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II. Lessing und die Universität Leipzig

In den Jahren 1746 bis 1748 studierte Lessing auf der Universität Leipzig. Im Jahre 1754 aber schrieb er an Michaelis, man setze ihn in große Verlegenheit, wenn man ihn frage, was er studiert habe. Er ist niemals das gewesen, was man ein »liederliches Genie« zu nennen pflegt, obschon er immer das Gegenteil eines Philisters war. Als blutarmer Jüngling bereits fand er es »ärgerlich«, so viele Poeten und Poetlein »so bitter, so ausschweifend, so verzweifelnd über ihre in Vergleichung anderer noch sehr erträgliche Armut wimmern« zu hören. Ihm war diese faule und feige Sentimentalität, die« gemeiniglich, so stark sie bis auf diesen Tag in der deutschen Literatur und Literaturgeschichte gewuchert hat, ein ideologisches Mäntelchen für die Faulheit und Feigheit der bürgerlichen Klassen gewesen ist, völlig fremd. Eine echte Kämpfernatur scheut Entbehrung und Not nicht, wenn sie nur den Kampf findet; nach mehrmonatlichem Büffeln entdeckte der achtzehnjährige Lessing, »die Bücher würden ihn wohl gelehrt, aber nimmermehr zu einem Menschen machen«, und er entschloß sich, »ebensoviel in der Welt und in dem Umgange der Menschen zu studieren als in Büchern«. Nichts fesselnder als die Art, in der Lessing zwei Jahre später, als sein Entschluß zunächst mit einem großen Krach geendet hatte, ihn dennoch vor seinen erbitterten Eltern verteidigt. Er schreibt: »Ich wagte mich von meiner Stube unter meinesgleichen. Guter Gott, was vor eine Ungleichheit wurde ich zwischen mir und anderen gewahr! Eine bäuersche Schüchternheit, ein verwilderter und ungebauter Körper, eine gänzliche Unwissenheit in Sitten und Umgange, verhaßte Mienen, aus welchen jedermann seine Verachtung zu lesen glaubte, das waren die guten Eigenschaften, die mir bei meiner eigenen Beurteilung übrigblieben. Ich empfand eine Scham, die ich niemals empfunden hatte. Und die Wirkung derselben war, mich hierinne zu bessern, es koste was es wolle. Sie wissen selbst, wie ich es anfing. Ich lernte tanzen, fechten, voltigieren. Ich will in diesem Briefe meine Fehler aufrichtig bekennen; ich kann auch also das Gute von mir «sagen. Ich kam in diesen Übungen so weit, daß mich diejenigen selbst, die mir in voraus alle Geschicklichkeit darinnen absprechen wollten, einigermaßen bewunderten. Dieser gute Anfang ermunterte mich heftig. Mein Körper war ein wenig geschickter geworden, und ich suchte Gesellschaft, um nun auch leben zu lernen.« So will Lessing seinen »ganzen Lebenslauf auf Universitäten abmalen«, und einen wie zweifelhaften Genuß dies Gemälde seinen ängstlichen Eltern bereitet haben mag: Uns kann darnach die Frage, was er studiert hat, nicht mehr in große Verlegenheit setzen. Er wollte auf der Universität leben lernen, und seitdem es für Hutten eine Lust war, in dem Deutschland des sechzehnten Jahrhunderts zu leben, hatte kein Deutscher wieder einen so einfachen Entschluß mit so instinktiver Klarheit und Sicherheit gefaßt wie Lessing.

Leipzig war damals aber nicht nur die geeignetste, sondern geradezu die einzige deutsche Stadt, wo ein Sprößling der bürgerlichen Klassen eine Handvoll Lebensluft schöpfen konnte. Zwar die preußischen Geschichtsschreiber wissen es wieder einmal besser; um nur einen herauszugreifen, so erzählt Treitschke, die Hohenzollern seien »von alters her«, obendrein noch »nach gutem deutschen Fürstenbrauche«, für die »idealen Aufgaben des Staatslebens treu besorgt gewesen«, und im Anfange des achtzehnten Jahrhunderts hätte »Deutschlands wiedererwachende Kunst und Wissenschaft in dem rauhen Brandenburg ihre Heimat« gefunden. »Die vier reformatorischen Denker des Zeitalters, Leibniz, Pufendorf, Thomasius, Spener, wandten sich dem preußischen Staate zu. Die neue Friedrichs-Universität zu Halle ward die Zufluchtstätte freier Forschung, übernahm für einige Jahrzehnte die Führung der protestantischen Wissenschaft.« Nun ist es vollkommen richtig, daß um die Wende des Jahrhunderts das verknöcherte Luthertum in Sachsen noch mächtig genug war, jene vier Männer aus dem Lande zu beißen, von denen beiläufig der Pietist Spener sich den Ruhmestitel eines »reformatorischen Denkers« unbekannt wo erworben hat. Aber es ist vollkommen unrichtig, zu sagen, daß sich die Viere von dem »Idealismus« des preußischen Staats angezogen gefühlt hätten wie das Eisen vom Magnet. Leibniz hat sich an dem, wie er sich unehrerbietig genug ausdrückte, »liederlichen« Hofe von Berlin überhaupt nur zeitweise aufgehalten, auf Veranlassung seiner welfischen Gönnerin Sophie Charlotte, die ihrerseits auch nur mit mäßiger Befriedigung die Rolle der ersten preußischen Königin spielte. Pufendorf lebte an zehn Jahre in der Pfalz und an zwanzig Jahre in Schweden, ehe er am Abend seines Lebens nach Berlin berufen wurde, um gegen das artige Honorar von zehntausend Talern ein offiziöses Geschichtswerk über den Kurfürsten Friedrich Wilhelm zu schreiben. Immerhin muß es als ein bescheidenes Verdienst des »rauhen Brandenburg« um die »wiedererwachende Kunst und Wissenschaft« betrachtet werden, daß Pufendorf nach vollbrachter Arbeit sein Honorar mit Mühe und Not in einzelnen Raten erhielt und daß der bei seinem Tode noch ausstehende beträchtliche Rest seiner in großer Dürftigkeit lebenden Witwe vorenthalten wurde, sosehr der verschwenderische Hof Friedrichs I. das Land aussog und ungeheure Summen an allerlei Abenteurer und Gauner verschwendete. König, Versuch einer Geschichte Berlins, 3, 346.

Des weiteren war die Universität Halle weder eine »Zufluchtstätte freier Forschung«, noch sollte sie es sein. Sie wurde 1694 vornehmlich aus zwei Ursachen gegründet. Erstens mußte der brandenburgische Militärstaat aus schon entwickelten Gründen eine gewisse Duldung der Konfessionen beobachten und konnte so »sektiererische und gegen andersdenkende Bürger kriegerische« Geistliche nicht gebrauchen, wie sie auf den altlutherischen Universitäten Leipzig und Wittenberg gebildet wurden. Diesen sächsischen Hochschulen sollte in dem preußischen Halle ein militärfrommes Luthertum auf die Nase gesetzt werden. Ferner aber brauchte jener sich eben als ein Königreich entpuppender Militärstaat nachgerade ein besonderes Staatsrecht, die juristische Kodifikation seiner ökonomischen Lebensbedingungen drängte um so mehr, als auf den deutschen Universitäten noch ein ideologisches Schattenbild von Kaiser- und Reichsrecht umherspukte, mit dem die künftigen preußischen Beamten doch lieber erst gar nicht bekannt wurden. Ermöglicht aber wurde die Gründung der Universität Halle durch die Aufnahme des Christian Thomasius und der Pietisten in Preußen. Nur daß diese Aufnahme mit »freier Forschung« und dergleichen schönen Dingen wirklich auch gar nichts zu tun hatte. Der Pietismus war nichts als die religiöse Widerspiegelung des grauenvollen Elends, das der Dreißigjährige Krieg über die Nation gebracht hatte; durch ihn erklärten sich die bürgerlichen Klassen vor aller Welt für bankerott, sie wollten gar nichts mehr mit der Erde, sondern nur noch etwas mit dem Himmel zu tun haben. Insofern trat der Pietismus in einen gewissen Gegensatz zu dem Luthertum, das den bürgerlichen Klassen wenigstens noch die eine irdische Aufgabe zuwies, ein Fußschemel der fürstlichen Herrlichkeit zu sein. Allein sobald die bürgerlichen Klassen sich wieder ein wenig auf Erden umzusehen begannen, mußte der Pietismus ein fast noch beschränkterer Gegner dieser »freien Forschung« und in weiterer Folge – da er trotz seiner Verhimmelung nun doch einmal nicht über die Blitze des Himmels verfügen konnte – ein fast noch devoterer Fürstenknecht werden, als die lutherische Orthodoxie jemals gewesen war. Dieser bedingte Gegensatz zum Luthertum erklärt sowohl das zeitweilige Bündnis des Pietismus mit dem Aufklärer Thomasius wie auch die. Berufung beider sonst sehr verschiedener Parteien an die Universität Halle. Denn der frische und kecke Kampf, den der junge Thomasius in Leipzig gegen die pedantischen Perücken einer versteinerten Gelehrsamkeit geführt hatte, empfahl ihn in Berlin nicht im entferntesten. Ein ganz anderer Anlaß lenkte die Aufmerksamkeit des preußischen Hofes auf ihn. Der lutherische Herzog von Sachsen-Zeitz hatte eine reformierte Gemahlin genommen, die verwitwete Herzogin von Mecklenburg-Güstrow, eine Schwester des Kurfürsten (späteren Königs) Friedrich von Brandenburg, mit der Zustimmung ihrer, aber gegen den Wunsch seiner Familie. Nun waren aber auch die lutherischen Zionswächter im Preußischen und im Sächsischen über die konfessionell gemischte Ehe in höchste Aufregung geraten, was dem preußischen Hofe ebenso unwillkommen war wie dem sächsischen Hofe willkommen. In Preußen nahm die Sache ein schnelles Ende, indem der Kurfürst Friedrich den lutherischen Propst Müller in Magdeburg, der gegen die Ehe verschiedener Glaubensgenossen als unchristlich geschrieben hatte, und zwar ohne jene fürstliche Ehe selbst anzugreifen, einfach in der Festung Spandau eintürmen ließ! In Sachsen dagegen fuhr Thomasius den lutherischen Eiferern in die Parade, indem er die angefochtene Ehe als göttlichem und menschlichem Rechte gemäß erklärte. Darauf verbot ihm der Kurfürst von Sachsen bei zweihundert Talern Strafe Vorlesungen und Schriftstellerei, und nunmehr begab sich Thomasius nach Berlin, wo er als Verfechter eines hohenzollernschen Hausinteresses günstig aufgenommen und in Halle als freundnachbarlicher Konkurrent seiner ehemaligen Leipziger Kollegen angesiedelt wurde. Für die preußische Geschichtsschreibung ist es kennzeichnend, daß Stenzel, Geschichte des preußischen Staates, 3, 55, das »Andenken des freisinnigen Fürsten« feiert, der durch die Aufnahme von Thomasius gezeigt habe, »daß er hoch über denen stand, die solche Männer verjagten«. Dabei berichtet Stenzel nicht ganz drei Seiten vorher, gleich als verstünde es sich von selbst, daß der brandenburgische Kurfürst seinen Thomasius, den Propst Müller, der in Brandenburg genau dasselbe »Verbrechen«, einen Widerspruch gegen die Ansicht seines angestammten Fürsten, begangen hätte wie Thomasius in Sachsen, zwar nicht »verjagt«, aber dafür ohne alles Federlesen in Spandau eingekerkert hatte. Bei alledem wäre es ungerecht, zu verkennen, daß Stenzel, der vor fünfzig Jahren schrieb, eine Leuchte unabhängiger Gesinnung ist, verglichen mit den heutigen preußischen Historikern.

Begreiflicherweise konnte die neue Universität Halle nur bestehen, indem sie sich den Lebensbedingungen des preußischen Militärstaats anpaßte. Es war noch das beiläufigste Item, daß der alte Dessauer mit seinem Regimente in Halle lag und in seinem Zentaurenhasse gegen Bildung und Wissenschaft Professoren und Studenten nach Möglichkeit kujonierte. Vor diesem Helden des friderizianischen »Heldenheeres« nahm sogar »Grenadier« Gleim Reißaus. Er war dem Fürsten von Dessau 1745 als Stabssekretär beigegeben, ging aber schleunigst von dannen, als er sah, daß der Fürst einen ganz unschuldigen, mit guten Pässen reisenden Juden einfach als »Spion« aufknüpfen ließ. Körte, Gleims Leben, 35. Schwerer als diese äußeren Bedrängnisse fiel der geistige Verfall ins Gewicht, dem Thomasius und die Pietisten in einem so banausischen Lande unterlagen, wie damals Preußen war. Thomasius gab in Halle die Monatsschrift auf, womit er in Leipzig so treffliche Streiche geführt hatte, dagegen entwickelte er in seiner »Hofphilosophie« sehr unphilosophische Grundsätze über das äußere Fortkommen im Leben und die Protektion der Vornehmen. Er lehrte in einem Gutachten der Hallischen Juristenfakultät: »Das odium in concubinas« muß bei großen Fürsten und Herren zessieren, indem diese allein Gott von ihren Handlungen Rechenschaft geben müssen, hier nächst eine concubina etwas von dem splendeur ihres Amanten zu überkommen scheint.« Er nannte es »unverschämt«, wenn die Geistlichen auch gegenüber Fürsten ihr Recht, zu binden und zu lösen, geltend machen wollten, und erkannte gegen die braunschweigischen Hofprediger, die einer Prinzessin hartnäckig abrieten, zum Zweck einer österreichischen Heirat katholisch zu werden, »wegen solcher Auflehnung wider den Landesherrn als Bischof« auf Kerker und Landesverweisung. Ja, Thomasius sprach sogar über seine Vertreibung aus Sachsen ein rechtfertigendes Urteil, indem er ausführte: Ein Fürst, obwohl es ihm nicht zustehe, einen Ketzer mit weltlicher Strafe zu belegen, könne doch einem solchen Menschen anbefehlen, das Land zu verlassen, nicht anders, wie ein Hausvater einem Knechte, der ihm nicht anstehe, weil er sich etwa in seinen Humor nicht schicke, aufsagen könne. Ob Thomasius an der denunziatorischen Intrige beteiligt gewesen ist, die zur Vertreibung des Philosophen Wolff aus Preußen führte, muß dahingestellt bleiben; Wolff selbst behauptet es, doch kann sein Zeugnis allein nicht entscheiden; jedenfalls hat Thomasius zu dem rohen Gewaltakte geschwiegen. Dagegen waren die Pietisten in erster Reihe an der jammervollen Machenschaft beteiligt, und der Pietist Francke pries die Flucht Wolffs und seiner hochschwangeren Frau auf der Kanzel als ein gerechtes Strafgericht Gottes.

Überhaupt ist dieser Wolffische Handel in vielfacher Beziehung sehr lehrreich für die damaligen Zustände im Preußischen. Wolff war ein seichter Modephilosoph, der in seiner »Moralphilosophie« ähnliche duckmäuserische Ansichten vertrat wie Thomasius in seiner »Hofphilosophie«, indessen er hatte in jener sich mählich aus dem theologischen Joche loslösenden Zeit großen Zulauf. Aus Angst um die galoppierende Schwindsucht ihrer Kollegiengelder ließen die Theologen in Halle dann dem Könige Friedrich Wilhelm I. den schon erwähnten Humbug einblasen, nach Wolffs Grundsätzen dürften Deserteure nicht bestraft werden. Die sofortige Vertreibung Wolffs durch den König befriedigte nun zwar die milden Gemüter der theologischen Denunzianten, aber in weit geringerem Grade ihre hungrigen Geldbeutel, denn der Besuch einer unter so milden Himmelsstrichen gelegenen Universität nahm sofort ab. Auch der König merkte zu seinem Schrecken diese Folge seines Befehls an dem sinkenden Ertrage der Akzise. Der Stiftungsfonds der Universität Halle betrug 3500 Taler und wurde später auf 7000 Taler erhöht. Dagegen war der Ertrag der Akzise, der vorher noch nicht 20 000 Taler betragen hatte, nach der Gründung der Hochschule auf 32 000 Taler gestiegen, so daß die Universität dem Staate weit mehr eintrug als kostete. Hofbauer, Geschichte der Universität Halle, 63. Er war nun offenbar der ja auch ganz plausiblen Meinung, daß es schwieriger sei; ohne Geld Rekruten zu werben, als geworbene Rekruten trotz Wolffs Philosophie unter der Fuchtel zu halten. So befahl er denn den Kandidaten der Theologie, die eben erst bei Karrenstrafe verbotenen Schriften von Wolff eifrig zu studieren, und bemühte sich auf alle Weise, Wolff wieder ins Land zu locken. Wolff scheute als gebranntes Kind aber das Feuer, und sein Gönner Manteuffel, dessen Rat er sich erbat, wußte ihm auch nur, zu antworten: »Jeder Untertan in diesem Lande, wes Standes er immer sei, wird als ein geborner Sklave betrachtet, über den der Herr nach Gutdünken verfügen kann. Alle Welt ist überzeugt, daß man alle Gelehrten verjagen und alle Universitäten zerstören würde, wenn man sich davon Profit verspräche. Man liebt die Gelehrten nur soweit, als sie zur Vermehrung der Akziseeinkünfte dienen können.« Wolff kam erst nach der Thronbesteigung Friedrichs II. zurück, um nunmehr zu zeigen, daß er der beste Bruder auch nicht war. Als die Universität Halle im Jahre 1745 um Abschaffung der Komödianten gebeten hatte, weil sich die Studenten im Theater zu prügeln pflegten, verfügte der Philosoph von Sanssouci: »Da ist das geistliche Muckerpack schuldt daran, sie Sollen spillen und Hr. Francke es war der jüngere Francke) oder wie der Schurke heisset, Sol darbei Seindt, umb die Studenten wegen seiner Närischen Vorstehlung eine öffentliche Reparation zu thun, und mihr Sol der atest vom Comedianten geschicket werden, das er dargewesen ist.« Und also geschah es. Es ging nun das Gerede, der akademische Senat wolle gegen diese Unbill protestieren. Aber auf eine Anfrage des Grafen Manteuffel erklärte Wolff, davon wisse er nichts, und in keinem Falle werde er sich an einem solchen Proteste beteiligen.

Erwägt man, daß Halle, auch nach Lessings Ansicht, immerhin die beste der preußischen Universitäten war und daß die Wolffiade sich beinahe noch als ein ehrwürdiger Geisteskampf ausnimmt, verglichen mit den Narrenspossen, die Friedrich Wilhelm I. mit den Professoren in Frankfurt a. O. trieb, so tritt die Bedeutung Leipzigs für das Wiedererwachen des bürgerlichen Selbstbewußtseins erst in das rechte Licht. Die Stadt hatte sich als erster Handelsplatz des Reichs eine fast republikanische Unabhängigkeit errungen; sie durfte mit keiner Garnison belegt werden; ihr reger Meßverkehr gab ihrer Bürgerschaft einen helleren und weiteren Blick, als er dem deutschen Pfahlbürgertum der damaligen Zeit sonst eigen war und eigen sein konnte. Von dieser verhältnismäßig hohen ökonomischen Entwicklung zogen die geistigen Interessen den entsprechenden Gewinn. Schon als Sitz des deutschen Buchhandels war Leipzig zugleich eine intellektuelle und ökonomische Macht. Aber, auch die Universität Leipzig stand weitaus an der Spitze der deutschen Hochschulen. Sie hatte sich die Unabhängigkeit einer mittelalterlichen Korporation zwar mit ihren Schatten-, aber auch mit ihren Lichtseiten erhalten. Mochte sie gelegentlich auch unter fürstlicher Willkür leiden, so waren ihre Lehrer doch viel zu gewichtige Männer und standen viel zu fest in ihren Schuhen, als daß der Dresdener Hof sie nach preußischem Vorbilde wie Schalksnarren hätte behandeln dürfen. Auch gebietet die Gerechtigkeit anzuerkennen, daß den Wettinern die Neigung dazu im allgemeinen fernlag. Nicht zwar, als oh wir uns in die intimen Streitigkeiten zwischen den preußischen und sächsischen Geschichtsschreibern mischen wollten; wir stehen nicht auf dem Standpunkte, daß Fürstengeschlechter die Geschichte machen, sondern wir meinen, daß diesen Geschlechtern ihre historische Rolle von der geschichtlichen Entwicklung vorgeschrieben wird. Ist dem aber so, dann läßt sich nicht verkennen, daß den Wettinern auf dein Gebiete der Kultur eine immerhin erfreulichere Rolle zugefallen war als den Hohenzollern auf dem Gebiete des Militarismus. Durch die Reihe jener vererbte sich seit der Reformation ein gewisses Interesse an der Kunst, durch die Reihe dieser ein großes Interesse an der Soldateska! Weder jenes noch dieses war freie Wahl, sondern eine Folge der Verschiedenheit, die zwischen den von den Hohenzollern und den Wettinern regierten Ländern bestand. Als Herrscher von Sachsen würden die Hohenzollern einige Vorliebe für die Kunst, als Herrscher von Brandenburg die Wettiner innige Zärtlichkeit für den Militarismus bekundet haben. Diese Sachlage ist so einfach und so klar; sie entbehrt zudem so sehr jeder allgemeinen Bedeutung, daß wir sie gar nicht berührt haben würden, wenn nicht auch in diesem Punkte die Lessing-Legende richtigzustellen wäre. Allen Respekt vor der sittlichen Entrüstung über die Verschwendung der sächsischen Auguste, aber die Wohlfeilheit hat auch nie zu den Tugenden des preußischen Militarismus gehört, und vielleicht ist die Dresdener Gemäldegalerie ein ebenso wirksamer Hebel deutscher Kultur gewesen wie der Stock, mit dem die preußischen Friedriche ihre Soldaten drillten. Justi schreibt in seiner Winckelmann-Biographie, 1, 253: »Es sei ferne, Verdammungsurteile abschwächen zu wollen, welche die Geschichte längst gefällt hat, aber wenn man die ewig sich wiederholenden Tiraden von Demagogen, Frömmlern und Hofdemagogen hört, so kann man fragen: Hat Karl XII. nicht Schweden tiefer ins Verderben gerissen als die beiden August Sachsen, und noch dazu, ohne eine Spur zu hinterlassen?« Recht gut soweit, aber weshalb nach Schweden schweifen? Es gibt nähergelegene Parallelen.

Genug, Leipzig war ein Ort, wo man, wie Lessing seiner Mutter schrieb, »die ganze Welt im Kleinen sehen« konnte. Oder wie wir heute sagen möchten: die ganze bürgerliche Welt auf dem höchsten Punkt ihrer damaligen Entwicklung. Mit ihrem geistigen Gehalte mußten sich die Klopstock und die Lessing erst durchdringen, wenn sie wirkliche Führer der bürgerlichen Klassen werden wollten, wie sie es denn geworden sind. Beide lebten gleichzeitig in Leipzig, ohne sich zu berühren. Möglich, daß nur ein Zufall sie voneinander fernhielt, aber dann gilt von diesem Zufalle Wallensteins Wort:

»Es gibt keinen Zufall!
Und was ein blindes Ohngefähr uns dünkt,
Gerade das steigt aus den tiefsten Quellen.«

Jeder von beiden, Klopstock wie Lessing, lebte in Kreisen, die sich nicht schnitten. Klopstock war mit einem fertigen Lebensplane von der Schule gekommen; er warf, wie Danzel mit einem allzu harten, aber nicht völlig unwahren Worte sagt, der Nation die ganze Unreife seiner zwanzigjährigen Primanerexistenz ins Gesicht; in einem Sinne war er früh fertig, in einem andern Sinne ist er niemals fertig geworden; als Jüngling schon gewann er glänzenden Ruhm, den er dann ein langes Leben hindurch nur langsam erbleichen sah. Wie hoch stehen die ersten Gesänge des Messias über den hölzernen Theaterstücken, mit denen Lessing begann, aber wie schnell und wie weit ist Klopstock hinter Lessing zurückgeblieben! Der Grund ihrer verschiedenen Schicksale liegt nicht in der verschiedenen Art ihrer Begabung, denn die hätte sie nicht [zu] hindern brauchen, auf verschiedenen Gebieten in gleicher Höhe zu marschieren, sondern in der verschiedenen Stärke ihres Klassenbewußtseins. So frisch und keck auch Klopstock in das Leben sah, sowenig es ihm an bürgerlichem und nationalem Stolze fehlte, so blieb er doch noch immer in dem deutschen Philistertum stecken. Es war in jedem Sinne eine Schulaufgabe, ein ganzes Leben an ein religiöses Epos zu setzen, und nur ein verkümmertes, den Schein für das Wesen nehmendes Klassenbewußtsein konnte ihn auf das Muster Miltons führen. Freilich war Milton auch ein Herold der bürgerlichen Klassen, aber den englischen Puritanern war die Religion die ideologische Widerspiegelung gewaltiger Klassensiege, während sie den bürgerlichen Klassen in Deutschland nichts als das ideologische Symbol eines Despotismus sein konnte, dem eben diese Klassen seit zwei Jahrhunderten ihre politisch-soziale Vernichtung verdankten. So wurde Miltons Epos ein unsterbliches Gedicht, während Klopstocks Messiade nach der ersten aufflammenden Begeisterung über das dichterische Talent, das aus ihr sprach und das wohl als schönes Pfand wiederauflebender Bürgerkraft gelten konnte, einer schnellen Vergessenheit anheimfiel. Klopstock hat nach diesem ersten großen Mißgriffe niemals wieder die rechte Fühlung mit seiner Klasse gewonnen. Zwar ist es sehr töricht, wenn Scherer ihn rüffelt; weil er nicht den König Friedrich, sondern Hermann den Cherusker und Heinrich den Vogler als nationale Helden gefeiert habe, denn Friedrich war im günstigsten Falle ein Vertreter der nationalen Zweiheit, während Hermann und Heinrich immerhin Vertreter der nationalen Einheit waren. Aber diese geschichtlichen Gestalten konnten den aufstrebenden bürgerlichen Klassen nicht mehr als blutlose Schemen sein, und aus dem Leben dieser Klassen selbst hat Klopstock nie seine dichterischen Stoffe entnommen. Nur der Greis hat noch einmal in den Oden auf die Französische Revolution ein beredtes Zeugnis für seinen sozialen Ursprung abgelegt.

Wie ganz anders Lessing! Er kam ohne jeden fertigen Lebensplan auf die Universität, und es scheint fast, als ob er wirklich die ersten paar Monate auf einen ehrsamen Theologen losgebüffelt hätte. Aber das großstädtische Treiben weckte sein Klassenbewußtsein, und alles, womit er es nähren konnte, sog er mit klammernden Organen aus dem Leben der Stadt, in der damals das bürgerliche Leben des Reichs die verhältnismäßig höchste Entwicklung erreicht hatte. Kein Zweifel, daß Lessing nach seinen Anlagen weit mehr zum Gelehrten als zum Dichter geschaffen war! Er seihst hat sich in der Hamburgischen Dramaturgie mit bescheiden-stolzen Worten den Namen eines Dichters abgesprochen, und niemand hätte so aberweise sein sollen, dies Bekenntnis anzufechten. Wer mag heute noch die kleine Poesie seiner jungen Jahre lesen, das »anakreontische Gegängel«, worin er mit einem Gleim um die Wette »kinderte«; die Sinngedichte, in denen das meiste und oft auch das Beste fremden Mustern entlehnt ist; die Bruchstücke von Lehrgedichten, die nach Form und Inhalt schwerfällig, aber nicht schwer, seicht, aber nicht klar sind. Es ist wahr: Die Zeit war noch so geistig arm, daß sogar diese dürftigen Versuche ihrem Verfasser den Ruf eines namhaften Dichters eintrugen, aber er selbst hat nicht über seine frühesten Schaffensjahre hinaus seine Kraft an solchem Quarke verdorben.

Vielmehr alles, was ihn auszeichnete, wies ihn auf die gelehrte Laufbahn hin: sein scharfer und tiefer Verstand, die kühne und rasche Beweglichkeit seines Geistes, seine dialektische und kritische Begabung, die nie verhehlte Freude auch an dem Kleinkrame, dem Handwerkszeuge der wissenschaftlichen Forschung, das unverkennbare Behagen an oft noch mehr gewagten als scharfsinnigen Konjekturen. Trotzdem war er ebenso schnell wie über das Pastorieren über das Professorieren hinaus; er hat schon in Leipzig jenen Abscheu gegen die zünftige Gelehrsamkeit eingesogen, der ihm all sein Lebtag treu geblieben ist. Von der Gelehrsamkeit ging er zur Dichtkunst über; von einem Gebiete, auf das ihn alles zu locken, auf ein Gebiet, von dem ihn alles zu schrecken schien. Aber was den Schein einer verhängnisvollen Selbsttäuschung trug, das war tatsächlich ein unbeirrbarer Klasseninstinkt. Die Universität Leipzig bot dem jungen Lessing zwar mehr, als ihm jede andere deutsche Hochschule geboten haben würde, und was er ihren frischeren Kräften, den Philologen Ernesti und Christ, dem Mathematiker Kästner verdankte, ist in seiner späteren Entwicklung wohl erkennbar. Aber es war doch nur wenig im Verhältnis zu dem, was ihm das Leben selbst bot. Auch an dieser Universität herrschte noch eine verstaubte und vertrocknete Gelehrsamkeit vor; das Joch des Luthertums war erschüttert, aber nicht gebrochen; ein widerwärtiges Cliquen- und Nepotenwesen wucherte unter der pedantischen Steifheit der ellenhohen Perücken. Das Katheder war, alles in allem, ebenso eine Vorburg des fürstlichen Despotismus wie die Kanzel. Nicht in Lessing allein dämmerte damals die Erkenntnis auf, daß die von den herrschenden Klassen bevorrechteten Genossenschaften der Gelehrsamkeit niemals die geistigen Führer der unterdrückten Klassen sein können; fast alle, sagt Voltaire, welche die Wissenschaften auf neue Wege gebracht haben, waren Privatgelehrte, die fern von Ehrsucht und Stellen, fern von Akademien, Höfen und der großen Welt auf ihrem Zimmer ihren Gedanken nachhingen. Auf dem Gebiete der Philosophie und Theologie, der Rechts- und Staatswissenschaft lagen die Fußangeln des fürstlichen Despotismus; unter seinem bleiernen Joche war längst alles politische Leben erstickt; die schöne Literatur bot einstweilen den einzigen Kampfplatz, auf dem die bürgerlichen Klassen um ihre soziale Emanzipation ringen konnten.

Auch sie hatte in Leipzig ihren Mittelpunkt; Lessing selbst sagt später einmal, nirgend lerne es sich so leicht wie auf dieser Akademie, ein Schriftsteller zu werden. Ihn selbst aber leitete auf literarischem Gebiete sein Klassenbewußtsein sofort wieder auf den entscheidenden Punkt. Seine lyrischen Sachen blieben beiläufige und schnell vergessene Abfälle; das Theater aber nahm den ganzen Menschen in Beschlag und hat ihn nie wieder losgelassen. Auf den Brettern, die die Welt bedeuten, konnte sich die bürgerliche Welt mit dem Scheine des Lebens entfalten; hier konnte sie vor allem Volke die Fragen erörtern, die ihr Inneres bewegten; die Schaubühne war Kanzel und Katheder zugleich für die bürgerlichen Klassen. Sie wurde beides vor allem für Lessing. Er war an sich dramatischer Dichter so wenig wie Dichter überhaupt. Von seinen zahllosen dramatischen Plänen ist wenig vollendet worden, und dies wenige reifte erst im Laufe von Jahren, ja, wie Emilia Galotti und Nathan, erst im Laufe von Jahrzehnten. Das Studium seiner Entwürfe zeigt, wie wahr er seine dramatische Tätigkeit schildert, wenn er an der schon erwähnten Stelle der Dramaturgie schreibt: »Ich fühle die lebendige Quelle nicht in mir, die durch eigene Kraft sich emporarbeitet, durch eigene Kraft in so reichen, so frischen, so reinen Strahlen emporschießt. Ich muß alles durch Druckwerk und Röhren aus mir herauspressen. Ich würde so arm, so kalt, so kurzsichtig sein, wenn ich nicht einigermaßen gelernt hätte, fremde Schätze bescheiden zu borgen, an fremdem Feuer mich zu wärmen und durch die Gläser der Kunst mein Auge zu stärken. Ich bin daher immer beschämt oder verdrießlich geworden, wenn ich zum Nachteile der Kritik etwas las oder hörte; sie soll das Genie ersticken, und ich schmeichelte mir, etwas von ihr zu erhalten, was dem Genie sehr nahekommt.« Nicht ein poetischer, sondern ein sozialer Instinkt trieb den jungen Lessing auf die Bühne, wie denn der todesmatte Kämpfer, dem jeder andere Kampfplatz verschlossen worden war, zur Bühne als seiner »alten Kanzel« seine letzte Zuflucht nahm.

So lernte Lessing in Leipzig leben. Derweil Klopstock in poetischen Visionen den Himmel geöffnet sah und in einem engen Kreise gleichgesinnter Genossen sich schon einen ersten Anflug hohenpriesterlicher Würde zulegte, verarbeitete Lessing alles, was ihm Leben und Wissenschaft entgegenwarf, zu einer Komödie und tummelte sich munter unter dem leichten Völkchen der Bühne. Auch darin ist er ein richtiger sozialer Rebeller gewesen, daß er mit den Parias der Gesellschaft von damals, Juden, Schauspielern und Soldaten, allemal am liebsten verkehrte. Aber so schwach, wie das Klassenbewußtsein des Bürgertums noch war, so leicht gezimmert, war auch noch das Brettergerüst seiner Szene. Die Bühne der Neuberin, an der Lessing dichten und leben lernte, brach zusammen und begrub den jungen Kämpfer unter ihren Trümmern. Lessing floh vor seinen Gläubigern aus Leipzig, zur selben Zeit, als Klopstocks Messias wie ein heller Morgenstern am geistigen Horizonte der bürgerlichen Klassen aufstieg.


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