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Kapitel XLII. Antons Zusammenbrechen

Die nächsten Tage auf dem Hofe vergingen ruhig. Dahlia kam jeden Morgen zum Frühstück herunter und saß bei den Mahlzeiten mit den Ihren zusammen, bleich, mit traurigen, tiefliegenden Augen, aber eine geduldige Erscheinung. Niemand tat eine Frage. Besucher hielt man dem Hause fern, und – oberflächlich gesehen – machte das Haus einen friedlichen Eindruck. Am Mittwoch wurde Squire Blancove begraben. Master Gammon, der nur selten um einen freien Tag bat oder irgendein Vergnügen erwähnte, daran er Lust hätte teilzunehmen, bat um die Erlaubnis, einige Stunden fortzugehen, um der feierlichen Bestattung eines Mannes beizuwohnen, zu dem er in einer Art vaguen Gefolgschafts-Gefühls, als zu dem vornehmsten Manne der Gegend, aufgesehen hatte, und der ihm insofern einen Anspruch auf die Bezeigung seiner Hochachtung zu haben schien. Ein Begräbnis war für den alten Mann ein Gegenstand großen Interesses.

»Zum Mittagessen bin ich wieder da; da wird man Hunger von kriegen,« sagte Master Gammon feierlich, und er marschierte in seinem ernsthaften Sonntagshut und sorglich gebürsteten Rock, aufgeräumter als gewöhnlich, davon.

Nachdem er gegangen, saß Mrs. Sumfit und redete über Sterben und Begrabenwerden, als dem sicheren Ende aller; »wenigstens«, verbesserte sie sich selbst, »kann man das doch vom Sterben sagen«. Das Begrabenwerden blieb ja immerhin etwas ungewisser. Infolgedessen ließ sich ein Begräbnis gewissermaßen wie eine Vergünstigung, eine besondere Segnung auffassen, den Fall ausgenommen, wo es sich um ein Lebendig-Begrabenwerden handle. Sie bemühte sich, ihren Zuhörern plausibel zu machen, daß ihr diese Kalamität immer ganz unerträglich vorgekommen wäre und erzählte von zahlreichen Fällen, in welchen man, durch ein nachträgliches Öffnen des Sarges, entweder an dem zusammengekrampften Zustand des Leichnams oder an Blutstropfen auf dem Leichentuch konstatiert habe, daß das unglückselige Geschöpf todesverlassen aufgewacht sei, »und konnte auch nich' mal 'n büschen herumbumsen, Ihr Lieben!«

»Es passiert auch bei Frauen, nicht wahr, Mutter?« sagte Dahlia.

»Die sind solchen Starrkrämpfen am meisten ausgesetzt, meine Süße. Weil sie immer gern 'n büschen was vorstellen mögen, stellen sie schließlich mal vor, sie wär'n tot, – und oh ha!« Diese Vorstellung versetzte Mrs. Sumfit beinahe in nervöse Zuckungen. »Allein! – ganz im Dunkeln! nur hartes Holz auf 'er Brust un' an 'n Ellbogen, an 'ner Nase, an 'n Zehen, und man selbst ganz unter 'n ganzen Berg Kies! Un' dann nich' recht Atem holen zu können, wie man auch Luft schnappt un' so gern will – schlimmer a's 'n Fisch auf 'n Trocknen!«

»Es ist bald vorüber, Mutter,« sagte Dahlia.

»Was so junge Frauensleute doch kalt sünd! Ja, – aber ich mein' man, die Zeit bis dahin, – wenn man so fühlt, wie man Luft holen möcht', es is fuchbar! O Gott, o Gott! Denk' du man mal darüber nach?«

»Ja, das tu ich schon,« sagte Dahlia. »Man sieht Sargnägel anstatt Sterne. Man würde die ganze Welt darum geben, wenn man sich nur einmal umdrehen könnte. Man vermag nicht zu denken. Man kann nur die hassen, die einen dahin gebracht haben. Man stellt sich vor, wie sie Tee trinken, beten, in ihrem Bett schlafen, Hüte aufsetzen, zur Kirche gehen, Teig kneten, essen – alles auf einmal, als ob man eine Kanone abschösse. Sie sind in einer Welt – man selbst ist in einer andern.«

»Nein, Gott bewahre, man könnt' ja fast meinen, du hätt'st das all schon mal erlebt,« stieß Mrs. Sumfit entsetzt hervor.

Dahlias Augen suchten Rhodas.

»Ich muß hin und sehen, wie der arme Mann unter die Erde kommt,« Mrs. Sumfit gab einem plötzlichen Entschluß nach, indem sie tat, als habe sie sich schon lange mit dem Gedanken getragen.

»Schön, Mutter,« sagte Dahlia, indem sie sie zurückhielt, »versprich mir etwas! Leg eine Feder auf meinen Mund, halte einen Spiegel an mein Gesicht, ehe du mich hinaustragen läßt. Willst du? Rhoda verspricht es mir. Ich habe sie schon gebeten.«

»Gott, was für Gedanken die Deern hat!« platzte Mrs. Sumfit heraus. »Un' dabei sieht sie so aus, wie sie das sagt. Mein Liebling, du denkst doch nich' daran, zu sterben?«

Dahlia beruhigte sie und ließ sie gehen.

»Ich bin lebendig begraben,« sagte sie. »Ich fühle es alles – das Steifwerden, den hoffnungslosen Krampf! Laß uns ein bißchen im Garten arbeiten. Rhoda, hast du wohl etwas Opium im Hause?«

Rhoda schüttelte den Kopf, das Herz tat ihr zu weh, als daß sie hätte antworten können. Sie gingen in den Garten, wo sich Dahlia am wohlsten fühlte. Es war ihr, als spräche ihre verstorbene Mutter dort mit ihr. Es war nicht eine Redensart, wenn sie sagte, sie habe ein Gefühl, als sei sie lebendig begraben. Sie litt wirklich unter zeitweisen Sinnestäuschungen. Es gab Augenblicke, wo sie ihre eigene Bewegungsfähigkeit neugierig beobachtete, neugierig die Hände ausstreckte, Dinge berührte und bewegte. Der Anblick hatte etwas Überzeugendes, aber der Schauder kam immer wieder. In einem weniger widerstandsfähigen Körper würde das Gehirn versagt haben. Die Widerstandskraft ihres Gehirns selbst war es, welche sie, zu einer Zeit, wo ihr Blut nichts weiter als ein einfaches Lebensfluidum in ihren Adern, keine Lebenskraft, gewesen war, dazu verdammt hatte, die Weisheit und Gerechtigkeit in der Aufopferung von ihrer Seite zu sehen, ja, die sie bis zu den Stufen des Altars herangenötigt hatte. Dann hatte das plötzliche Abwerfen der Maske seitens des Mannes, dem sie ihr Wort gegeben hatte, und das Lesen von Edwards Brief voller Reue und Liebe ihre Vernunft Lügen gestraft, ohne dieselbe indessen zu verschleiern oder zu verwirren. Die Leidenschaft gewann die Oberhand, doch hatte ihre Leidenschaft nach allen Seiten hin gegen so tödlichen Widerstand zu kämpfen, daß sie unter einem verdunkelten Himmel, sichtlich gekettet, gebunden und hoffnungslos, von Zeit zu Zeit das Gefühl hatte, als sei sie tatsächlich lebendig begraben. Ihre Sinne waren halb und halb in Wahnsinn befangen.

Sie redete ganz vernünftig, und wenn Rhoda sie bei den Mahlzeiten wie einen verständigen Menschen Fragen stellen und Antworten geben hörte, stiegen ihr Zweifel auf, ob ihre Schwester vielleicht, wenn sie miteinander allein waren, absichtlich eine Art Wahnsinn simuliere. Nun, im Garten, sagte Dahlia: »Alle die Blumen, Liebling, haben in Mutter und mir ihre Wurzeln. Sie kann sie nicht fühlen, denn ihre Seele ist im Himmel. Aber meine ist dort unten. Der stete Schmerz ist der Versuch, die Seele loszureißen. Es ist wie die Schneide eines Messers, das nicht ganz durchgreifen kann. Kennst du das?«

Rhoda sagte, so ruhig sie konnte, zustimmend: »Ja.«

»Wirklich?« flüsterte Dahlia. »Das ist, was man ›Todeskampf‹ nennt. Aber so allein da hindurch zu müssen, wenn man ganz im Dunkeln ist! und ringsum eingeschlossen! das wirst du doch nie kennen lernen. Und dann kommt mitunter ein Engel und bringt mir eine von Mutters Rosen, und ich rieche daran. Ich sehe Felder von Schnee, und es ist warm und kein Raum zum Atemholen. Große Blumenbeete sehe ich, und ich gehe durch sie hindurch wie ein Windhauch. Ich bin zu Tode getroffen, und ich klopfe an den Erdboden, und dann begraben sie mich wieder für tot. Wirklich, Liebste, es ist wahr!«

Sie meinte, wahr, insoweit, als es sich um ihre Empfindungen handelte. Rhoda konnte kaum mit einem Lächeln auf ihre Reden reagieren, und da Dahlias Auffassungsvermögen ungewöhnlich rege war, las sie die Zweifel ihrer Schwester und rief aus:

»Dann laß mich von ihm sprechen!«

Es war die leidenschaftliche Portsetzung ihrer vorhergehenden Rede, und ihre Bitte sollte so viel bedeuten wie eine Erklärung, daß sie ihre Begriffe wohl zu klären vermöge, sobald man ihrer Leidenschaft erlaube, sich in Worte zu. kleiden. Aber der kürzeste Augenblick, da sie ihrer Leidenschaft die Zügel schießen ließ, weckte aufs neue ihr blindes Entsetzen. Rhoda stützte sie, wenn sie die Gartenwege entlang schritt, und betete innerlich, die Zeit möge nicht mehr fern sein, wo ihre Freunde, der Pfarrer und seine Frau, ihr bei der Aufgabe, diese arme Schwester zu trösten, helfen dürften. Da ihr der bloße Gedanke an Liebe ein Greuel war, war ihre Teilnahme fast wertlos, und gab es nicht irgendwelche reelle Arbeit, für die sie Dahlias Hilfe in Anspruch nehmen konnte, war sie fast unnütz, zumal das Gefühl, daß sie sich selbst eines Unrechts schuldig gemacht habe, sie niemals losließ.

Der Tag war milde und still. Die Blumen leuchteten im Widerschein der Sonne. Durch das Tosen des Mühlbachs hindurch hörten sie das Geläut der Grabglocken. Es gab in Rhoda einen Klang, als predige es von einem Ende, das einen neuen Anfang verheiße und einem Lande voll Mühe und Sorge eine Grenze stecke. Der leise Windhauch schien voller Gnade. Hier in voller Weltvergessenheit mit Dahlia zu leben, war das Ziel ihrer Wünsche. Vielleicht würde sie Robert – wenn er sich dazu verstände, dauernd mit ihnen zu arbeiten – dankbar die Hand reichen. Das heißt, wenn er kein Wort von Liebe sagen würde.

Master Gammon und Mrs. Sumfit kehrten um die Essensstunde pünktlich zurück, und die Notwendigkeit, die Klöße und Kartoffeln fertig zu machen, das kalte Fleisch und den Salat anzurichten, hielt eine Zeitlang die Erzählung von dem Verlauf der Begräbnisfeierlichkeit zurück. Die Hauptsache unter ihren Erlebnissen war die, daß Mrs. Sumfit wirklich und wahrhaftig – Master Gammon konnte es ihr bestätigen! – Anton Hackbutt unter den letzten Leidtragenden gesehen hatte. Master Gammon war indessen kein Freund davon, Vermutungen an irgendwelche Tatsache zu knüpfen. Was er gedacht hatte, das hatte er gedacht, aber darauf kam es ja doch nicht weiter an. Er wollte nicht auf irgend etwas schwören, was er nicht selber mit seinen Händen betastet hatte – schließlich, die Augen konnten einem einen Streich spielen, auf Vermutungen ließ er sich nicht ein. Er überließ es Mrs. Sumfit, sich in ihrer Bestürzung bis zu einem Eid zu versteigen, daß sie mit ihren leibhaftigen Augen Anton Hackbutt gesehen habe, und was mehr war, sie habe nach der Feierlichkeit beobachtet, wie der junge Squire Anton, der sich in eine Ecke des Kirchhofs verkrochen hätte, bemerkt, und einen Mann zu ihm geschickt habe, und wie sie dann alle miteinander versehwunden wären. Man lachte herzlich über Mrs. Sumfit, und sowohl der Bauer wie Robert neckten sie weidlich. »Toni bei einem Begräbnis! und sich die Ausgaben für 'n Zug zu machen!« warf der Bauer ein. »Glaubst du, Mutter, Toni würd' nach 'n Wrexbyer Kirchhof gehen, eh' er nach Queen Annes Farm käme? Und wo sollt' er nu' woll sein? He?«

Mrs. Sumfit wandte sich mit verzweifelten Blicken und mit einem eben fertigen Kloß zu Master Gammon.

»Na, Mas' Gammon, warum woll'n Sie so tun, a's wenn Sie da nich' an glauben täten. ›Glaub' ich nich'!, glaub' ich nich!‹ un' ob's auch noch so 'n feierlichen Augenblick war, un' a's ob Sie mir nich' gesagt hätten, das könnt' auch 'n Paar Stiefeln kosten, wenn er heut' morgen zu Fuß von London 'reingekommen war'. Jawoll! Das sind Ihre eigenen Worte, Mas' Gammon! un' ›Stiefeln‹ haben Sie gesagt, un' wenn Sie gar nichts weiter gesagt hätten. Denn ›Stiefeln‹, sag' ich bei mir selber –, an ›Stiefeln‹ denkt er natürlich zuerst, weil daß da 'n Schuster in seine Familie is', – von seine Mutter her nämlich – das haben Sie mir selber gesagt, Mas' Gammon, un' nu' sind Sie bockig wie 'n olles Pferd.«

»Hoho! schlägt Gammon hinten aus?« sagte der Bauer, und ein Schatten seines alten lustigen Zwinkerns huschte über sein Gesicht.

»Er hat mir die Geschichte erzählt,« fuhr Mrs. Sumfit fort, mit einem herausfordernden Blick auf ihren nicht reagierenden Gegner, ihr doch zu widersprechen. »Er hat mir die Geschichte erzählt, jawoll, das hat er getan, un' ich glaub', er macht sich da 'n Spaß aus, un' treibt mich in 'ne Sackgasse, daß die Leute mir auslachen sollen! Mas' Gammon, wenn Sie nich' 'n ollen Schlauberger sind, Sie haben gesagt, ja, das haben Sie getan! er war' ertrunken, Ihre Mutter ihr Bruder seine Frau ihr Bruder, un' der hatte 'n Bruder, un' was der für Sie gewesen is', der Bruder –« Mrs. Sumfit schlug die Hände zusammen – »o, du, meine Güte, mein armer Kopf! aber Sie soll'n mir nich' so davon loskommen, Mas' Gammon, nee, un' ob Sie sich da noch so viel Mühe um geben. Ertrunken is' er doch, un' acht Tage hat er ins Wasser gelegen, un' das haben Sie mir einmals erzählt, a's wir zusammen über 'n Glas Eierbier saßen, an 'n Ofen, un' das 's' nu' all Jahre her. Un' ich glaub', die Klöße, die machen Ihnen noch ganz obsternatsch, denn das wird immer schlimmer mit Sie, un' wo Sie sie doch so gern mögen, daß ich da bald nicht genug von kochen kann in unsern allergrößten Kochtopf. Ja, das haben Sie gesagt! Acht Tage hätt' er ins Wasser gelegen, un' was sein Gesicht war, haben Sie gesagt, der arme Kerl! das hätt' so ausgesehen, wie 'n Stück Handtuch in 'n Amidam, das sind Ihre eigenen Worte, un' man hätt' da nix nich' mehr von erkennen können; un' Joe, der andere Bruder, 'n Schuster oder 'n Schuhmacher, wie sie da nu' zu sagen, der hat ihn angekuckt, a's er da auf 'n Strand ausgestreckt gelegen hat, der Länge lang, un' kannt' ihn auch nich', bis daß er nach 'n Stiefeln gekommen is', im' da sagt er: ›Das 's' Abna‹, denn an die Stiefeln, da hat er ihn an erkannt. Na, Mas' Granamon, woll'n Sie nu' noch behaupten, Sie hätten nich' was von Mr. Hackbutts Stiefeln gesagt? Un' daß er da 'n weiten Weg in gehabt haben müßte, ganz von London? Un' ich laß mir nich' zu 'n Narren halten, von wegen so 'n ollen Schlauberger seine Kunststücker!«

Die wesentliche Beschuldigung blieb ohne Eindruck auf Master Gammon, von dem man nur hie und da eine halblautes Gemurmel vernahm, wie aus dem Allerinnersten eines tief verstauten Kloßes heraus, er überließ es dem Gelächter des Bauern, seinen Fall zu rechtfertigen. Die Erwähnung ihres Onkels hatte in Rhoda eine wachsende Unruhe hervorgerufen, und die Andeutung über sein seltsames Gebaren war nur ein um so deutlicherer Beweis für seine Anwesenheit in der Nachbarschaft. Und warum war er hierher gereist? War er gekommen, um sie wegen des Geldes zur Rechenschaft zu ziehen, das er ihr in den Schoß geschüttet hatte? Rhoda wußte in einem Augenblick, daß eine große Probe ihrer Kraft und ihrer Wahrhaftigkeit für sie herannahe. Mehr als einmal, nachdem sie Sedgett einen Haufen davon gegeben hatte, war ihr, wenn auch nur ganz, ganz von ferne, der Gedanke aufgestiegen, daß es sich bei dem Golde um Geld gehandelt habe, auf das man den allermildesten Ausdruck für ›gestohlenes Gut‹, der irgend zu finden sein dürfte, anwenden müsse. Nicht ›gestohlenes‹, auch nicht ›angeeignetes‹, aber daß es Geld gewesen, das man Anton vielleicht anvertraut habe, und von dem er vergessen habe, wer der eigentliche Besitzer sei. Diese Gedanken hatten sie nicht übermäßig gequält, aber unter der Last einer Fülle von überwältigenden Erscheinungen hatten sie sie – obschon in geringerem Maße – beunruhigt. Die Bestimmung über das Geld, die Notwendigkeit desselben hatte Rhoda mehr Verständnis für seinen Wert und sein Wesen verliehen. Sie hatte sich selbst eingeredet, ihr Verdacht entspringe nur dem wilden Gebaren ihres Onkels und dem Anblick des auf dem Fußboden verstreuten Goldes, das den Eindruck gemacht hatte, als sei zu ihren Füßen ein Herz zersplittert.

Kaum hatte sie die Vermutung aussprechen hören, daß Anton gesehen worden sei, als das Fünkchen einer geheimen Befürchtung wie ein rasender Schreck durch ihre Adern flammte. Sie stand vom Tische auf, ehe Master Gammon noch aufgestanden war, und verließ das Haus, um sich nach ihrem Onkel umzusehen. Er war nirgends auf den Feldern, noch auf dem Kirchhof zu sehen. Sie ging in trüben Sinnen durch die benachbarte Gegend, bis ihre plötzlich aufgestiegene Furcht sich allmählich beruhigte und kehrte erleichterten Herzens nach Hause zurück, indem sie sich selbst einredete, es sei Torheit, sich von ihrem Onkel eine andere Vorstellung zu machen, als die, daß er ein Mann sei, der allerhand Reichtümer zusammengehäuft habe, und anzunehmen, daß er hier sei. Aber sie hatte, inzwischen allerlei Gemütsbewegungen durchgemacht, die ihr von bevorstehenden Kämpfen redeten. Wer würde sich freundlich ihrer annehmen, wessen Arm würde ihr Stärke verleihen? Der Gedanke an den Sturm, den sie überall entfacht hatte, ließ sie ein törichtes Beben empfinden. Als sie ihre Hand in Roberts legte, gab sie seinen Fingern einen vertraulichen Druck, und fast hätte sie ihren Kopf an seine Brust gelehnt, so elend, fühlte sie sich vor lauter Schwäche. Es würde ein, Betrug ihm gegenüber gewesen sein, und das hielt sie davon zurück, – und vielleicht hielt sie noch mehr die dunkle Ahnung zurück, daß sie auf Worte der Liebe zu antworten haben würde, ohne zu wissen, was sie sagen sollte, und ein Ekel vor Zärtlichkeiten jeder Art. Sie sah sich dazu verurteilt, allein stehen zu müssen zu einer Zeit, wo sie den Rückhalt festen Selbstbewußtseins nicht ausreichend empfand, um Kraft daraus zu schöpfen.

Rhoda hatte die eiserne Überzeugung nicht fallen lassen, daß sie recht damit getan, Dahlia zu der Heirat zu zwingen, so schlecht die Sache auch ausgegangen war. Noch immer, wenn sie darüber nachdachte, empfand sie die harte Freude derer, welche mit der vollen Überzeugung von ihrer Rechtschaffenheit einem störrigen, sündigen und irrenden Geist ihren Willen aufgezwungen haben. Alles, was sie zugab, war, daß die Sache einen traurigen Ausgang genommen, immerhin sah sie nichts Schlimmeres darin, als eine bittere Enttäuschung, jedenfalls schien es ihr einstweilen nichts weiter. Der Mann, der ihrer Schwester Gatte war, konnte nicht länger die Klage erheben, das Opfer eines Betrugs zu sein. Sie hatte sein Versprechen erkauft, das Land zu verlassen und hatte die Ehre der Familie dadurch gerettet, daß sie ihn bezahlt hatte. Um welchen Preis? Das fragte sie sich jetzt, und dann geriet ihre Sicherheit ins Schwanken. Konnte ihr Onkel sich von der großen Summe getrennt – dieselbe über sie ausgeschüttet haben, nur aus reinem Wohltätigkeitsdrang, und weil er sie lieb hatte. War es möglich, daß es seine Gewohnheit war, seine eignen Reichtümer durch die Straßen Londons zu tragen? Sie mußte alle derartigen Fragen gebieterisch zur Ruhe verweisen, und sich ihre Auffassung seiner Persönlichkeit und den Umstand genau wieder ins Gedächtnis zurückrufen, welchen Wert das Geld in jenem Augenblick für sie besaß, da es ihr zu einem Gegenstand des Hungers wurde, so daß sie wie ein Wolf darüber hergefallen war, ohne sich seines Wertes bewußt zu sein, ja, ohne ihn auch nur zu ahnen.

Rhoda öffnete das Fenster weit, ehe sie sich schlafen legte, um die kühle Nachtluft einzuatmen, und als sie sich hinauslehnte, hörte sie Schritte sich entfernen und wußte, daß es Robert sei, in dem jener Druck ihrer Hand das Verlangen nach ihr grausam neubelebt hatte. Sie zog sich mit einem Kopfschütteln über die Torheit der Männer zurück, die Sklaven sind, solange sie um eines Weibes Liebe werben, Wilde, wenn sie dieselbe gewonnen haben. Sie versuchte Mitleid für ihn zu empfinden, aber sie hatte keine Gefühle übrig, vielleicht das Gefühl einer dumpfen Genugtuung ausgenommen, daß sie allein unter den Frauen sich von jenem elenden Netzwerk frei fühlte, welches die Menschen Liebe nennen, und mit diesem Bewußtsein schlief sie ein.

Am nächsten Tage zwischen dem Frühstück und dem Mittagessen war es, als der junge Squire in Begleitung von Anton Hackbutt Bauer Fleming auf dem Wege, der einen seiner äußeren Weizenplätze begrenzte, begegnete. Anton hatte kaum mehr als ein stumpfes Nicken für seinen Verwandten und schlurrte weiter zum hellen Erstaunen des Farmers, während der junge Squire ihn anhielt, um mit ihm zu sprechen. Anton ging weiter dem Hause zu. Kurz darauf sah man ihn durch die Gartenpforte gehen, und zwar in Begleitung von Rhoda. Um die Mittagsstunde nahm der Bauer Robert beiseite. Weder Rhoda noch Anton zeigten sich. Sie erschienen nicht vor Einbruch der Nacht. Als Anton das Zimmer betrat, erwiderte er keinen Gruß, noch sprach er selbst einen aus. Er setzte sich auf den ersten Stuhl, welcher neben der Tür stand, und schüttelte, leeren Blicks, seinen Kopf. Rhoda nahm ihren Hut ab und saß ebenso seltsam stumm da. Vergebens fragte Mrs. Sumfit sie: »Was soll es sein, Liebling? Tee oder etwas kaltes Fleisch?« Die zwei stummen Figuren wurden, jede für sich, gefragt, aber sie gaben keine Antwort.

»Komm, Bruder Toni!« versuchte ihn der Bauer aufzumuntern.

Dahlia strickte an irgendeinem weiblichen Gebrauchsgegenstand. Robert stand bei den Moschustöpfen am Fenster und sah starr zu Rhoda hinüber. Sein Blick brachte sie schließlich zum Bewußtsein zurück, sie blickte an ihm vorbei nach der Uhr.

»Es ist spät,« sagte sie, indem sie aufstand.

»Aber du hast ja nix im Magen, mein Kind. Nee, sowas! ohne Mittagessen im' Tee un' Abendbrot zu Bett zu gehen! Du wirst rein nich' beten können, Kind, wenn du gar nix essen tust,« sagte Mrs. Sumfit.

Diese Bemerkung löste in des Farmers Hirn eine Vorstellung aus, daß Anton ganz besonders gebetslos sein müsse.

»Ich höre, du hast eine Nacht beim jungen Herrn geschlafen, Bruder Toni. Das 's ja ganz schön. Mußt nich' meinen, daß ich dir das übelnehme. Wenn du dich mit der Herrschaft drüben angefreundet hast, dann will ich dich gewiß nich' dazu überreden, dich mit unsrer Familie hier einzulassen, nee, da sollen dir wahrhaftig keine Unannehmlichkeiten von kommen. Bloß, mein' ich man, wenn du nun doch mal hier bist, Mensch, dann könnt'st du auch woll mal 'n Wort sagen. Oder soll ich nach 'n Doktor schicken?

»Hab' ich doch recht gehabt,« murmelte Mrs. Sumfit, »un' er is' doch beim Begräbnis gewesen, Gott sei Dank! Ich dach' wahrhaftig, meine Augen wär'n nich' mehr recht. Mas' Gammon, da hätten Sie nu' auch weiter keinen Schaden von gehabt, wenn Sie mir 'n büschen unterstützt hätten!«

»Hier ist auch Dahlia,« sagte der Farmer. »Bruder Toni, siehst du sie nicht? Sie fängt an, wieder mehr sie selbst zu werden, wenn nur ihr Haar 'n bißchen schneller wachsen wollte! Sie ist – na, da ist sie ja.«

Eine zitternde, schwache Stimme, die von Anton herkam, sagte: »Wie geht 's dir denn?« Wie der erste Versuch, aus einer Rohrpfeife einen Ton hervorzubringen, klang's. Aber Anton warf keinen Blick auf Dahlia.

»Willst du essen, Mensch? – willst du 'ne Pfeife rauchen? – willst du nich' 'n Wort sagen? – willst du zu Bett gehen?«

Diese verschiedenen Fragen, die in Zwischenräumen ausgesprochen wurden, entlockten dem vor sich hinstarrenden Mann keine Äußerung.

»Ist was auf der Bank schief gegangen?« rief der Bauer, und Anton zuckte auf und sank dann ganz klein in sich zusammen.

»Hm?« drang der Bauer weiter in ihn.

Rhoda warf sich ins Mittel: »Onkel ist müde; er ist nicht wohl. Morgen wird er mit dir sprechen.«

»Nein, aber sag' mal, ist irgend was da oben in Unordnung?« fragte der Bauer mit reger Neugier und einem triumphierenden Lächeln bei dem Gedanken, daß auch diese Banken und diese Leute aus dem Geschäftsviertel Londons nur sterblich wären und trotz ihres kreischenden Räderwerks in Unordnung geraten könnten. »Bruder Toni, sag' doch mal was! Hat irgend jemand Bankrott gemacht? Ach was, pfeif doch auf 'n kleinen Krach, natürlich bloß so lang, wie dein Geld nicht mit dabei übergeschluckt wird. Wie is' 's damit? Mein Gott, so was hab' ich doch noch gar nich' gesehen. Kommst du von London hier 'runter un' spielst Versteck um dein Schwager sein Haus herum, und hier, wenn du so gütig bist un' uns mit 'n Besuch beehrst – denn – na, wie is' die Sache? Ich hoffe, du bist nich' ruiniert, Toni, was?«

Rhoda stand über ihren Onkel geneigt da, um ihn vor den auf ihn gerichteten Blicken zu bergen.

»Er soll nicht sprechen, bis er sich etwas ausgeruht hat. Und, ja, Mutter, 'n bißchen Tee soll er oben haben im Bett. Setz etwas Wasser auf. Nun komm mit mir, Onkel.«

»Hat einer Bankrott gemacht?« Anton rollte die Worte gewissermaßen nach. Rhoda ergriff seinen Arm. »Sie fragen mich so viel, mein Kind, das kann ich nich' aushalten. Du sagtest doch, hier war so 'n ruhiger Fleck. Ich weiß gar nichts von Geld. Kannst meine Taschen nachsuchen. Jawohl, un' wenn da vierzig Polizisten beikämen, sie sind ganz leer, kannst es selber sehen. Un' ich wüßte auch nich', warum ich nich' zu 'n Gebet nicken sollte, aber selber hab' ich nie eins gelernt. Wo geh'n wir hin, Liebe?«

»Wir gehen zusammen hinauf, Onkel.«

Es war Rhoda gelungen, ihn zum Aufstehen zu bewegen.

Der Bauer tippte sich auf die Stirn, um den anderen anzudeuten, daß es mit Antons Kopf nicht seine Richtigkeit habe, was ihn daran erinnerte, daß er solches bereits vorausgesagt. Er reckte sich, sprang mit einem Satz in die Höhe und rief: »Halloh, Bruder Toni, aber, Mensch! Nu' sag' doch mal einer! Zu Bett gehen willst du? Was, Toni? Ich sag' man, ich sag' man! Du meine Güte!« Und während dieser Ausrufe tanzten verworrene Visionen von ineinander geschlungenen Goldfäden vor seinem inneren Auge.

Rhoda ging rasch mit Anton hinaus.

Nachdem die Tür sich hinter den beiden geschlossen, sagte der Bauer: »Das kommt davon. Früher oder später mußte es ja so kommen. Da hängt man sein Herz an Geld, – das 's grad so gut, a's wenn man sich bei 'n Schiff versichert un sagt: Hier hab' ich 'n Schiff, und nu' mag das mein'twegen donnern un' blitzen, – ich pfeif darauf. Währenddem wir, die wir nur so von 'er Hand in 'n Mund leben, wenn es da stürmt un' donnert und blitzt, und die Wellen so ankommen wie 'n Lawine, wir haben nix zu verlieren. Der arme alte Toni! Das 's 'n Krach, soviel is' sicher. Da 's irgend 'n Krach gewesen, un' er is' unter 'n Pflug zu liegen gekommen. Un' das könnt ihr alle, so viel ihr da seid, sagen, daß ich das immer gesagt hab', nix kann ewig dauern. Na, sagt selbst? Hab' ich das gesagt oder nich'?«

Die Anwesenden gaben sanftmütig zu, daß sie seinen prophetischen Geist insoweit anerkennten. Mrs. Sumfit sagte trübsinnig: »Oft, Willem, oft!« und nahm die unbestreitbare Wahrheit in tiefer Herzensdemut in sich auf.

»Spart,« fuhr der Bauer fort, »spart und legt zurück, aber tut euer Herz nich' mit in 'n Spartopf!«

»Das 's wahr, Willem.« Mrs. Sumfit gab die Responsorien zu der Predigt.

Dahlia umarmte sie sanft und küßte sie.

»Hast die alte Frau so lieb?« murmelte Mrs. Sumfit zärtlich, und Dahlia küßte sie aufs neue.

Der Bauer hatte sich inzwischen überlegt, inwieweit er selbst von Antons Mißgeschick in Mitleidenschaft gezogen werden könnte, in der Annahme, daß Antons augenscheinlicher Kummer nicht lediglich Mitgefühl sei, das einer sentimentalen Anhänglichkeit an das Geschäft entspränge, für das er nun einmal eine Vorliebe hatte, und eine solche Überlegung lenkte seinen Hang zu moralisieren augenblicklich ab.

»Wir werden es morgen schon hören,« damit schloß er die Erörterung, und da – hierdurch angeregt – sich der Wunsch in seinem Busen regte, es möchte doch bald morgen sein, suchte sein Blick Master Gammon, der eine halbe Stunde länger als gewöhnlich aufgeblieben und auf seinem Stuhl eingeschlafen war. Dies ungewöhnliche Schauspiel öffentlicher Schlafsucht seitens Master Gammons, vereint mit des würdigen Alten Renommee für Langsamkeit, machte den Bauer ärgerlich auf ihn, als halte er gewissermaßen den lebhaften Gang der Stunden auf.

»He, Gammon!« rief er so laut, daß jedes gewöhnliche Ohr davon hätte erwachen müssen; aber Master Gammon gehörte nicht zu denen, welche wie gewöhnliche Sterbliche in den Abgrund des Schlafes versanken; es bedurfte eines kräftigen Rüttelns und Anschreiens, Erdbebens und Donnergebrülls zugleich, ehe seine blinzelnden Eidechsenlider die großen Augen, die gleichsam einer untergegangenen Welt anzugehören schienen, entschleierten; als es endlich geglückt, rollte er, wie ein aus Lehm gebildetes Ungeheuer, das sich der Einwirkung des himmlischen Feuers widersetzt, erst auf die rechte Seite seines Lehnstuhls, dann auf die linke, schwankte dann vorne über und bestand darauf, bewußtlos zu bleiben. Als er endlich bis zum gewissen Grad seine Besinnung wiedererlangt hatte, sah er seinen Brotherrn lange an und murmelte zum Erstaunen aller: »Bauer, es gehen seltsame Dinge in diesem Hause vor.« Dann entspann sich ein Kampf zwischen ihm und Mrs. Sumfit in betreff der Kerze: sie behauptete, man könnte sie ihm nicht anvertrauen, und er stritt eigensinnig dagegen, das könne man wohl.

»So, wir wollen alle zu Bett gehen,« sagte der Bauer. »Wenn der eine wunderlich is', und der andre auch, dann bekomm' ich Kopfweh, wenn ich das noch mit 'n Nachdenken krieg'. Gammon ist ein Mensch, der im Schlaf sieht, was ihm im Wachen entgeht. Und nun sagt mir doch bloß mal,« damit wandte er sich an alle Anwesenden, »ist euch schon mal so was vorgekommen, wie dies, daß Anton Hackbutt in das Haus seiner Verwandten kommt und da sitzt und mit keinem ein Wort spricht? Ich muß sagen, ich bin selbst wie auf 'n Mund geschlagen davon. Un' ich selbst? Warum konnt' ich denn nich' hingehn und ihm die Hand schütteln, kann man wohl fragen? Ja, warum nich'? Wenn er nich' weiß, daß er willkommen is', ohne daß man da viel Wesens von macht, dann kann er mir gewogen bleiben. Weiß der Himmel, ich hab' doch noch andre Sachen in 'n Kopf, meint ihr nich'? Das hat jeder, der eine mehr und der andre weniger, – ich sprech' gar nich' von 'n Kreuz, das jeder zu tragen hat. Aber da 's irgend was nich' in Ordnung mit mei'n Schwager Toni, das steht fest. Komisch, daß wir Landleute, die doch warten gelernt haben und unseres Herrgotts Gaben so hinnehmen –«, der Bauer führte den Gedanken nicht weiter aus, vielmehr hob er seinen Arm in die Höhe, wie ein Schäfer und blies vor sich hin, als wollte er die beiden Frauen aus dem Zimmer heraus in ihre Betten pusten, dann streifte er Robert mit einem scheuen Blick und nickte ihm eine »Gute Nacht!« zu. Robert antwortete mit einem Kopfnicken seinerseits. Er kannte die Ursache für des Bauern ungewöhnlich aufgeräumtes Wesen: Algernon Blancove, der junge Gutsherr, hatte bei ihm um Rhodas Hand angehalten.


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