Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Kapitel XXX. Die Sühne

Jene beiden in dem offenen Wagen, deren einer Sedgetts Namen ausgerufen hatte, waren Robert und Major Waring gewesen. Als die Droschke vorübergesaust war, sanken sie in ihre Polster zurück und rauchten, denn sie hatten von vorn herein abgemacht, daß bis zum Abend nichts irgend Aufregendes berührt werden solle.

Diesem Vorsatz getreu, bemühte sich Robert krampfhaft, an das bunte, vergnügte Bild zu denken, das sie soeben verlassen hatten. Pferde waren ihm, was Musik dem Dichter ist, und die ruhmreichen Rennen, deren Zeuge er soeben gewesen war, ließen sein Herz noch schneller schlagen und hoben bis zu einem gewissen Grade sein Staunen darüber auf, seinen alten Dorfgegner in Gesellschaft Algernon Blancoves zu sehen.

Es wunderte ihn nicht im geringsten, daß es zwischen ihnen zu einem Streit, ja, zu Schlägen gekommen war, denn er kannte Sedgett gut und kannte die absolute Notwendigkeit, mit ihm zu kämpfen, wenn man irgendwie seine Selbstachtung und eine gerechte Friedens Verteilung aufrecht halten wollte, sobald man einmal so weit mit ihm gekommen war, daß er seine schwarze Seele zu erkennen gab. Aber wie war es denn dazu gekommen? Wie war es möglich, daß sich ein vornehmer Herr dazu herbeilassen konnte, sich öffentlich mit solch einem Kerl zu zeigen? Er kam zu dem Resultat, daß die Sache etwas zu bedeuten habe und zwar irgend etwas Verhängnisvolles – aber was? Wen mochte es betreffen? War Algernon Blancove ein so armseliger Kerl, daß er – weil er sich durch gewisse dunkle Beziehungen zu Sedgett genötigt sah, ihm stille zu halten – dem kläffenden Köter erlaubte, sich an seine Rockschöße zu hängen? Es schien unwahrscheinlich, daß irgendein junger Herr so schwach sein sollte, aber es konnte immerhin der Fall sein; und »verhält es sich wirklich so«, dachte Robert, »und laß ich ihn wissen, daß ich's ihm nicht nachtrage, daß er Sedgett auf mich gehetzt hat, kann ich ihm vielleicht einen Dienst erweisen«.

Er erinnerte sich mit einer Art Schmerzgefühls des Blickes wütender Demütigung, mit dem Algernon aufgeschaut hatte, bevor er sich anschickte, Sedgett in die Droschke zu folgen, und kam zu dem Resultat, daß er freundlich auf ihn zukommen und ihm eine Entschuldigung sagen müsse, als habe er selber sich über nichts zu beklagen, nur, um ihm wieder zum Gleichgewicht zu verhelfen.

Er nahm sich vor, es zu tun, sobald sich ihm die Gelegenheit dazu biete. Inzwischen, – was in aller Welt konnte die beiden zusammengeführt haben?

»Wie weiß die Hecken sind!« sagte er.

»Es ist recht viel Staub da,« antwortete Major Waring.

»Ich hab' gar nicht gewußt, daß Droschken zu den Rennen können.«

»Augenscheinlich tun sie es.«

Robert bemerkte wohl, daß Percy ihn zum Narren zu halten beabsichtige, sobald er den Versuch mache, das Abkommen zu brechen; doch lag ihm so sehr daran, Percys Ansicht über das seltsame Bündnis zwischen Sedgett und Algernon Blancove zu erfahren, daß er unter allen Umständen sagen mußte: »Ich kann der Sache nicht auf den Grund kommen.«

»Der Balgerei da auf der Dorfstraße?« sagte Percy. »Deren werden wir wohl noch zwei oder drei sehen, ehe wir nach Hause kommen.«

»Nein. Aber was hat es zu bedeuten, wenn ein Gentleman und ein Spitzbube gemeinsame Sache machen?« beharrte Robert.

»Wahrscheinlich hat der eine oder der andere etwas entdeckt, was sie miteinander gemein haben,« gab Percy zur Antwort. »Das ist eine seltsame Wahrnehmung, die man auf dem Rückwege von Epsom machen kann: diejenigen, die in den gleichen Teich hineinspringen, haben meistens von vornherein ein und dieselbe Farbe gehabt.«

Robert sprach mit gedämpfter Stimme.

»Meinst du, daß es irgend etwas mit dem armen Mädchen zu tun hat?«

»Ich habe dir gesagt, daß ich es ablehne, irgend etwas zu meinen, bis wir wieder zu Hause sind. Donnerwetter, Mensch, hast du denn gar keine Idee davon, was 'n Feiertag ist?«

Robert stieß seinen Zigarrenrauch von sich.

»Dann laß uns von Mrs. Lovell sprechen,« sagte er.

»Das ist auch kein Feiertag für mich,« murmelte Percy, aber Roberts Seele war zu stark mit seinen eigenen Angelegenheiten beschäftigt, um auf den Ton zu achten; so fragte er:

»Kann man darauf bauen, daß sie diesmal gewissenhaft Wort halten wird?«

»Komm,« sagte Percy, »wir haben heute noch gar nicht gewettet. Ich will gegen dich darauf wetten, daß sie, es tun wird, wenn du magst. Wettest du dagegen?«

»Denk' nicht daran. Ich kann nicht an allem herumnippen. Wetten ist wie trinken.«

»Aber du kannst doch ein Glas Wein trinken. Diese Art Wette kommt dem etwa gleich. Aber, tu's lieber nicht. Du würdest verlieren.«

»Sieh mal her,« sagte Robert. »Ich hab' wohl gehört, daß man auf die Frauen schilt, weil sie unbeständig und wetterwendisch und ich weiß nicht, was sonst noch seien. Sie ist eine Dame, bei der ich nie recht verstehen konnte, daß man ihr wirklich böse zu sein vermöchte, und der Grund dafür ist der, – es besteht kein Grund dafür – sie bezaubert mich einfach. Ich sage dir glatt heraus, ich vergesse Rhoda, ich vergesse das Mädchen ganz und gar, sobald ich Mrs. Lovell nur von weitem sehe. Wie kommt das? Ich bin kein Hansnarr, der sich Raupen in den Kopf setzt. Ich weiß, was es bedeutet, ein Weib zu lieben, und ein Mann in meiner Stellung könnte Esel genug sein, um – na, um alles mögliche zu tun. Aber das ist es nicht; es ist wie ein Zauber. Ich bin bange vor ihr. Wenn sie mit mir spricht, dann ist es mir geradeso, als wenn ich 'ne Flasche Wein heruntergegossen hätte. Vor einigen Weibern hat man Respekt, einige möchte man lieben, einige verachtet man, – ihr gegenüber da hab' ich immer so ein Gefühl, als wär' ich berauscht.«

Major Waring heftete seinen Blick fest auf ihn. Er sagte: »Ich will dir das Rätsel, wenn ich es vermag, so lösen, daß es dir selbst verständlich wird. Sie bewundert dich um dessentwillen, was du wirklich bist, und sie zeigt dir das, ja, ich glaube sogar, es ist ihr erwünscht, daß du es siehst. Sie betet jede Art von Mut an, das ist bei ihr eine tödliche Leidenschaft.«

In Roberts Antlitz stieg ein Rot der Bescheidenheit auf, was ihn gut kleidete. »Warum aber, wenn sie mir denn die Ehre erweist, irgend etwas von mir zu denken, wendet sie sich gegen mich?«

»Ja, nun gehst du tiefer. Sie bietet dir die Art Hilfe, die in ihrer Macht liegt; für jetzt genüge dir dies: sei dankbar, wenn du mit ihrem einstweiligen Tun zufrieden sein kannst. Vielleicht kann ich dir mit der Zeit die andere Frage beantworten. Jetzt sind wir wieder in London und unser Tag ist vorüber. Wie gefiel er dir?«

Vor Roberts Phantasie erstand aufs neue der Rennplatz.

»Das Rennen war großartig. Ich wollte, wir könnten in dem Tempo durchs Leben jagen, dann wäre mir die Aussicht auf einen Sieg gewiß. Wie entsetzlich öde die Straßen aussehen, und die Leute kriechen geradezu dahin, – sie kriechen und scheinen das auch noch zu mögen. Auf dem Rücken eines Pferdes bin ich in meinem Element!«

Sie fuhren nach Roberts Wohnung, wo er seit dem Winter einfach und sorgenfrei gelebt hatte, durch sein eigenes Zartgefühl aus seiner, doppelten Heimat, Warbeach und Wrexby, verbannt und Dahlia in ganz London suchend, – von der Güte seines Freundes lebend, und darin hatte für einen Mann seiner Gemütsart das bedrückende Elend seiner zeitweiligen Existenz gelegen. Oftmals hatte er wieder daran gedacht, militärische Dienste zu nehmen und sich nach irgendeiner überseeischen Garnison detachieren zu lassen. Nichts anderes, als das Bewußtsein, von fremdem Gelde zu leben, hätte ihn von seinem alten Laster zurückzuhalten vermocht. Wie die Sachen lagen, lebte er während der Monate zwischen Winter und Frühling wie einer, der sich an einem Faden durch die qualvoll langen Gänge einer Höhle hindurchwindet, ohne jemals ans Tageslicht zu kommen, aber durch sein stetes Bemühen, dasselbe zu erreichen, in die wunderlichsten Kalamitäten geratend. Seine Abenteuer in London hatten etwas von denen in Warbeach an sich, abgesehen von dem Opfer, an dessen Stelle zwei oder drei Herren auf den öffentlichen Hauptverkehrsstraßen getreten waren. Doch dieser Vergehen angesichts der bürgerlichen Gesellschaft erwähnte Robert in seinen Briefen an Percy nicht.

Aber jetzt war ein Lichtstrahl dort, obschon zunächst nur ein schwach glimmender, in Gestalt eines farbigen Billetts einer Dame, das auf dem Wohnstubentisch lag. Robert öffnete es hastig und las es, er griff Dahlias Adresse mit glühendem Kopf und sagte:

»Es ist ›Margaret Lovell‹ unterzeichnet, und diesmal redet sie mich ›Sehr geehrter Herr‹ an.«

»Weniger konnte sie nicht gut tun,« bemerkte Percy.

»Ich weiß wohl, aber immerhin ist es etwas Neues an ihr. In ihrem Schreiben liegt so etwas Sommerliches. Sie hat Wort gehalten, Percy. Sie ist wirklich die reizendste Dame auf der Welt. Ich frage gar nichts mehr danach, warum sie mir nicht früher geholfen hat.«

»Du erkennst also die Diplomatie milder Maßregeln an?« sagte Major Waring.

»Sie ist die reizendste Dame auf der Welt,« wiederholte Robert. Dann zügelte er seinen Enthusiasmus. »Gott im Himmel, was wird das für ein Abend werden!«

Der Gedanke an die bevorstehende Zusammenkunft mit Dahlia ließ ihn verstummen.

Als sie sich auf der Straße trennten, sagte Major Waring: »Ich will um zwölf Uhr hier sein. Laß mich dir dies sagen, Robert: sie ist drauf und dran, sich zu verheiraten, sage nichts, um sie davon abzubringen, es ist das beste, was sie tun kann, betrachte die Sache von dem Standpunkte eines Mannes. Lebewohl.«

Diese Anweisung berührte Robert nur wenig. Seine Gedanken beschäftigten sich mit Dahlia, wie er sie zuerst gesehen hatte in der Blüte ihrer Jugend, die Schwester seines Lieblings, und jetzt elend, ein zu Boden geworfenes Geschöpf. Bei ihm verlor sich das Mitleid mit einem unglücklichen Opfer sehr bald in der Wut auf den Urheber des Unrechts, und während er seines Weges dahinging, dachte er verächtlich seiner armseligen Versuche in Warbeach, sie zu rächen. Sie lebte zwischen einer Reihe ärmlicher Hütten, die von einer der Hauptstraßen der südwestlichen Vorstadt abzweigt, nicht sehr weit von seiner eigenen Wohnung entfernt, was ihm seltsam und gleichsam wie eine grausame Ironie des Schicksals erschien. Er vermochte die Nummern nicht zu erkennen und mußte mehrere der kleinen Gartenstreifen hinaufgehen, um die Hausnummern an den Türen zu lesen. Ein schwacher Fliederduft ließ die alten Tage und das Landleben wieder in ihm erstehen und ein paar Kirchenglocken hüben an zu läuten. Die Hausnummer, wo er Dahlia finden sollte, war sieben. Er war an der Tür des nächstgelegenen Hauses, als er in dem Garten nebenan Stimmen hörte.

Ein Mann sagte: »Also habe ich deine Antwort?«

Eine Frau erwiderte: »Ja, ja.«

»Du willst meiner dir verpfändeten Ehre keinen Glauben schenken?«

»Verzeihung. Das ist es nicht. Ich will kein Leben in der Schande.«

»Wenn ich dir bei meiner Seele verspreche, daß ich dich in demselben Augenblick, wo ich frei bin, vor der Welt rehabilitieren will?«

»O, Verzeihung!«

»Also du willst?«

»Nein, nein! Ich kann nicht!«

»Du willst dich an irgendeinen unbekannten Schafskopf wegwerfen, der dich mißhandeln wird, und aus dem du dir auch nicht das geringste machst? Und warum? Nur, damit du hinter einem Wall sitzt, über den der Klatsch nicht hinüber kann, aus keinem Grunde sonst. Ich habe dich für ein Weib gehalten, was über dergleichen stände. Und dies ist ein simpler Bauer. Wie willst du die Art Leben aushalten? Du, die für Eleganz und Glück geschaffen ist! Ich biete dir solches. Ich habe dich vor deiner Krankheit gesehen, als du mich nicht anhören wolltest, ich bin dir nachher wieder begegnet. Ich habe dich sofort wiedererkannt. Bin ich denn anders? Ich schwöre dir: nur von dir habe ich all die Zeit geträumt, und ich liebe dich. Sei meinetwegen so verblüht, wie du willst, sei abschreckend, wenn du Lust hast, – nur komm mit mir! Du kennst meinen Namen und weißt, was ich bin. Zweimal bin ich dir nachgegangen, habe deinen Namen und deine Adresse ausfindig gemacht; zweimal habe ich dir geschrieben und dir den gleichen Vorschlag gemacht. Warum traust du meiner Ehrenhaftigkeit nicht? Wenn ich dir doch sage, wie zärtlich ich dich liebe? Wenn ich dir doch die heilige Versicherung gebe, daß du es niemals bereuen sollst? Ein Mann hat dich betrogen; warum willst du mich das büßen lassen? Ich weiß – ich fühle es, daß du unschuldig und gut bist. Dies ist das dritte Mal, das du mir erlaubt hast, zu dir zu sprechen: laß es das endgültige sein! Sag', daß du dich mir anvertrauen willst, glaube an meine Ehrenhaftigkeit! Sag', daß es morgen sein soll. Ja, sag' es! Nur das eine Wort! Morgen! Bitte, mein süßes Geschöpf, bitte!«

Der Mann sprach eindringlich, aber ein Dritter und Unbeteiligter konnte schwerlich umhin, durch den pathetischen Schluß frappiert zu werden. Im Tone wenigstens war er hart an der Grenze einer schimpflichen Überredung, aber das Weib empfand dies augenscheinlich nicht.

Sie erwiderte: »Sie meinen es gut, Herr. Ich danke Ihnen aufrichtig, denn ich bin sehr arm an Freunden. O, verzeihen Sie mir, ich bin ganz, ganz fest entschlossen. Gehen Sie fort, bitte, und vergessen Sie mich.«

Dies war Dahlias Stimme.

Robert war sich dessen nicht bewußt geworden, daß er dies vorher vermutet habe. Tief beschämt darüber, daß er geheimer Unterredung gegenüber den Lauscher gemacht, ging er aus dem Garten hinaus und überschritt die Straße.

Er wußte, hier hatte er eine der Versuchungen vor Augen gehabt, denen junge Frauenzimmer in London ausgesetzt sind.

Kurze Zeit danach kam der Mann durch das eiserne Gittertor des Gartens. Er ging unter dem Licht der Laterne dahin, und Robert bemerkte, daß es ein Herr in Dinertoilette war.

In dem Fenster des Hauses flammte ein Licht auf. Nun er ihre Stimme gehört hatte, waren seine Schrecken vor dieser Zusammenkunft verflogen, und was ihn bewegte, war nur noch eine tiefe Niedergeschlagenheit. Ruhig klopfte er an die Tür. Eine geraume Zeit verstrich, nachdem er das Mädchen mit seiner Meldung hineingeschickt hatte, aber schließlich wurde er vorgelassen.

»Wenn ich sie geliebt hätte!« stöhnte Robert, ehe er sie ansah, aber als er es tat, spülte ein zärtliches Mitgefühl alles selbstische Empfinden aus ihm heraus. Alle jene falschen Gefühlsregungen, die den Männern der in den Schmutz gezogenen Reinheit, dem Brandmal der Schande, der verlorenen Unschuld eines Weibes gegenüber eigentümlich sind, und die doch nichts anderes sind, als faule Sentimentalitäten solcher, die sich selbst nur allzu eifrig an der Jagd, Verderben zu bringen, beteiligen, wenn es die Gelegenheit mit sich bringt, nichts anderes, als eine besondere Art von Sinnenkitzel, wie er auch den besten unserer jungen Leute nicht fremd ist, – sie alle fielen in Dahlias Gegenwart von ihm ab.

Ein junger Mann, welcher auf diejenigen, die wir als gefallene Frauen zu bezeichnen pflegen, mit einem edlen Blick zu sehen vermag, ist nach meinem Dafürhalten der wahrste Edelmann und hat alle Aussichten, der Ahnherr eines adligen Geschlechtes zu werden. Robert war kein solcher. Aber Dahlias Anblick verhalf ihm zu seiner rechten Männlichkeit. Er sah, daß ihre Würde ihren Fall überlebt hatte.

Die Seele dieses Geschöpfes hatte ihre Sünde nicht mit irgendwelchem Mäntelchen umhängt; sie hatte gesündigt und ihr Leiden war offenbar.

Sie hatte sich entschlossen aufzustehen und die Geißel Gottes auf sich niedersausen zu lassen, – danach haben die Steine, von Menschenhand geworfen, nicht mehr die Macht, wehe zu tun.

Damit will ich sagen, daß sie freiwillig ihrem Geiste jedes Entschlüpfen unterbunden hatte: sie hatte sich selbst gesehen, wie sie war, ohne auf eine Entschuldigung Anspruch zu erheben. Seine Geißel ist die Wahrheit, und sie hatte sich derselben gebeugt.

Unzählige Ideen, deren wenige ganz feste Form gewinnen, bemächtigen sich während einer Unterredung, wie dieser, einer Seele, aber Robert verspürte deutlich den starken Eindruck, den ihr Blick ihm machte. Er war wie der Blick eines Menschen von einem jenseitigen Ufer herüber. Obschon sie nahe beieinander standen, hatte er ein Gefühl, als wären sie weit voneinander getrennt, als läge ein Abgrund zwischen ihr und ihm.

Die Farblosigkeit ihrer Gesichtszüge trug hierzu bei, und die kleine altmodische, enganschließende weiße Leinenkappe, welche sie trug, um die eben wiederwachsenden, völlig gestutzten Locken ihres geschorenen Kopfes zu verbergen, ließ sie ungleich den Frauen unserer Welt erscheinen. Sie war ganz in Schwarz gekleidet, das ihre Gestalt bis zum Hals hinauf eng umschloß. Ihre Augen hatten noch das leuchtende Blau, und sie ließ dieselben einen Augenblick mit weichem Ausdruck auf Robert ruhen, während sie ihm schüchtern die Hand reichte.

»Dahlia! meine liebe Schwester, wollte ich, dürfte ich sagen, aber das Glück ist mir versagt,« begann Robert.

Sie saß da, die Hände im Schoß gefaltet und starrte auf den Boden zu ihren Füßen, wobei sie den Kopf ein wenig auf die Seite neigte.

»Ich glaube,« fuhr er fort, »ich habe es nicht gerade gehört, – aber ich glaube. Rhoda geht es gut.«

»Sie und Vater sind gesund,« sagte Dahlia, »ich weiß es.«

Robert fuhr zusammen. »Stehen Sie mit ihnen in Verbindung?«

Sie schüttelte den Kopf. »Nach Ablauf einiger Tage werde ich sie sehen.«

»Vielleicht legen Sie dann ein gutes Wort für mich ein und machen mich für mein ganzes Leben Ihnen verpflichtet, Dahlia?«

»Rhoda liebt Sie nicht.«

»Das ist wohl wahr, wenn man sich darauf verlassen kann, daß ein junges Frauenzimmer erstlich über diesen Punkt selbst Bescheid weiß und zweitens sich ehrlich darüber ausspricht.«

Dahlia schloß die Lippen. Ihre lange und schmale Unterlippe war nicht mehr von einem intensiven Rot. Ihr Herz wußte, daß er nicht zu ihr gekommen war, um von sich selbst zu reden; aber ihr Denkvermögen war durch die physische Entkräftung geschwächt und funktionierte weder in die Weite, noch in die Tiefe über das augenblicklich angeregte Thema hinaus. Er unterhielt sie mit allerhand Ideen, die ihm hinsichtlich Rhodas aufstiegen, bis er schließlich sagte:

»Aber im Laufe einer Woche werden Sie sie sehen, und ich denke, dann wird sie Ihnen vielleicht sagen, was sie über mich denkt. Dahlia, wie werden Sie hierüber glücklich sein. Wahrhaftig, vom Grund meiner Seele sage ich hierzu: ›Gott sei Dank!‹«

Sie preßte zitternd die Hände in ihrem Schoß fester zusammen. »Bitte, Herr Robert, wenn Sie davon vielleicht lieber nicht sprechen möchten!«

»Sagen Sie mir nur, daß Sie wirklich die Absicht haben, Dahlia. Sie haben wirklich die Absicht, zu ihnen hinzureisen?«

Ein bebendes »Ja« war ihre Antwort.

»Das ist recht. Denn ein Vater und eine Schwester, – nicht wahr? die haben doch Ansprüche an jemand? Denken Sie nur mal einen Augenblick nach. Sie haben eine furchtbare Zeit durchgemacht. Und ist es wahr, Dahlia, daß Sie darauf eingegangen sind, einen Mann zu nehmen? Ich freue mich, wenn es so ist, und wenn er ein guter, freundlicher Mensch ist. Ich bin so recht von Herzen froh darüber.«

Während er sprach, hoben sich ihre Lider, und ihre Augen hefteten sich in einem gleichsam versteinerten Schreckensglanz auf ihn wie ein Geschöpf, das in Todesangst vor seinem Henker bebt. Dann senkten sich ihre Lider wiederum. Sie hatte ihre zusammengekauerte Haltung nicht aufgegeben.

»Sie lieben ihn?« fragte er etwas verwundert.

Sie gab keine Antwort.

»Machen Sie sich nichts aus ihm?«

Keine Erwiderung.

»Weil, Dahlia, wenn Sie ihn nicht gern haben – Ich weiß, ich habe keinerlei Recht, das zu denken. Wie ist es damit? Sagen Sie es mir. Eine Ehe ist etwas Schreckliches, wenn es an der Liebe fehlt. Und ist dieser Mann, wer es denn ist, – lebt er in guten Verhältnissen? Ich würde ja nicht von ihm sprechen, aber Sie sehen, ich muß es doch als Ihr Freund – und ich bin wirklich Ihr Freund. Sagen Sie es mir! Liebt er Sie? Natürlich tut er das. Das hat er Ihnen ja gesagt. Das glaube ich auch. Und er ist ein Mann, den Sie achten und ehren können? Ohne das würden Sie ja nicht Ihre Zustimmung gegeben haben, davon bin ich ganz überzeugt. Was mir Sorge macht – sehen Sie, ich betrachte Sie als meine Schwester, einerlei, ob Rhoda es haben will oder nicht, ich bin besorgt, sehen Sie – ich wollte nur, es wäre erst überstanden, denn dann wird Rhoda stolz darauf sein, daß sie immer an ihrem Glauben an Sie festgehalten hat, und des alten Mannes Herz wird leichter werden.«

Der unerklärliche, gleichsam erfrorene Blick aus ihren weitgeöffneten Augen heftete sich zum zweitenmal auf ihn, als hätte eine der Minuten der Zeit vor ihm ihre gähnende Tiefe erschlossen, hätte ihn in ihren traurigen, totenstillen Abgrund hineinblicken lassen, um sich dann wiederum zu verschließen.

»Wann soll es sein, Dahlia?«

Ihre lange Unterlippe, die fast ebenso weiß war wie die Zahnreihe, die sie bloßlegte, hing lose herab.

»Wann ist es?« fragte er, indem er sich vorwärts neigte, um ihre Antwort zu hören, und er vernahm das Wort »Sonnabend«, das mit tonloser Schärfe herausgestoßen wurde, die nichts mit Dahlias sanfter Stimme gemein hatte.

»Diesen nächsten Sonnabend?«

»Nein.«

»Sonnabend über acht Tage?«

Ein sichtliches Zittern befiel sie.

»Sie haben mir den Tag genannt?«

Er drang in sie, um irgendeine Andeutung freudiger Zustimmung zu dem Schritt, den sie zu tun willens war, oder eines Zurückschreckens vor demselben zu hören.

Vielleicht gewahrte sie das, denn jetzt antwortete sie:. »Ja!« Tief aus der Kehle heraus klang der Ton.

»Sonnabend in acht Tagen,« sagte Robert. »Ich habe dem Manne gegenüber ein Gefühl wie 'n Bruder, – jetzt schon. Werden Sie – werden Sie auf dem Lande leben?«

»Im Auslande.«

»Nicht im lieben alten England? Das tut mir leid. Aber, – na, die Dinge müssen eben so gehen, wie es bestimmt ist. Ja, ja! Das hab' ich auch zu lernen!«

Dahlia lächelte ihm freundlich zu.

»Rhoda wird Sie noch lieben. Und wenn sie einmal liebt, ist sie felsenfest darin.«

» Wenn sie liebt. Inwiefern kann mich das trösten?«

»Glauben Sie, daß sie mich ebenso liebt wie, – ebenso, wie –«

»Wie früher? Sie liebt ihre Schwester von ganzem Herzen – ihr ganzes Herz gehört ihr, denn ich hab' auch nicht den kleinsten Teil davon gekriegt.«

»Ich meine nur, weil –« sagte Dahlia leise, »nur, weil sie doch denkt, ich sei eine –«

Hier hob sich die Brust des armen Geschöpfes in einem qualvollen Stöhnen.

»Was hat sie von mir gesagt? Ich wollte, sie hätte mich verurteilt – es würde weniger weh tun.«

»Hören Sie,« sagte Robert. »Sie hat Sie nicht verurteilt, und sie vermöchte es auch gar nicht, denn es ist ihr gleichsam eine Art Religion, daß sie nichts Böses von Ihnen denken kann. Und der Grund, weshalb sie mich haßt, ist der, daß mir – weil ich die Welt etwas besser kenne, der Verdacht aufstieg, und daß ich sie das wissen ließ, ich sagte nämlich, – wahrscheinlich wären Sie betrogen von einem –. Na, es ist jetzt ja nicht der Augenblick, um andere anzuklagen. Sie hätte mich genommen, wenn ich es für angebracht gehalten hätte, zu denken, wie sie dachte, oder mich zu verstellen und zu tun, als wenn ich so dächte. Ich will Ihnen offen sagen, Dahlia, Ihr Vater glaubt das Schlimmste. O, nun sehen Sie wieder so geisterhaft aus. Es ist bitter für Sie, das zu hören, aber Sie geben mir die Überzeugung, daß Sie Kraft genug haben, es zu hören. Es ist einmal Ihres Vaters Art, das Schlimmste zu glauben. Wenn Sie ihm nun aber Ihren Mann zuführen werden, liebe Dahlia, dann wird er sich wieder aufrichten. Er ist ein alter Brite. Es wird ihm nicht im Traume einfallen, Sie mit Fragen zu quälen. Er wird einen braven, ehrlichen, jungen Mann sehen, der Sie sicherlich liebt – oder – nein, sicher liebt er Sie, das steht fest. Ihr Vater wird ihm die Hand schütteln, und was Rhoda anbetrifft, die wird triumphieren. Der einzige Mensch, mit dem es eine offene Aussprache gilt, ist der Mann, der Sie heiratet, und das ist ja geschehen.«

Roberts Augen drückten die Frage aus, die sein Mund nicht sprach.

»Das ist geschehen,« sagte Dahlia.

»Gut: wenn ich ihn eines Tages Bruder nennen darf, um so besser für mich! Noch eins, – Sie werden England nicht bereits an dem Tage verlassen, an dem Sie heiraten werden?«

»Sehr bald nachher. Es ist mein Gebet, daß es sehr bald sein möge.«

»Ja; gut! An dem Morgen will ich dafür sorgen, daß Vater und Rhoda in meiner Wohnung sind, die nicht weit von hier ist. Wenn ich es nur früher gewußt hätte! Und dann sollen Sie und Ihr Mann auch dahinkommen und dort mit uns zusammen sein. Das wird denn zu guter Letzt ein glückliches Zusammensein!«

Dahlias Atem stockte plötzlich:

»Wollen Sie morgen zu Rhoda fahren?«

»Ich werde morgen zu ihr fahren, wenn Sie wollen.«

»Wenn ich sie sehen könnte, gerade ehe ich von England abfahre, nicht früher.«

»Das ist nicht großmütig,« sagte Robert.

»Ist es nicht?« fragte sie wie ein Kind.

»Stellen Sie sich doch nur vor, sie hat sich nun so lange danach gesehnt, Sie wiederzusehen, und soll sie nur zugleich mit dem Schiff sehen, das Sie – vielleicht für immer – soweit es sich um diese Welt handelt – von ihr fortführt?«

»Mr. Robert, ich möchte meine Schwester nicht täuschen. Vater kann der Kummer erspart bleiben. Rhoda soll alles wissen. Ich will mich nicht noch einmal einer Lüge schuldig machen, nie wieder! Wollen Sie zu ihr gehen? Sagen Sie ihr – sagen Sie Rhoda, was ich bin. Sagen Sie ihr, daß ich krank gewesen bin. Es wird ihr einen großen Schrecken ersparen.«

Sie bedeckte ihre Augen mit der Hand.

»Ich habe in all meinen Briefen gesagt, daß mein Mann ein vornehmer Herr sei.«

Es war ihr erstes offenes Bekenntnis ihrer Schmach ihm gegenüber, und ein schwaches Rot stieg in ihre Wangen. Vielleicht war es diese Regung ihres Blutes, welche das unterdrückte menschliche Empfinden in ihr wieder zum Leben erweckte, ihr Herz klopfte stärker, und sie rief aus:

»Ich kann sie sehen, wie ich bin. Ich glaubte, es sei unmöglich. Aber ich kann es. Ob sie zu mir kommen wird? Meine Schwester ist eine Christin und kann vergeben. O, wenn ich sie sehen könnte! Gehen Sie zu ihr, lieber Herr Robert, und bitten Sie sie – sagen Sie ihr alles, und fragen Sie sie, ob es mir erspart bleiben könnte, ob ich mich vielleicht an irgendeiner Arbeit beteiligen könnte, – ganz einerlei, an was für einer, damit ich in der Nähe meiner Schwester mein Brot verdienen könnte. Es ist schwer für Frauen, Geld zu verdienen, aber ich glaube, ich würde es können. Ich habe es seit meiner Krankheit getan. Ich habe mit Nervenfieber im Krankenhause gelegen. Als ich herauskam, ging er mit mir, um mich zu stützen, denn ich war sehr schwach. Er las mir vor und dann fragte er mich, ob ich ihn heiraten wolle. Er fragte mich ein zweites Mal. Eines Nachts lag ich, im Bett, und sah mit weitgeöffneten Augen die Gefahren, denen Frauen ausgesetzt sind, und sah den Kummer, den ich meinem Vater und meiner Schwester gemacht, und erkannte die Fallen der Bosheit. Ich gewahrte Orte, in denen es gleichsam von Schlangen wimmelte. Ich hatte solch eine verzehrende Sehnsucht nach Schutz. Da gab ich ihm mein Wort, daß ich seine Frau werden wollte, wenn er sich eines Weibes, wie ich, nicht schämte. Es verlangte mich danach, noch einmal meines Vaters Gesicht zu sehen. Mir schien, Rhoda müsse mich von sich stoßen, wenn sie meine Lüge entdecken würde. Das süße Geschöpf! Als ob sie das könnte? Ja, gehen Sie zu ihr. Sagen Sie ihr, daß ich keinen Mann liebe. Mein Herz ist tot. Ich habe gar kein Herz mehr, – nur für sie habe ich es noch. Es ist mir unmöglich, einen Mann zu lieben. Er ist gut, er ist freundlich, – aber, o, wenn es mir erspart bleiben könnte! Sein Gesicht –«

Sie preßte die Hände fest in ihre Augenhöhlen.

»Nein, es kann nicht von mir verlangt werden, Ich bin sehr undankbar! Es kommt mir unmöglich vor, daß dies Gottes Wille sein sollte. Nur, wenn es sein muß; nur, wenn es sein muß! Wenn es meiner Schwester ohne das unmöglich ist, mich anzusehen! Er ist gut, und es ist selbstlos, ein entehrtes Geschöpf, ohne einen Pfennig Geld, zu nehmen, – aber ich bin so elend! Wenn meine Schwester mich nur sehen wollte, ohne daß ich es tue! – Gehen Sie hin zu ihr, Herr Robert. Sagen Sie, Dahlia hat euch betrogen, und nun bereut sie es, sie hat mit ihrer Nadel gearbeitet, um ihr Leben zu bestreiten, und sie kann und will es, denn ihre Seele ringt danach, rein zu werden. Versuchen Sie es, ihr zu erklären. Wenn Rhoda Sie lieben könnte, dann würde sie alles verstehen. Sie ist in sich verschlossen – sie lebt in einer bloßen Gedankenwelt. Mein süßer Liebling ist so stolz. Ich liebe sie um ihres Stolzes willen, wenn sie mich nur zu ihren Füßen wollte hinkriechen lassen, daß ich ihre Füße küssen dürfte. Lieber Mr. Robert, ach, helfen Sie mir, helfen Sie mir! Ich will alles tun, was sie sagt. Wenn sie sagt, ich soll ihn heiraten, will ich es tun. Kehren Sie sich nicht an meine Tränen, – die haben jetzt nichts zu bedeuten. Sagen Sie meinem Liebling, ich wolle in allem gehorchen, was sie mir sagt. Ich werde sie nie mehr hintergehen. Ich möchte mich ihr ohne jede Beschönigung zeigen. Rhoda soll mich kennen, und wenn sie es vermag, soll sie mir vergeben. Und – O, wenn sie meint, Vaters wegen müßte ich es tun, dann will ich mich fügen und will das Wort sprechen: ›Ich will es, ich bin bereit! Ich flehe um Gnade.‹«

Robert saß da, die Fäuste an die Schläfen gepreßt, in tiefem Nachdenken.

Hätte sie gleich im ersten Augenblick ihrer Unterredung ihre Abneigung gegen den zu unternehmenden Schritt erklärt, so wäre er vielleicht bereit gewesen, sie zu unterstützen; ist aber ein Plan erstmal richtig vom Stapel gelassen, so wird er im Gehirn zu einer Tatsache; – ein Ding, über das man einmal gesprochen hat, wird gleichsam zu einem lebenden Wesen, das sich einem freiwilligen Tode widersetzt. Robert sah jetzt alles, was zugunsten der Angelegenheit sprach, und die Gründe, welche dagegen sprachen, schienen ihm leichter, oberflächlicher Art. Ihr unerwarteter Ausbruch erregte ihn kaum.

Zudem kam bei der Sache sein eigenes Interesse in Betracht. Rhoda würde ihm freundlich zulächeln, wenn er ihr Dahlia wieder zuführte, und so zuführte, daß sie in den Augen der Welt für glücklich galt. Das scheint gewissermaßen eine Art Signal für das allgemeine Glück. Aber wenn er zu ihr hingehen und ihr Sachen auseinandersetzen müßte, die jämmerlich und traurig waren, würde kein Lächeln über ihre Züge gleiten, und ihre Brust würde wenig Dankbarkeit empfinden. Eine Zeitlang wahrscheinlich gar keine. Die Nähe ihrer verblühten Schwester ließ sie ihm plötzlich wieder erreichbar und durch den Gegensatz dreifach begehrenswert erscheinen.

Er heftete seinen Blick auf Dahlia, und die Vornehmheit ihres einfachen Wesens gab ihm plötzlich den Gedanken ein, vielleicht empfinde sie die ins Auge gefaßte Verbindung als unangemessen.

»Ist er ein klotziger Patron? Ich meine, sind Sie davon durchdrungen, daß er nichts von den Manieren eines feinen Herrn an sich hat, – vielleicht das Gegenteil davon?«

Auf diese Frage, die mit einigem Zögern über Roberts Lippen kam, antwortete Dahlia: »Ich achte ihn.«

Sie wollte ihrer flehentlichen Bitte nicht dadurch einen besonderen Nachdruck verleihen, daß sie ein Bild des Mannes entwarf. Sie vergaß im Augenblick, inwiefern solches Tun ihre Bitte irgendwie hätte verstärken können. Die Erregung wich einer doppelten Stumpfheit ihres Denkvermögens. Sie tat kaum noch etwas anderes, als daß sie mit einem milden Ausdruck vor sich hinstarrte und wie geistesabwesend ihren Kopf neigte, während Robert sagte, daß er am folgenden Tage zu Rhoda fahren und ernstlich mit ihr reden wolle.

»Aber ich glaube, ich kann darauf bauen, daß ihre und meine Gedanken über diese Angelegenheit die gleichen sein werden, daß es zu Ihrem Besten ist, Liebe, nach Möglichkeit zu versuchen, warm für einen Mann zu empfinden, den Sie achten können, und der Ihnen einen klaren Lebenspfad eröffnet,« sagte er.

Bei diesen Worten zitterten Dahlias Augenlider leicht.

Als er aufstand, erhob sie sich gleichfalls.

»Soll ich Rhoda einen Kuß mitnehmen?« sagte er, neigte sich, als er die Antwort in ihren Augen las, zu ihr herab und senkte die Stirn, auf welche sie ihre Lippen drückte.

»Und nun muß ich die ganze Nacht über die beste Art und Weise nachdenken, ihr alles zu sagen. Leben Sie wohl, Dahlia. Übermorgen früh sollen Sie Nachricht von Ihrer Schwester haben. Leben Sie wohl!«

Er drückte ihr die Hand und ging zur Tür.

»Kann ich nichts weiter für Sie tun, Dahlia?«

»Gar nichts.«

»Gott behüte Sie, liebe Dahlia.«

Robert atmete in einem einfach animalischen Wohlgefühl, als er wieder auf der Straße war. Staunen darüber, daß das, was ihm so sehr bevorgestanden hatte, so leicht überstanden sei, ließ ihn nach seiner Weise über die Seltsamkeiten des Lebens und die Natürlichkeit, mit der sich alles darstelle, wenn man ihm nur gerade ins Auge schaue, nachsinnen.

Aber im tiefsten Grunde seines Herzens lag doch eine Art Unruhe. »Es ist das beste, was sie tun kann,« sagte er, »etwas Besseres kann sie überhaupt nicht tun,« und er sagte es häufiger, als ein von dieser Überzeugung durchdrungenes Gemüt es hätte zu sagen brauchen. Allmählich ging ihm ein Empfinden dafür auf, daß gewisse Dinge, die man mit den eigenen Augen wahrnimmt, so natürlich und so wenig schreckenerregend sie uns im Augenblick erscheinen mögen, deutliche, greifbare und tiefernste Eindrücke hinterlassen. Es beschlich ihn ein Gefühl davon, was unsere menschliche Tragödie angesichts des hohen Himmels zu bedeuten haben mag. Er sah es abseits von jeder Art von Sentimentalität in der Person Dahlias verkörpert. Er vermochte weder einen phantastischen Heiligenschein um sie zu flechten, noch konnte er einen einzigen Gedanken in sich wahrnehmen, der das arme Geschöpf herabgesetzt hätte. Wie das nackte Elend stand sie da und spukte ihm im Kopf herum.

Und noch immer blieb er dabei zu sagen: »Es ist das beste, was sie tun kann. Es ist für alle Teile das beste. Etwas Besseres kann sie nicht tun.«

Das bleiche, nonnenartige, geisterhafte Antlitz stand immer vor ihm, und seine Konturen wurden nur um so deutlicher, je mehr der zeitliche Zwischenraum zwischen ihm und jenem Stück Menschenelend anwuchs.


 << zurück weiter >>