Schmach und Geißel der Menschheit sind. So klein ihre Länder, so bilden sie sich doch ein, die Menschheit sei für sie gemacht, um ihren Albernheiten als Gegenstand zu dienen. Ihre oft sehr zweideutige Geburt als Zentrum allen Verdienstes betrachtend, halten sie die Mühe, ihren Geist oder ihr Herz zu bilden, für überflüssig oder unter ihrer Würde. Wenn man sie handeln sieht, sollte man glauben, sie wären nur da, um ihre Mitmenschen zu vertieren (abrutir), indem sie durch die Verkehrtheiten ihrer Handlungen alle Grundsätze zerstören, ohne die der Mensch nicht wert ist, ein Vernunftwesen zu heißen.« Biedermann, Deutschland im achtzehnten Jahrhundert, 2, 144, teilt die obigen Worte Manteuffels aus dessen handschriftlichem, auf der Leipziger Universitätsbibliothek befindlichem Nachlasse mit. So ein geschmeidiger Höfling über diese angenehme Sorte von herrschender Klasse, deren nationales Bewußtsein denn in der Tat in nichts anderem bestand, als dem Könige von Frankreich, dem mächtigsten Selbstherrscher des Kontinents, abzugucken, wie er sich räusperte und wie er spuckte.

Glaubt man den »nationalen« Bramarbassen, die im heutigen Deutschland das große Wort führen, so ist die deutsche Ausländerei des siebzehnten und des achtzehnten Jahrhunderts ein Ding, an das der richtige Patriot nicht ohne Entsetzen und Schaudern denken darf. Die wissenschaftliche Auffassung, die in dem Geistesleben der Völker nichts als die ideelle Widerspiegelung von Klassenkämpfen sieht, hat dabei aber zwei ganz verschiedene Dinge zu unterscheiden. Die Ausländerei der Fürsten- und Adelsklasse war allerdings eine brutale Verleugnung auch des bescheidensten Nationalbewußtseins; sie war eine aus den schnödesten Interessen des Duodezdespotismus hervorgegangene Äfferei, die für immer einen Schandfleck der deutschen Geschichte bilden wird. Aber diese schamlose Ausländerei hat zu ihrer Verurteilung nicht erst auf die »nationalen« Bramarbasse von heute warten müssen, sie ist schon vollauf durch ernste Zeitgenossen gebrandmarkt worden; von den Klopstock und Lessing, und wie vielen anderen noch! im achtzehnten Jahrhundert zu geschweigen, so sang Logau im siebzehnten Jahrhundert:

»Diener tragen insgemein ihrer Herren Liverey.
Soll's denn sein, daß Frankreich Herr, Deutschland aber Diener sei?
Freies Deutschland, schäm dich doch dieser schnöden Knechterei!«

Ein ganz anderes und geradezu das entgegengesetzte Urteil erheischt die Ausländerei der deutschen Gelehrten. Sie war der erste Versuch aufgeweckter bürgerlicher Elemente, ihre Klasse aus einem bodenlosen Sumpfe zu ziehen. Es gab kein anderes Mittel für diesen Zweck; die Früchte, die das heimatliche Gewächs des orthodoxen Luthertums trug, waren eitel Asche und Staub. Aber es ist ein schwieriges und undankbares Geschäft, einem abgestorbenen Stamme, der aus seinen Wurzeln keine Nahrung mehr zieht, neues Leben einzuhauchen, indem man ihm Zweige von fremden Stämmen einpflanzt. Erst als sich in dem Stamme selbst wieder einiges Leben regte, als die bürgerlichen Klassen in Deutschland sich ökonomisch ein wenig zu erheben begannen, also etwa seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts, begannen die fremden Zweige mit dem heimischen Stamme zu verwachsen. Bis dahin blieb den deutschen Gelehrten nichts übrig, als ihre geistige Nahrung oder gar ihre Heimat im Auslande zu suchen. Und zwar um so mehr, als die in Deutschland herrschende Fürstenklasse die deutsche Bildung entweder mit feindseligen oder mit ganz gleichgültigen Blicken oder aber mit einem sehr zweideutigen Interesse betrachtete, mit dem Interesse nämlich, sie ihrem Duodezdespotismus nützlich zu machen. Sie ließ die deutschen Gelehrten entweder verhungern oder jagte sie über die Grenze oder zog sie an ihre Höfe, und es ist schwer zu sagen, welcher dieser drei Fälle den also Behandelten verhängnisvoller wurde. Unter diesem Gesichtspunkte begreift es sich aber leicht, weshalb die deutschen Gelehrten, die in ihrem Vaterlande blieben, nach Seiten des Charakters mehr oder minder seltsame Heilige wurden, weshalb überhaupt die deutsche »Aufklärung« jenen halben und zweideutigen Charakter bekam, der einem Manne wie Lessing ein Greuel war. Die englische und die französische Philosophie wurzelten in den bürgerlichen Klassen des englischen und des französischen Volkes; dieser Ursprung war ihnen zugleich Schranke und Schutz. Die deutsche »Aufklärung« aber schwebte wurzellos in der freien Luft; nichts hinderte sie, so weit zu gehen, wie »das Licht der Vernunft« leuchtete, aber nichts schützte sie auch, wenn ein Strahl dieses Lichts den Kehricht der Fürstenhöfe gar zu grell beleuchtete; daher jene heuchlerische Mischung von überlegenem Lächeln und frommem Entsetzen, womit die deutschen »Aufklärer« der englischen und französischen »Materialisten und Naturalisten, Atheisten und Spinozisten« zu spotten glaubten und nur ihrer seihst spotteten, sie wußten nicht wie. Ganz hat die bürgerliche Wissenschaft in Deutschland diese häßliche Schwäche ja niemals abgestreift, einfach weil die bürgerlichen Klassen in Deutschland sich niemals auf ihre eigenen Füße zu stellen gewagt haben. Und seitdem die deutsche Bourgeoisie sich unter die preußischen Bajonette geflüchtet hat, ist jene Schwäche vielleicht in ärgerer Form wieder aufgelebt, als sie jemals früher besaß. Denn es will uns beispielsweise verzeihlicher bedünken, wenn Leibniz neben seinen unsterblichen Verdiensten auf dem Gebiete der exakten Wissenschaften auch die Schwäche hatte, einem »hohen Gönner« durch seine Monadenlehre die Gegenwart Gottes im Abendmahl auf physikalischem Wege beweisen zu wollen, als wenn die Scherer und Erich Schmidt ohne alle unsterblichen Verdienste die deutsche Geistesgeschichte mit dem preußischen Korporalstocke zu einem unförmlichen Götzenbilde zurechthämmern möchten.

Unter solchen Umständen mußte Sachsen das Vorland für das geistige Wiedererwachen des deutschen Bürgertums werden. Die sächsischen Schulen waren die einzigen oder doch die geeignetsten Organe, womit die bürgerliche Bildung des Auslandes ergriffen werden konnte. Mochten sie durch das orthodoxe Luthertum noch so sehr heruntergebracht sein, mochten die alten Sprachen an ihnen nur noch gelehrt werden, um das Klauben am Buchstaben der Bibel zu ermöglichen, so waren diese Sprachen deshalb nicht weniger der Schlüssel zur Schatzkammer der europäischen Wissenschaft, und vom Ende des siebzehnten bis tief in das achtzehnte Jahrhundert hinein sind die weitaus meisten Träger der deutschen Geistesgeschichte geborene Sachsen gewesen oder doch aus den sächsischen Schulen hervorgegangen. Von Leibniz, Pufendorf und Thomasius bis zu Geliert, Klopstock, Lessing. Ja fast noch weiter hinaus! Mit Goethes und Schillers Eintritt in die sächsische Kultur begann eine neue Epoche in dem Leben dieser Süddeutschen; auch lag Weimar nicht im preußischen Militär-, sondern im sächsischen Kulturkreise, und Karl August war kein Hohenzoller, sondern ein Wettiner.

Doch das greift schon über den Rahmen dieser Darstellung hinaus. Dagegen gehört zu unserer Aufgabe ein kurzes Wort über den sozialen Fortschritt, der durch jene beiden Reihen von Namen gekennzeichnet wird. Leibniz, Pufendorf und Thomasius standen bereits auf bürgerlichem Boden. Es war im Interesse der bürgerlichen Klassen, wenn sie die weltliche Wissenschaft aus den Fesseln der Theologie zu erlösen trachteten. Es war in demselben Interesse, wenn der philosophische Optimismus von Leibniz, wieviel sich sonst immer gegen ihn einwenden ließ, die orthodoxe Vorstellung von der Erde als einem Jammer- und Tränental erschütterte. Es war weiter in demselben Interesse, wenn Pufendorf und Thomasius die Ableitung aller bürgerlichen Gesellschaften aus einem Vertrage und das Recht des einzelnen zum Widerstand gegen offenbares Unrecht lehrten, wenn sie den göttlichen Ursprung der Fürstengewalt leugneten und ihren Beifall den in den Niederlanden gegen den Despotismus Jakobs II. erschienenen Schriften spendeten, wenn Thomasius die deutsche Sprache in die Hörsäle der Hochschulen zurückführte. Aber die Bestrebungen dieser Männer fanden in den bürgerlichen Klassen weder eine Stütze noch einen Widerhall. Leibniz war gerade in seinen bleibenden Leistungen mehr ein europäischer als ein deutscher Gelehrter; Pufendorf und Thomasius aber bekannten selbst, ihre Ideen aus Hugo Grotius und Hobbes geschöpft zu haben. Sie alle waren noch vollständig auf die Höfe angewiesen. Leibniz geriet schon zu seiner Zeit in den bösen Ruf, alles beweisen zu können, was Fürsten wünschten; Pufendorf endete als schwedischer und brandenburgischer Hofgeschichtsschreiber; Thomasius hat in seiner späteren Zeit als königlich-preußischer Professor in Halle dem fürstlichen Despotismus die unglaublichsten Zugeständnisse gemacht.

Dagegen standen um die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts Geliert, Klopstock, Lessing nicht bloß auf bürgerlichem Boden, sondern sie wurzelten schon darin. Geliert war immerhin ein sehr bescheidenes Licht gegen die anderen beiden, aber sein Fabelbuch sammelte die bürgerlichen Klassen zum ersten Male um eine literarische Standarte, und wie devot Geliert für seine Person war, ein erstes leises soziales Grollen des bürgerlichen Selbstbewußtseins klang und klingt doch durch seine harmlosen Reime. Ungleich schroffer und stolzer lebte dies Bewußtsein in Klopstock, dem späteren Sänger der Französischen Revolution, und vor allem in Lessing, der die Fessel jedes höfischen oder staatlichen Amtes verschmähte und in sozialer Freiheit seinem schriftstellerischen Berufe zu leben versuchte. Es war für Deutschland ein unerhörtes Wagnis, und der tragische Ausgang sollte lehren, daß die bürgerlichen Klassen für die Kühnheit ihres Vorkämpfers nicht reif waren, aber dies halb nachlässige, halb trotzige Selbstvertrauen machte den ganzen Lessing aus, gleichviel, ob er als zwanzigjähriger Jüngling schrieb: »Was tut mir das, ob ich in der Fülle lebe oder nicht, wenn ich nur lebe«, oder als fünfzigjähriger Mann: »Ich bin zu stolz, mich unglücklich zu denken, knirsche eins mit den Zähnen und lasse den Kahn gehen, wie Wind und Wellen wollen; g'nug; daß ich ihn nicht! selbst umstürzen will!« Es war der schroffste Gegensatz zu der ängstlich-gierigen Philistersorge um eine »Bedienung«, die in den Briefwechseln der Zeit ihren Spuk treibt, und etwas von diesem franken und freien Wesen hat Lessing wohl durch die Schule empfangen. Er besuchte die Fürstenschule in Meißen von 1741 bis 1746! Diese Gelehrtenschulen waren damals bereits etwas aufgetaut von dem orthodoxen Luthertum; weniger durch die Schulfron gekettet als zürn regen Privatstudium angeleitet, im ständigen Verkehre mit hundert und mehr Mitschülern, hat Lessings geselliger und streitbarer, reger und selbständiger Geist in Meißen unzweifelhaft eine wohltätige Zucht erfahren. Wohl suchte er mit Erfolg die vorgeschriebene Schulzeit um ein Jahr abzukürzen, und wohl spottete er später über die Pedanterie einzelner Lehrer, deren Streben weniger dahin ginge, »vernünftige Menschen als tüchtige Fürstenschüler zu bilden«, aber er rühmte oft von der St. Afra, daß er es ihr zu danken habe, wenn ihm »etwas Gelehrsamkeit und Gründlichkeit zuteil geworden sei«, und in einer fast wehmütigen Stimmung, wie sie ihn selten anwandelte, schrieb er mitten im Kampfe des Lebens: »Theophrast, Plautus und Terenz waren meine Welt, die ich in dem engen Bezirke einer klostermäßigen Schule mit aller Bequemlichkeit studierte. Wie gerne wünschte ich mir diese Jahre zurück, die einzigen, in welchen ich glücklich gelebt habe!«

So Lessing. Wie anders aber fielen die Lose eines Mannes, der mit Lessing in Anlagen und Neigungen so manche Ähnlichkeit hatte, dessen Name so oft mit dem seinen zusammen genannt werden sollte, fielen die Lose Winckelmanns! Mehr als drei Jahrzehnte irrte dieser Unglückliche, »das Land der Griechen mit der Seele suchend«, durch die Wüste der brandenburgischen Barbarei; als Schüler und als Lehrer geplagt von einem heißen und niemals gestillten Wissenshunger; immer auf der Landstraße, um hier einen Brocken Griechisch zu erhaschen und dort einen alten Lateiner zu exzerpieren; in anderthalb Tagen elf Meilen auf grundlosen Wegen marschierend, um sich irgendeinen Schmöker zu leihen, den er dann, nachdem er sich den Tag über mit rohen und störrischen Kindern geplagt hatte, in der Nacht studierte; jahrelang mit zwei oder drei Stunden Schlaf sich begnügend; zu allem Überflusse noch von den Schikanen und Drohungen eines bösartigen Pfaffen verfolgt, denn in diesen Staaten konnte jeder nach seiner Fasson selig werden; endlich schon in dumpfer Resignation verzweifelnd, als ihm ein Zufall die Tür nach Sachsen öffnete. Was Wunder, daß er, aufjubelnd wie ein von allen Höllenqualen Erlöster, den preußischen Staub von seinen Pantoffeln schüttelte! Aber als er mit einunddreißig Jahren in Sachsen ein neues Leben begann, stand er mit dem wüsten Chaos seiner wild zusammengerafften Kenntnisse schwerlich über dem Lessing, der mit siebzehn Jahren die Universität Leipzig bezog. In dem Kulturlande Sachsen wandte sich Winckelmanns Schicksal freilich schnell zum Guten, ja zum Glänzenden, aber die traurige Verwüstung seiner Jugend hat ihn doch gehindert, mehr als ein Spätling der Humanisten zu werden, und Lessing wußte wohl, weshalb er, selbst am Hungertuche nagend, über Winckelmann schrieb: »Niemand kann den Mann höher schätzen als ich, aber dennoch möchte ich ebenso ungern Winckelmann sein, als ich oft Lessing bin.«

Man wird jetzt aber verstehen, wie verlockend Winckelmanns Schicksal auf Lessing wirken mußte, so daß er flugs seiner sächsischen Heimat »entlief«, um in Berlin den »entscheidenden Anstoß« zu erhalten.


 << zurück weiter >>