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Kapitel XLVI. Wenn die Nacht am dunkelsten ist

Kaum war Rhoda eingetreten, als ihr Vater den Schlüssel zu Dahlias Schlafzimmer in die Höhe hielt und sagte: »Laß deine Schwester heraus und laß sie zu ihrem Manne herunterkommen.«

Mechanisch nahm Rhoda den Schlüssel.

»Laß unsre Tür offen,« fügte er hinzu.

Sie ging zu Dahlia hinauf, eine plötzliche furchtbare Angst, Robert könne irgendein Unglück zugestoßen sein, da sein Feind hier war, machte sie ganz krank; aber Dahlias Anblick verscheuchte jeden andern Gedanken.

»Er ist im Hause,« sagte Dahlia und fragte: »War kein Brief da? kein Brief? gar keiner? heute morgen?«

Rhoda preßte sie an sich und versuchte ihres heftigen Zitterns Herr zu werden.

»Kein Brief! kein Brief? keiner! nicht eine Zeile? O Gott, kein Brief für mich!«

Die seltsam mannigfaltige Tonart, in der sich Ausruf und Frage abwechselten, hatte etwas Jammervolles.

»Hast du einen Brief erwartet?« sagte Rhoda und verachtete sich selbst, daß sie so zu sprechen vermochte.

»Er ist im Hause. Wo ist mein Brief?«

»Was war es, was du hofftest, was du erwartet hast, Liebling?«

Dahlia stöhnte: »Ich weiß es nicht. Ich bin blind. Ich sollte hoffen, hat man mir gesagt. Gestern hatte ich meinen Brief, und er hieß mich hoffen. Er ist im Hause!«

»O mein Lieb, mein Liebling!« rief Rhoda, »komm einen Augenblick herunter. Sieh ihn, Vater wünscht es. Nur einen Augenblick komm! Komm, damit du Zeit gewinnst, wenn Hoffnung da ist.«

»Aber da war kein Brief für mich heute morgen, Rhoda. Ich kann nicht hoffen. Ich bin verloren. Er ist im Hause.«

»Liebste, es war ein Brief da,« sagte Rhoda, im Zweifel, ob sie recht daran tue, es zu verraten.

Dahlia streckte in stummer Bitte die Hände nach ihrem Brief aus.

»Vater hat ihn offen gemacht und gelesen und behalten,« sagte Rhoda, während sie das arme Geschöpf fest umschlungen hielt.

»Dann ist er gegen mich? O mein Brief!« Dahlia rang die Hände.

Während sie noch sprachen, hörte man die Stimme ihres Vaters von unten rufen, Dahlia solle herunter kommen. Dreimal kam er bis an den Fuß der Treppe und rief nach ihr.

Das dritte Mal stieß er einen Fluch hervor, auf den sich als Erwiderung ein Schrei aus Dahlias Brust entrang.

Rhoda ging auf die Diele und sagte sanft: »Komm zu ihr herauf, Vater.«

Nach einigem Zögern stieg er die Treppe hinauf.

»Na, Kind, ich verlange ja nichts weiter, als daß du herunterkommst und deinen Mann begrüßt,« sagte er mit einem Versuch, einen freundlichen Ton anzuschlagen. »Was ist denn das für 'n Unglück? Komm nur, un' sag' ihm guten Tag, das 's ja alles, komm nur, un' sag' ihm guten Tag.«

Dahlia versuchte, sich den Blicken ihres Vaters zu entziehen, als er da in der Tür stand. »Sag' ihm,« flüsterte sie Rhoda zu, »sag' ihm, daß ich meinen Brief haben will.«

»Komm!« William Fleming wurde ungeduldig.

»Gib ihr erst ihren Brief, Vater,« sagte Rhoda. »Du hast kein Recht, ihr denselben vorzuenthalten.«

»Der Brief, mein Kind« (er berührte Rhodas Schulter, als wolle er sie darüber beruhigen, daß er nicht böse sei), »der Brief ist wo er hingehört. Ich hab' mir herausklamüsert, was er bedeuten soll. Der Brief ist in den Händen ihres Mannes.«

Dahlia, die gespannten Ohrs auf alles horchte, was gesagt wurde, hörte dies. Hinter der Tür hervorkommend, trat sie ihrem Vater gegenüber.

»Meinen Brief hat er bekommen!« rief sie. »Du schändlicher alter Mann! Kannst Du mich ansehen? Vater, das konntest du tun? Ich bin eine tote Frau!«

Sie zerschlug sich die Brust und taumelte zurück; Rhodas Arm fing sie auf.

»Du bist ein schlechtes Mädchen gewesen,« verteidigte sich der im ganzen schwer zu rührende Mann. »Dein Mann ist gekommen, um dich abzuholen, und du wirst mit ihm gehen. Das weißt du jetzt, und nun keine Widerrede! Er 's 'n bescheidener, ruhiger junger Mann, ist 'n Bauer wie ich selbst, und mir ist er gut genug. Du kommst jetzt sofort zu ihm 'runter. Ich sag' dir ja, er is' gekommen, um dich abzuholen, und sein Wagen steht vorm Tor. Bis zum Tor wirst du mit ihm gehen. Wenn ich dich das nächste Mal wieder sehe, – wenn du mich mal besuchst, oder ich dich – dann werd' ich 'ne geachtete Frau sehen und nicht, was du gewesen bist, und was du gern wieder sein möchtest. Du hast jahrelang unser Haus durch Sorge und Schande zerrüttet. Nun komm, und mach' wieder gut, was du angerichtet hast. Du hast meinen Befehl gehört, un' 's mir ganz egal, ob du 'ne tote Frau bist oder 'ne lebendige. Rhoda, krieg du deine Schwester mal beim einen Arm. Deine Tante kommt 'rauf und wird den Koffer packen. Ich sag' dir, ich will's, und wenn ich das sag', dann möcht' ich doch den sehen, der mich hindern will. Komm heraus, Dahlia, und laß den Abschied zwischen uns sein, wie's sich zwischen Vater und Kind gehört. Es wird schon dunkel, und dein Mann will gern weg. Er hat Geschäfte, und vorm letzten Zug in die Stadt werdet ihr die Station kaum mehr erreichen. Hörst du, da ruft er schon. Er wundert sich natürlich, das 's auch nich' weiter merkwürdig. Du stellst seine Geduld auch wahrhaftig auf die Probe. Da würde 'n andrer Mann auch ungeduldig von. Nu' komm! Un' wenn wir uns mal wiedersehen, dann bist du 'ne glückliche Frau.«

Er hätte seine Worte gerade so gut an eine Tote richten können.

»Sprich noch eine Weile zu ihr, Vater,« sagte Rhoda, während sie einen Stuhl heranzog, gegen den sie die Gestalt ihrer Schwester lehnte; dann lief sie in der ganzen Eilfertigkeit ihres Hasses und Ekels hinunter, um es ihrerseits mit Sedgett aufzunehmen; aber so groß ihre innere Kraft war, seine brutale Entschlossenheit, sein Weib von hinnen zu führen, war ihr noch überlegen. Keine Vernunftgründe, keine Ironie, keine flehentlichen Bitten, vermögen der hartnäckigen Wiederholung eines Satzes, in den sich jemand verbissen hat, lange standzuhalten. »Ich will meine Frau holen,« sagte Sedgett auf all ihre Einwände. Seine Stimme wurde laut und frech, und bei ihrem Klang stöhnte Mrs. Sumfit auf und warf wieder und wieder die Schürze über den Kopf.

»Ja, wie hast du ihn denn heiraten können?«

Von oben her hörten sie den Bauer Dahlia diese Frage, auf die es keine Antwort gab, zuschreien.

»Ja, wie konnte sie es?« rief Rhoda, indem sie gänzlich vergaß, welche Rolle sie selbst bei dieser Eheschließung gespielt hatte.

»Es ist zu spät, einen Mann zu hassen, wenn du ihn geheiratet hast, mein Deern.«

Sedgett ging an den Fuß der Treppe.

»Mr. Fleming – sie ist meine Frau. Ich will sie schon lehren, was hassen und lieben bedeutet. Ich will sie gut behandeln, das schwöre ich. Ich bin von Feinden umgeben, aber ich sag' Ihnen, ich liebe meine Frau, und ich bin hierher gekommen, um sie mir zu holen, und sie haben will ich. Ich geb' ihr noch zwei Minuten. Mr. Fleming, mein Wagen hält am Tor und ich hab' zu tun, und sie ist meine Frau.«

Der Bauer rief Mrs. Sumfit nach oben, damit sie Dahlias Koffer packe, und das unglückselige Frauenzimmer machte sich auf den Weg ins Schlafzimmer. Das ganze Haus war still. Rhoda schloß die Augen und dachte: »Läßt Gott uns wirklich im Stich?«

Sie gab ihrem Vater ein: »Vater, du weißt, daß du dein Kind tötest,« zu hören.

»Ich höre, was du sagst, mein Kind.«

»Sie wird daran sterben, Vater.«

»Ich höre, ich höre.«

»Sie wird sterben, Vater.«

Er stampfte wütend mit dem Fuß auf und rief: »Wer hat ihr mehr zu sagen als ihr Mann? Das 's das Gesetz. Nimm doch Vernunft an und komm und hilf mir deine Schwester herunterholen. Sie geht!«

»Vater,« schrie Rhoda und starrte auf ihre geöffneten Hände, als vermöge sie deren Hilflosigkeit nicht zu fassen.

Eine Zeitlang herrschte im Hause die Totenstille, die über einem Krankenzimmer lagert, während der Arzt des Patienten Puls untersucht. Und in die Stille hinein fiel ein erlösender Laut – das Aufheben der Türklinke. Rhoda sah Roberts Gesicht.

»So,« sagte Robert, als sie auf ihn zutrat, »Sie brauchen mir nicht zu sagen, was passiert ist. Hier ist der Mann, wie ich sehe. Er hat mich schlau hintergangen. Ein Jagdhund bedarf der Übung, der Fuchs wird mit seiner Schlauheit geboren.«

Wenige Worte genügten, um ihn über die Lage der Dinge im Hause zu orientieren. Rhoda sagte alles ohne Zögern, obschon es in Sedgetts Hörweite geschah.

Aber der Bauer hatte genug Respekt vor Robert, um zu ihm hinunterzukommen und ihm seine Ansichten über seine Pflicht und die Pflicht seiner Tochter auseinanderzusetzen. Bei dem Lichte des Herdfeuers lasen er und Robert und Sedgett einer in des andern Zügen.

»Er hat ein Recht darauf, sein Weib zu fordern, Robert,« sagte der Bauer. »Er hat sie vor der Welt wieder ehrlich gemacht, und ich bin ihm dankbar dafür, und wenn er sie von mir verlangt, so muß er sie haben und soll sie haben.«

»Schon gut, Herr,« erwiderte Robert, »ich sag' auch soll, und sollte ich darüber so steif werden wie 'n Stück Holz.«

»O Robert, Robert!« rief Rhoda in heller Freude.

»Woll'n Sie damit sagen, daß Sie zwischen mich und mein eigen Fleisch und Blut treten wollen?« sagte Mr. Fleming.

»Ich will nicht, daß Sie zu einem direkten Mord Ihr Jawort geben sollen, das ist alles,« sagte Robert. »Sie – Dahlia, diesem Kerl die Hand reichen!«

»Warum hat sie mich geheiratet?« donnerte Sedgett.

»Ja, das gehört ins Reich des Unbegreiflichen!« räumte Robert ein. »Davon abgesehen, daß Sie 'n verteufelter Heuchler sind, den Frauen gegenüber, war sie ja halbtot und hatte keinen eignen Willen, und jemand hatte Sie dazu angestachelt, sie zu Tode zu hetzen. Ich sag' Ihnen, Mr. Fleming, grad' so gut, wie diesem Kerl da, könnten Sie Ihre Tochter dem Henker in die Hände liefern.«

»Sie 's seine Frau, Mensch!«

»Mag sein,« gab Robert zu.

»Du, Robert Eccles!« sagte Sedgett mit heiserer Stimme, »ich bin gekommen, mir meine Frau zu holen, hörst du wohl?«

»Scheint so,« antwortete Robert. »Du hast mich schlau angeführt, das hast du wahrhaftig. Ich möchte wohl wissen, wie das anging. Ich sehe, du hast 'n Wagen draußen und 'n Jungen, der dir das Pferd hält. Läuft das Pferd gut? Was? Ich bin drei Stunden später angekommen, soviel ich weiß, – immerhin nicht zu spät.«

Ein Seufzer tiefster Ermüdung entrang sich ihm.

Rhoda ging zum Speiseschrank und nahm eine nur selten in Angriff genommene Flasche heraus, mit der sie ein kleines Glas füllte, sie reichte ihm das Glas und sagte: »Trinken Sie!« Er lächelte ihr freundlich zu und goß es in einem Schluck hinunter.

»Der Mann ist in Ihrem Hause, Mr. Fleming,« sagte er.

»Und er ist mein Gast und der Mann meiner Tochter. Ich hoffe, das werden Sie nicht vergessen,« sagte der Bauer.

»Und ich habe nicht die Absicht, auch nur noch eine halbe Minute zu warten, bis ich sie fortbringe – das merk' dir,« fiel Sedgett ein. »Nun, Mr. Fleming, beweisen Sie, daß Sie mir Wort halten.«

»Das will ich,« sagte der Bauer. Er ging auf den Hausflur und rief Mrs. Sumfit zu, sie solle den Koffer herunterbringen.

»Sie bittet,« antwortete ihm Mrs. Sumfit, »sie bittet, William, man möge sie nur fünf Minuten allein lassen, um zu beten, das wirst du ihr doch zugestehen, Lieber? Sicher! Herrgott, was ist doch über uns gekommen!«

»Flink, Mutter, und jetzt also herunter mit dem Koffer!« wiederholte er noch einmal.

Der Koffer wurde aus dem Zimmer getragen, und Dahlias Tür geschlossen, damit sie die letzten Minuten für sich allein haben möge.

Rhoda küßte ihre Schwester, ehe sie sie verließ, und Dahlias Lippen waren so kalt, ihre Hände krampften sich so fest zusammen, daß sie sagte: »Denke an Gott, Liebste!« und Dahlia antwortete: »Das tue ich.«

»Er wird dich nicht verlassen,« sagte Rhoda.

Dahlia nickte mit geschlossenen Augen, und Rhoda ging fort.

»Und jetzt, Robert, wollen wir beide mal sehen, wer Herr im Hause ist,« sagte der Bauer. »Hört alle zu! Ich habe eine heilige Verpflichtung gegen den Gatten meines Kindes zu erfüllen, und des Herrn Zorn treffe den, welcher sich darein mischt und mich daran zu hindern versucht, meine heilige Verpflichtung zu erfüllen. Platz da! Ich will die Tür aufmachen. Rhoda, sorg' du für Hut und Zeug deiner Schwester! Robert, aus dem Weg sag' ich! Sie wollen nicht irgendeine kleine Erfrischung zu sich nehmen vor der Abfahrt, Mr. Sedgett? Nicht die geringste? Nun, meine Gastlichkeit ist nicht Schuld daran. Aus dem Wege, Robert!«

Ihm wurde gehorcht. Robert blickte Rhoda an, aber er hatte auf ihren Blick der Verzweiflung nichts zu erwidern.

Der Bauer öffnete die Tür weit.

Drei Menschen standen im Garten – Fremde. Im Dunkeln wurde sein Name fragend ausgesprochen. Dann hörte man ein Flüstern zwischen den schwer zu unterscheidenden Gestalten, und der Bauer trat zu ihnen hinaus. Robert horchte scharf auf, aber die Berührung von Rhodas Hand, die sich auf die seine legte, lenkte seine Aufmerksamkeit ab. »Dennoch muß es so sein!« sagte er. »Wie kommt sie hierher?«

Er sowohl wie Rhoda folgten dem Bauer auf dem Fuße, vorwärts getrieben durch den leicht angefachten Hoffnungsfunken, welcher jeder unerwarteten Unterbrechung eines verzweifelt elenden Zustandes entspringt. Während sie immer näher an die Gruppe herankamen, hörten sie eine drollige alte Frau ausrufen: »Hierher zu Ihnen zu kommen, um seine Frau abzuholen, wenn er doch seine eigne Frau zu Hause hat, – so 'n armes Ding, das er nach Amerika eingeschifft hat, und kam sich dabei wohl schlauer vor, als Engel und Teufel zusammen; und sie wurde in irgend 'nen Hafen an Land gesetzt, weil das Wetter so schrecklich war, recht als wenn sie die Schlechtigkeit von ihrem Mann ans Licht bringen sollte. Wenn ich Ihnen das nicht beweisen könnte, Herr, daß er 'n verheirateten Mann is', was freilich keiner von uns in 'n Dorf gewußt hat, bis das arme Ding, das er so angeführt hatte, ohne 'n Pfennig nach 'n Dorf zurückgekrochen is', um ihn wiederzufinden, – un' nu' is' sie da und erzählt jedem, der es nur hören will, die Geschichte, wie schlau er die Sache angefangen hat – und warum er 's alles geheim gehalten hat, weil sie 'n Pension kriegte, und er die nich' verlieren wollte. Na, Sie sollen die Geschichte noch gelegentlich mal zu hören kriegen.«

Robert brach in ein jubelndes Gelächter aus.

»Sieh mal an, Mutter! Mrs. Boulby? hast du denn nicht ein einziges Wort für mich?«

»Mein allerbester Robert!« rief die alte Frau, während sie auf ihn zustürzte, um ihn zu küssen. »Wenn ich auch' nich' grade gekommen bin, um dich zu besuchen.« Dann flüsterte sie ihm zu: »Der Major und der gute Herr – sind hinter mir. Ich bin mit ihnen hergereist. Junge, das mußt du gleich hören! – Mrs. Lovell schickte ihren schlauen, kleinen Diener vor grade zwei Wochen nach Warbeach 'runter, um sich nach diesem Schuft zu erkundigen, und der Diener ließ mir ihre Adresse da, – für alle Fälle, weißt du – und da kam dies arme Geschöpf – seine wirkliche Frau – nach Hause, und wir in Dreibäumen hörten von ihr und erfuhren ihre ganze Geschichte. Na, und da hab' ich denn gleich an Mrs. Lovell geschrieben, und die süße, gute Dame schickte ihren Diener, damit er mich hierher brächte, daß ich die ganze Geschichte klar machte. Du wirst das schon bald alles verstehen. Da hat die Vorsehung ihre Hand mit im Spiel. Ich glaube ganz gewiß, nun kommt der Augenblick, wo die Schlechten ihre Strafe kriegen.«

In der Haustür tauchte Rhodas Gestalt auf, die zwei Lichter in der Hand trug; und bei ihrem trüben Schein sah sie den alten Anton gegen das Haus lehnen und ganz dicht neben ihm, bei der Gartenpforte, standen Major Waring und ein anderer Herr.

Gleichzeitig hörte man das Rollen von Wagenrädern.

Robert rannte in die große Küchenhalle zurück und stampfte zornig mit dem Fuße auf, als er sie leer fand.

Seine Beute war ihm entschlüpft.

Doch war jetzt keine Zeit, diesem dem Hause angetanen Schimpf weiter nachzusinnen. Das war vorüber. Major Waring redete ernst auf den alten Fleming ein, der gesenkten Hauptes, wie erstarrt, dastand, und nichts weiter in sich aufzunehmen vermochte, als daß da vor ihm ein Herr stehe, der ihm gar seltsame Mitteilungen machte, Allmählich waren alle unter des Bauern Dach getreten – alle bis auf einen, der gebeugten Hauptes an der Schwelle stehen blieb.

Unsere Geschichte hat eine Art Helden und eine Art Bösewicht: sie sind nur Werkzeuge. Held und Bösewicht vereint finden sich in der Person Edwards, der jetzt hier war, um sich vor dem alten Manne und der Familie, der er Unrecht zugefügt hatte, zu demütigen und reuig zu den Füßen des Weibes zu knien, das alle Ursache hatte, ihn mit Schimpf und Schande von sich zu weisen. Er hatte sie verkauft, wie man einen Sklaven verkauft, er hatte gesehen, wie sie in den dunkelsten Abgrund hinabgesunken war, dennoch war sie, gleichsam durch ein Wunder, für ihn rein erhalten, und vermochte, wenn sie ihm Verzeihung gewähren wollte, noch jetzt die Seine zu werden. Das Leiden, für das es kein Mitleid geben konnte, hatte ihn endlich so geläutert, daß er ihre Umarmung erwidern durfte. Die Todesangst, die er in letzter Zeit durchgemacht, hatte seinen unwürdigen Stolz getötet. Er stand da, bereit, hervorzutreten und Vergebung zu erflehen von unfreundlichen Gesichtern und zu bitten, daß man ihn nur einmal vor Dahlias Angesicht führe, – daß er sie einmal sehen dürfe.

Er war dahin gekommen, sie mit der Vollkraft einer selbstsüchtigen, aber keineswegs niedrigen Natur zu lieben. Oder vielmehr, er hatte sie immer geliebt, und von seiner Liebe war viel Selbstsucht abgestreift. Es war nicht die höchste Form der Liebe, aber diese Liebe war die höchste Entwicklungsphase, die ihm zu Gebote stand. Er hatte gehört, daß Dahlia, nachdem sie für ihn verloren gewesen, jetzt frei war. Etwas wie das todesbange Verlangen, einen Toten zu schauen, der neu zum Leben erwacht ist, ließ es ihm unmöglich erscheinen, fern zu bleiben und in seinen Zweifeln zu verharren. Er war bereit, sich jeder Demütigung zu unterziehen, um noch einmal die wiedererstandenen Züge zu sehen, er war willens, jede Buße auf sich zu nehmen. In dem zuversichtlichen Glauben, Vergebung zu erlangen, wußte er, daß Dahlias Herz ihm entgegenschlagen, nach ihm verlangen würde, und so war er gekommen.

Von den wunderbaren Fügungen, welche ihn, Major Waring und Mrs. Boulby nach dem Hofe gebracht hatten, erzählte diese erregte Frau soeben an Mrs. Sumfit in einem andern Teile des Hauses.

Der Bauer, Percy und Robert saßen im Familienwohnzimmer, als, nach Verlauf einiger Zeit, William Fleming mit lauter Stimme sagte: »Kommen Sie herein, Herr!« und Edward zu ihnen trat.

Rhoda war oben und suchte Eintritt zu ihrer Schwester zu erlangen, sie hörte ihren Vater jenen Willkommensgruß aussprechen. Ihre Glieder erstarrten, denn immer noch haßte sie den Übeltäter. Ihr Haß auf ihn war zur Leidenschaft bei ihr geworden. Sie beugte sich über das Treppengeländer und horchte auf eine leise, gedehnt sprechende Stimme, die eintönig und ohne Veränderung in dem Zimmer, in welchem sich die Männer befanden, immer dasselbe zu wiederholen schien. Worte vermochte man nicht zu unterscheiden. Nachdem sie Dahlia dreimal gerufen hatte, ohne eine Antwort zu erhalten, horchte sie aufs neue, und in ihre Seele schlich ein Schauer, denn wie sehr sie ihn auch verabscheute, sie vermochte sich dennoch seiner Macht nicht zu entziehen; sie begriff etwas von dem Ernst, welcher den Missetäter zwang, seinen Mitmenschen von seinem Unrecht, seiner Scham, seinen Gewissensbissen zu sprechen, ruhig und geradezu wie einer, der mitten in einem Flammenmeer gestanden hat, gegen geringere Schmerzen unempfindlich geworden ist. Die Stimme verstummte. Da wurde sie sich dessen bewußt, daß sie einen Zauber auf sie ausgeübt habe. Die Stimmen, welche auf sie folgten, klangen farblos.

»Hat er wohl – kann er wohl in Worten seine ganze schändliche Erbärmlichkeit eingestanden haben?« dachte sie, und die Größe seiner Vergehungen warf in ihrer Seele einen Schimmer von Glanz auf seinen Mut, bei dem bloßen Gedanken, er könne das getan haben. In dem Gefühl, daß Dahlia gerettet sei und fortan die Freiheit besitze, ihn zu verachten und zu quälen, erkannte Rhoda um so bereitwilliger an, daß ihn vielleicht wahre Liebe zu ihrer Schwester beseele. Von der Höhe einer Möglichkeit zur Rache herab, war ihr solches erkennbar.

Sie wandte sich zu der Tür ihrer Schwester zurück und klopfte, indem sie rief: »Gerettet! Gerettet!« aber es kam keine Antwort, und sie empfand etwas wie Freude darüber, denn es hatte sie die Furcht beschlichen, rein irdische Liebe könne in dem raschen Umschwung der Gefühle ihrer Schwester gleich himmlischer Barmherzigkeit handeln, und Edward könne allzu bereitwillige und rückhaltlose Vergebung finden.

In dem kleinen, lavendelduftenden Fremdenzimmerchen gab Mrs. Boulby Mrs. Sumfit und dem armen, alten, schlaftrunkenen Anton einen Bericht von der wunderbaren Entdeckung von Sedgetts Bosheit, die alles, was irgend vom Himmel zu hoffen war, gerechtfertigt hatte, zum besten, dem sich eine Erzählung von dem Messerstich, den ihr Junge bekommen, und von Roberts Großmut und Heldenhaftigkeit anschloß. Rhoda hörte ihr eine Zeitlang zu, dann ging sie wieder an die Tür von ihrer Schwester Zimmer; als sie wieder an der Küchentür vorbeikam, war dort alles still.

Für William Fleming war es in der Tat nicht schwer, seine Ansicht über die Bedeutung der Umstände ebenso rasch zu ändern, wie sich diese Umstände selbst geändert hatten, dennoch war es sehr bitter für ihn, Edward an dem Platze zu sehen, den Sedgett eben noch eingenommen hatte. Ihm lähme die vollständige Umwälzung aller Angelegenheiten in seinem Hause die Zunge, und nur die Achtung, welche ihm das ganze Auftreten Major Warings einflößte, hatte ihn von der Billigkeit überzeugt, einem unbekannten jungen Herrn, auf den er mit Recht zürnte, Gehör zu schenken. Er hatte Edwards Auseinandersetzungen angehört, ohne irgend etwas anders davon zu verstehen, als die Tatsache, daß sein Verhalten ein höchst außergewöhnliches sei. Er begriff, daß jedes von Seiten Edwards mit so eigentümlicher und tiefernster Offenheit gemachte Eingeständnis ihn von Rechts wegen einer Bestrafung hätte überliefern müssen, wie es andrerseits des Missetäters wunderlich aufrichtige und monotone Selbstanklage unmöglich erscheinen ließ, sie über ihn zu verhängen. Er wußte auch, daß ihm da eine ganze Geschichte erzählt werde, und daß die beiden andern Zuhörer, obschon sie dieselbe offenbar durchaus nicht billigten, von ihm erwarteten, er solle dem Sprecher eine gewisse Nachsicht erweisen.

Einmal sagte er: »Robert, sei'n Sie so gut, und sehen Sie sich draußen 'mal nach dem andern um!« Robert antwortete ihm, der Mann sei inzwischen schon weit fort.

Der Bauer warf eine Andeutung hin, er könne doch auch demnächst ein Wort dazu zu äußern haben.

»Verstehen Sie denn nicht, daß Sie sich mit einem Schurken eingelassen haben, Herr?« rief Robert. »Sowie das Gelichter eine Ahnung davon kriegt, daß man sie zu durchschauen beginnt, – fort sind sie, hast du nicht gesehen! Mr. Fleming, ich beschwöre Sie bei Ihrer Ehre, kein Wort mehr von dem Kerl! Alles, was man jetzt von Ihnen verlangt, ist, jeden Gedanken an ihn zu begraben!«

»Er hat meine Tochter wieder ehrlich gemacht, als sie in Schande geraten war,« erwiderte der Bauer.

Das war die Vorstellung, die sich seinem Verständnis unumstößlich eingeprägt hatte.

Für Edward war es schlimmer, solches anzuhören, als mit Ruten gegeißelt zu werden. Er ertrug es, indem er die letzte Spur aufwallenden Stolzes unter die Füße zwang und sich mit der müden Hoffnung zu trösten suchte, daß er bald die Hand der ihm Verlorenen, der Geliebten, die ja doch im Hause war und die gleiche Luft mit ihm atmete, würde drücken dürfen; vielleicht war sie in dem Zimmer über ihm, vielleicht saß sie da und preßte ungeduldig die Hände zusammen, auf ein Zeichen harrend, um sie zu öffnen und sie ihm entgegenzustrecken. Er konnte sich die feuchte Berührung ihrer Finger, in denen die Erwartung noch nachzitterte, den ersterbenden Blick ihrer nach Leben dürstenden Augen, ach – und die Hilflosigkeit ihrer Glieder, wie sie dasaß, und ihr das Herz in seliger Wonne fast stillstand – so genau vorstellen!

Es war ihm unbekannt, wie furchtbar das grenzenlose Elend, durch das sie gegangen, sie gefährdet hatte, und das Bild von ihr, das seine Phantasie heraufzubeschwören vermochte, war das eines sanftmütigen, wenn auch sorgenvollen Antlitzes, einer bekümmerten Seele, die aber die Hoffnung nicht sinken ließ, weil man sie gebeten, zu hoffen und die voller Zuversicht auf eine Rettung vertraut, welche ganz plötzlich, ganz unerwartet herannaht, um alle Schatten völlig zu zerstreuen.

Augenscheinlich hatte er – nach dem bleichen, ernsten Ausdruck seines Gesichts zu urteilen – heftigen und verzehrenden Gram durchkostet. Roberts Herz wurde weich, als er die Veränderung in Edwards Erscheinung wahrnahm.

»Ich glaube, Mr. Blancove, auch mich trifft in dieser Sache ein Tadel. Vielleicht waren Sie, als ich Ihnen in Fairly so heftig gegenübertrat, der Meinung, daß ich in Dahlias Auftrag handelte, und das mag Sie eine Zeitlang gegen sie aufgebracht haben. Ich würde das ganz gut verstehen können.«

Edward sann einen Augenblick nach und neigte alsbald dieser Mutmaßung zu; denn unter diesem Dach, in unmittelbarer Nähe der Frau, die er liebte, erschien es ihm vollkommen unfaßlich, daß der Wunsch, mit Dahlia zu brechen und die zu diesem Zweck von ihm ergriffenen oder doch gebilligten Maßnahmen seiner eignen, durch nichts unterstützten, zeitweiligen Erbärmlichkeit entsprungen sein sollten.

Nun sprach Robert mit dem Bauern.

Rhoda konnte seine Worte hören. Es befiel sie eine plötzliche Angst, daß Dahlia sie ebenfalls hören könne, so warm trat er für Edward ein.

»Aber warum denke ich denn immer so anders, wie Robert?« fragte sie sich, und mit dieser Entschuldigung für eine Änderung ihrer Ansicht, die sie einräumte, begann das Eis ihres Herzens zu schmelzen.

Sie horchte gespannt auf ihres Vaters Entgegnung, sie blieb lange aus. Sie empfand, daß er nicht überzeugt war. Aber plötzlich wurde die Tür geöffnet, und der Pächter rief in die Dunkelheit hinaus:

»Dahlia soll herunterkommen!«

Wenn Rhoda bis hierher ohne eine bestimmte Empfindung den Vorgängen gelauscht hatte, so durchzuckte jetzt eine jähe Bewegung ihre Brust, eine Bewegung der Freude. Sie lief nach oben, klopfte und wunderte sich selbst, als sie ihre eigne Stimme rufen hörte: »Er ist hier – Edward!«

Aber es kam keine Antwort.

»Edward ist hier! Komm, komm, sieh ihn doch!«

Noch immer nicht die leiseste Erwiderung.

»Dahlia! Dahlia!«

Es schien, als rolle der Klang von Dahlias Namen endlos weiter.

Rhoda kniete nieder, legte den Mund an die Tür und sagte:

»Mein Liebling, ich weiß, daß du mir Antwort geben wirst. Ich weiß, daß du nie an dem zweifelst, was ich dir sage. Hör' mich doch! Du sollst herunterkommen, hin zum Glück.«

Die Stille legte sich schwer auf sie, und dann jagte eine plötzliche Angst durch ihre Seele.

»Vater!« hallte ihr Schrei durchs Haus.

Der Vater kam, dann kam auch der Liebende, und weder auf des Vaters noch auf ihres Liebhabers Rufen kam von Seiten Dahlias ein Wort der Erwiderung.

Man fand sie neben dem Bett am Boden liegen, scheinbar leblos, bleich wie eine Braut des Todes.

Doch fürchtet nichts, ihr, die ihr durch all ihre Trübsal um sie gebangt habt, fürchtet nichts für dieses zärtliche Herz! Das Schlimmste war nahe, aber es war nicht da.


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