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Kapitel XXXIX. Dahlia geht nach Hause

Spät am Nachmittag finden wir Bauer Fleming in einem Stuhl in Roberts Wohnung sitzen, wo er seit zwölf Uhr gesessen hatte, ohne ein Glied zu regen, ja, ohne zu denken, und ganz allein. Nichts deutete darauf hin, daß er die Ankunft von irgend jemand erwarte. Stumm und widerstandslos, wie ein gefällter Baum und fast ebenso unempfindlich wie ein solcher, mit halbgeschlossenen Augen und auseinander gespreizten Händen, so hielt die große Gestalt des alten Mannes die gleiche Haltung aufrechten Zusammengebrochenseins durch lange, sonnige Stunden hindurch inne, umtost von dem Lärm der Londoner Vorstadt. Daß die Hochzeitsleute eigentümlich spät waren, ging achtlos an ihm vorüber. Als die Tür aufging und Rhoda ins Zimmer trat, war es ihm nicht bewußt, daß er gewartet habe, er wußte nichts weiter, als daß sich die Stunden irgendwie, gleich einer schweren Last, auf ihn gelegt hätten.

»Sie kommt, Vater, Robert bringt sie herauf,« sagte Rhoda.

»Laß sie kommen,« antwortete er.

Robert hielt Dahlias Arm mit festem Griff, als sie durch die Tür traten, und dann stand der Bauer auf. Robert schloß die Tür.

Während einiger qualvoller Augenblicke vermochte der Bauer nicht zu sprechen, und seine Hand streckte sich wie abweisend aus. Die Rückkehr menschlichen Empfindens in sein Herz machte seinen Ausdruck härter, als es seinem Gefühl entsprach, aber es galt, sich einer furchtbaren Frage zu entledigen, ehe er dem immer stärker werdenden Verlangen nachgeben durfte, seine Tochter an seine Brust zu ziehen. Endlich kam sie: wie ein kurzer Trommelwirbel klangen die Worte, die er hervorstieß:

»Kommt sie als eine ehrbare Frau?«

»Ja,« sagte Rhoda.

Der Bauer blickte zu Robert hinüber.

Robert gab die gleiche Antwort, er murmelte sie nur leise, aber sein Blick war ruhig und fest.

Da wandte sich sein Blick Dahlia zu, und ein Nebel von Zärtlichkeit verdunkelte ihm die Augen. Er warf den Kopf zurück, und mit einem erstickten kindischen Schrei stieß er hervor: »Komm!«

Robert legte Dahlia an ihres Vaters Brust.

Er selbst trat ans Fenster zu Rhoda, flüsterte ihr zu und sie antwortete, und doch wußten beide nicht, was sie sagten. Die vereinigten Seufzer von Vater und Tochter – das unaussprechliche Zusammenklingen eines solchen Vereintseins – tönte ihnen im Ohr. Der Gram hielt sie ebenso sehr den beiden fern, wie die Freude. In den beiden Herzen von Vater und Tochter war weder Gram noch Freude, nichts, als die undefinierbare Befriedigung bitteren, unendlich bitteren menschlichen Verlangens.

Der alte Mann gab sie frei, und Rhoda löste ihre Hände von seinem Nacken und führte das arme Opfer in ein anstoßendes Zimmer.

»Wo ist – –?« fragte Mr. Fleming.

Robert verstand ihn.

»Ihr Mann kommt nicht.«

Der Bauer legte sich diese Tatsache als Stolz von Seiten ihres Mannes aus. Oder vielleicht hatte der Mann, der ihr Gatte war, sie endlich ehrlich gemacht, und sie dann, trotz allem, wozu man ihn gezwungen, von sich gestoßen.

»Man täuscht mich nicht, Robert?«

»Nein, Herr, bei meiner Seelen Seligkeit!«

»Ich habe das hier,« der Bauer schlug auf seine Brusttasche.

Rhoda kam zurück. »Dahlia ist erschöpft,« sagte sie. »Sie wird mit Dir nach Hause fahren, für – – – ich hoffe, für lange.«

»Um so besser, solange wir noch ein ›Zu Hause‹ haben. Wir haben keine Zeit zu verlieren, Mädchen. Gammon muß schon auf dem Wege zum Bahnhof sein. Er wird warten. Bis Mitternacht wird er warten. Auf einen langsamen Menschen wie Gammon kann man immer rechnen, wo es sich ums Warten handelt. Robert kommt mit?«

»Vater, wir haben allerlei Geschäftliches zu erledigen. Robert überläßt mir seine Wohnung auf kurze Zeit, seine Hauswirtin ist eine nette Frau und wird für mich sorgen. Du vertraust mich Robert wohl an.«

»Ich will Rhoda Montagabend zurückbringen,« sagte Robert zum Bauern. »Sie dürfen mir vertrauen, Mr. Fleming.«

»Das weiß ich. Dessen bin ich ganz sicher. Das steht fest,« sagte der Farmer. »Ich würde sie Ihnen für immer anvertrauen, wenn des Mädchens Herz sich Ihnen für immer zuwenden wollte, Robert. Es scheint so,« er hielt einen Augenblick inne, »es scheint so, Robert, als wenn auf jedem von uns seine Last läge. Irgendwas gibt's noch zu tun? Na, wenn ich nur mein eigen Fleisch und Blut habe und niemand auf sie schimpfen kann, was soll ich denn noch viel nach dem ›Was‹ und ›Warum‹ fragen. Ich beuge mein Haupt, und Gott verzeih' mir, wenn ich jemals gemurrt habe. Und Rhoda wollen Sie bestimmt am Montag zurückbringen?«

»Ja, und ich will versuchen, ob wir den Hof nicht noch wieder in Ordnung bringen können, wenn Gammon besorgen will, was da zu tun ist.«

»Der arme alte Mas' Gammon! Er 's 'n braver alter Mann. Hat ihn das Unglück anders gemacht, Robert? Er 's 'n wunderliches Geheimnis, der alte Mann! Denken Sie 'n bißchen an Gammons Treue, Robert.«

»Ja, in dem Punkt ist er den meisten Menschen überlegen,« gab Robert zu.

»Laß Dahlia 'n Hut aufkriegen! flink!« kommandierte der Bauer. Nun er sich weiter an die sonstige Beobachtung der Dinge zu gewöhnen begann, drängte es sich ihm auf, daß die Gesichter und Stimmen um ihn her anders waren, als wie sonst an gewöhnlichen Tagen. »Mir scheint, wir haben alle 'n huschen von Mas' Gammons Langsamkeit an uns.«

»Vater,« sagte Rhoda, »sie ist schwach. Sie ist sehr angegriffen gewesen. Beunruhige Sie nicht durch irgendwelche Fragen. Sorg' dafür, daß man ihr zu Hause keinerlei Fragen stellt. Jedes Sprechen greift sie an, es kann ihr gefährlich werden.«

Der Bauer starrte sie an. »Ja, ja, und das mit ihrem Haar – nun fällt's mir wieder ein. Sie trägt 'ne Kappe und ihr Haar 's abgeschnitten wie bei 'n Zuchthäusler. Da kriegen die Nachbarn ja gleich noch mehr zu reden.«

»Die verrückte Gesellschaft! Was fragen die nach der Wahrheit?« stieß Rhoda in der ihr eignen leidenschaftlichen Art heraus. »Wir sagen die Wahrheit, nichts als die Wahrheit. Sie hat ein Nervenfieber gehabt. Das hat sie so sehr geschwächt, und alle zu Hause müssen recht still sein. Vater, zieh den Verkauf des Hofes zurück, Robert wird es alles in Ordnung bringen. Er hat versprochen, unser Freund zu sein, und Dahlias Gesundheit wird sich da wieder kräftigen, und sie wird in der Nähe von Mutters Grab sein.«

Der Bauer erwiderte, wie aus weiter Ferne her: »Ich hab' Geld genug in der Tasche, um die Rückfahrt für zwei zu bezahlen.«

Er fuhr fort: »Aber ich hab' nicht Geld genug, um unsere Familie noch eine Woche länger durchzufüttern, ich muß es dem Herrn überlassen. Ich säe, ich grabe, und ich säe, – und wenn wir kein Brot mehr haben, muß das Land drauf gehen; und dann laß es drauf gehen, und macht kein großes Geschrei drum. Mir ist erstaunlich leicht ums Herz, obschon ich, wenn ich verkaufen muß und verkaufe, es nicht werde lassen können, an meinen Vater und an dessen Vater zu denken – vielleicht, ja, wahrscheinlich tüchtigere Leute als ich – denn die konnten zur Blüte bringen, was sie einmal von Geburt an hatten. Sie werden im Grab noch weinen. Eines Menschen Herz hängt doch mal an 'm Land, Robert, das werden Sie auch noch mal einsehen. Ich dachte, ich kehrte mich überhaupt nur an mein Land, bis das arme, schwache, weiße Ding ihre Arme um meinen Hals schlang.«

Rhoda hatte sich wieder von ihnen weggestohlen.

Der Bauer beugte sich zu Roberts Ohr hinab: »Hat sich wohl 'n bißchen mit ihrem Mann gezankt?«

Robert räusperte sich: »Ja, so ist's,« sagte er.

»Ernstlich? Was?«

»Ja, seh'n Sie, das läßt sich schwer sagen.«

»Und 's nicht ihre Schuld? Nicht meiner Tochter Schuld?«

»Nein, das kann ich Ihnen schwören.«

»Na, dann ist sie in ihre rechte Heimat gekommen. Da wird sie bei ihrer Mutter und bei mir sein. Laß sie 'n Abend beten, un' sie wird immer wissen, sie 's bei ihrer seligen Mutter. Vielleicht wär' den beiden Frauen 'ne kleine Erfrischung ganz angenehm, wenn wir so frei sein dürften, wo wir doch Ihre Gäste sind, aber es muß ganz schnell sein, Robert – oder wollen sie nichts? Essen können sie woll nicht und ich auch nicht.«

Bald darauf führte Mr. Fleming seine Tochter Dahlia aus dem Hause und aus London fort. Das tief betrübte Geschöpf war, wie die Ärzte von ihr sagten, allzu zähe, um dem gewöhnlichen Verlauf der Dinge zu erliegen. Sie konnte gehen und sich aufrecht halten, obschon die Feuerprobe, durch die sie an diesem Tage gegangen war, eine solche war, daß wenige Frauen sie hätten durchmachen können. Das Entsetzen, das auf die von ihr vollbrachte Tat folgen mußte, hatte sie noch nicht realisiert, und augenblicklich empfand sie, wennschon keinen Frieden, so doch die momentane Leidenspause, wie sie eine erledigte Tatsache gewährt.

Robert und Rhoda saßen, bis die Dämmerung herabsank, in verschiedenen Zimmern. Als sie im Zwielicht zu ihm trat, zeigte ihr Antlitz die Verheerung eines Sturmes, der darüber hingebraust war. Sie setzte sich hin, um den Tee zu bereiten und sprach mit wunderbarer Selbstbeherrschung.

»Mr. Fleming erwähnte des Geklatsches in Wrexby,« sagte Robert, »ist es sehr schlimm damit?«

»Nicht schlimmer als in andern Dörfern,« sagte Rhoda, »Sie sind nicht unfreundlich gewesen. Sie haben wohl über uns gesprochen, aber in keiner unfreundlichen Art und Weise – ich meine nicht irgendwie gehässig.«

»Und Sie vergeben ihnen?«

»Gewiß. Sie können uns jetzt nichts anhaben.«

Robert rang danach, klares Verständnis für ihren Charakter zu gewinnen.

»Was sollen wir nun beschließen, Rhoda?«

»Ich muß das Geld haben, das diesem Mann versprochen worden ist.«

»Obschon er sein Weib an der Kirchtür verstoßen hat?«

»Um des Geldes willen hat er meine Schwester geheiratet. Das hat er gesagt. O! das hat er gesagt. Er soll nicht sagen, wir hätten ihn betrogen. Ich hab' ihm gesagt, er solle das Geld haben. Er hat sie um des Geldes willen geheiratet.«

»Das hätten Sie ihm nicht sagen dürfen, Rhoda.«

»Ich hab' es getan, und ich will nicht wortbrüchig werden.«

»Verzeihen Sie, wenn ich Sie frage, woher Sie das Geld nehmen wollen? Es ist eine bedeutende Summe.«

»Ich werde es bekommen,« sagte Rhoda bestimmt.

»Durch den Verkauf des Hofes?«

»Nein, denn ich will Vater nicht unglücklich machen.«

»Aber der Mann ist ein Schuft. Ich kenne ihn. Ich hab' ihn schon Jahre lang gekannt. Meine Furcht ist die, daß er Ansprüche auf seine Frau erheben wird. Wie konnte ich nur. niemals darauf bestehen, den Mann vorher zu sehen? Ich habe daran gedacht, ich wollte danach fragen, aber ich dachte, – ach, Gott, was hab' ich nicht alles gedacht! Daß Sie es nicht wünschten, und daß er vielleicht sehr befangen sei. Gott im Himmel! Was für Unglück doch daraus entsteht, wenn man den Dingen nicht gerade ins Gesicht sieht! Wir können nicht leugnen, daß sie jetzt seine Frau ist.«

»Nicht, wenn wir ihm das Geld geben.«

Rhoda sprach von »dem Geld«, als ob sie glühendes Metall in den Mund nähme.

»Dafür ist wenig Wahrscheinlichkeit vorhanden,« sagte Robert. »Lassen wir ihn in Ruhe. Haben Sie ihn angesehen, als er mich in der Sakristei erblickte? Jahrelang hat mich der Kerl für seinen tödlichen Feind gehalten, weil ich ihn einmal abgestraft habe. Was für eine Szene! Ich würde eines meiner Glieder, ich würde mein Leben darum geben, Rhoda, wenn ich Ihnen die Szene hätte ersparen können.«

Sie entgegnete: »Hätte nur meine Schwester geschont werden können! Für mich ist es nötig, zu erfahren, wieviel Böses es in der Welt gibt. Unwissenheit ist es, die Mädchen ins Unglück stürzt.«

»Wissen Sie, daß ich ein Trunkenbold bin?«

»Nein.«

»Er hat mich irgend etwas Derartiges genannt, und er hat damit etwas gesagt, was der Wahrheit nahe kommt. Das ist der Stachel. Geben Sie mich dem Ungefähr preis, und ich fange an zu trinken. Was er sagte, war die Wahrheit, und ich vermochte ihm nichts darauf zu entgegnen.«

»Ja, die Wahrheit ist es. immer, die einem wehtut,« sagte Rhoda schaudernd. »Wie können Mädchen wissen, was Männer sind? Ich konnte nicht ahnen, daß Sie irgendwelche Fehler hätten. Dieser Mann hatte etwas so Ehrbares an sich. Er saß so bescheiden im Zimmer, als ich ihn gestern abend sah, – war es wirklich gestern abend? Ich dachte, der ist zwischen Mutter und Schwestern groß geworden! Und er ist freundlich gegen meinen Liebling gewesen – und alles, was wir für Liebe zu ihr gehalten haben, ist nichts gewesen, als – o, es ist schändlich! schändlich!«

Sie preßte die Hände auf die Augen und fuhr fort: »Er soll das Geld haben – er soll es haben. Wir wollen einem solchen Menschen nichts schuldig bleiben. Er hat meine Schwester von einem ebenso schlechten Menschen gerettet, – einem, der es ihm angeboten hat, um von ihr loszukommen. O, die Männer! Haben Sie das gehört? Und nun gibt er vor, er liebe sie. Es kommt mir vor, als müßte das alles ein Traum sein. Wie hätte sie jemals glücklich auf dies verhaßte Gesicht sehen können!«

»Er gilt im ganzen für hübsch,« sagte Robert und staunte, daß Rhoda Sedgett auch nur einen Augenblick hatte ansehen können, ohne seine niederträchtige Art zu erkennen. »Ich möchte nicht, daß Sie irgend etwas bereuten, Rhoda, was Sie getan haben oder noch tun wollen. Aber ich muß Ihnen sagen, was mich aufschreien ließ, als ich jenen Mann sah und erfuhr, daß er Dahlias Mann werden sollte: Er wird eine stete Qual für sie sein. Das Temperament, die Lebensgewohnheiten dieses Mannes, – Gott, Sie mögen wohl sagen, Sie kennen uns Männer nicht. Ich wollte, Sie lernten uns auch nicht kennen! Um was ich Sie von ganzem Herzen anflehen möchte, ist – ein Versteck für Ihre Schwester zu suchen. Nur lassen Sie ihn sie niemals mit fortführen! Es gibt auf Erden etwas wie eine Hölle. Wenn sie mit ihm fortgeht, wird sie das erfahren. Seine Wut wird nicht anhalten. Er wird kommen und seine Ansprüche auf sie geltend machen.«

»Er soll Geld haben.« Mehr sagte Rhoda nicht.

Auf einem Seitentische im Zimmer stand unter einem darüber gebreiteten Schal ein umfangreiches Etwas. Robert hob den Schal auf und erblickte zwei hölzerne Kasten, einen auf den andern gesetzt, welche Master Gammons und Mrs. Sumfits Konkurrenz-Ersparnisse enthielten, die sie Dahlia in dem Glauben, ihr Mann befinde sich in einer Geld-Kalamität, die ihr stolzes Herz ihren alten Freunden vorenthalten wolle – zum Geschenk gemacht hatten. Der Bauer hatte die Kasten mitgebracht und sie da stehen lassen, ohne weiter an sie zu denken.

»Mir scheint,« sagte Robert, »wir könnten diese öffnen.«

»Vielleicht sind sie doch eine kleine Hilfe,« sagte Rhoda.

»Eine sehr kleine,« dachte Robert; aber um den Druck, der von dem Gegenstand, über den sie gerade sprachen, ausging, ein wenig zu erleichtern, machte er sich augenblicklich daran, Werkzeuge herbeizuschaffen, mit deren Hilfe er zunächst den Kasten öffnete, der sich als der Mrs. Sumfits erwies, denn er enthielt, neben sechs Goldstücken und viel Silber- und Kupfergeld einen Streifen Papier, auf welchem in einer Handschrift, die Rhoda als die dieser liebevollen Frau eigentümliche erkannte, die Worte standen:

» Und die zärtlichsten Grüße für ihre Heißgeliebte

Die Summe betrug alles in allem neun Pfund, drei Schilling und einen Heller.

»Nun zu Master Gammon – er 's schwer,« sagte Robert, und er beförderte die Ersparnisse dieses anspruchslosen Veteranen ans Tageslicht. Auch Master Gammon hatte ein Begleitwort hinzugefügt. Sie entdeckten es auf dem leeren Rand eines Stückchens Zeitungspapier, und es machte ein wenig den Eindruck, als hätte sich ein fetter Regenwurm in ein Tintenfaß gestürzt und wäre in seinem literarischen Delirium unsicher an dem Rande des Papiers entlang geschwankt. Mit Mühe entzifferten sie:

» Kompelment

Robert rief: »Bravo, Gammon!« und überzählte den Schatz. Er bestand nur aus Kupfermünzen, spartanisch und streng, und belief sich auf eine Summe von einem Pfund und siebzehn Schilling. Eine Anzahl Heller aus der Zeit der Königin Anna waren noch dabei, von denen Robert annahm, daß sie vielleicht einen gewissen Wert haben möchten. »So daß sich einstweilen noch nicht sagen läßt, wer von beiden den Sieg davon trägt,« bemerkte er. In Rhodas Augen standen Tränen.

»Bitte, seien Sie recht gut mit ihm, wenn Sie ihn sehen,« flüsterte sie. Die geringere Gabe hatte ihr Herz noch stärker berührt.

»Gut mit dem alten Mann!« Robert lachte leise und wickelte die beiden Schätze in getrennte Papiere, welche er zuband und in einen der Kästen legte. »Dieser ganze Betrag zusammengenommen reicht nicht eben weit, Rhoda.«

»Nein,« sagte sie, »ich hoffe, wir werden ihn nicht anzugreifen brauchen.« Und dann brach es aus ihr heraus: »Diese lieben, guten, anspruchslosen Freunde! Die Armen sind Gottes Kinder im besonderen. Das hat Christus gesagt. Dies ist gutes, gesegnetes Geld!« Rhodas Wangen färbten sich mit dem ihnen eigenen tiefen, gesunden Braunrot, und in ihre dunklen Augen trat die Begeisterung einer warmen Freude. »Sie sind für allezeit meine Freunde. Sie bewahren mich vor gotteslästerlichen Gedanken. Sie sind mir eine solche Hilfe, als hätte Gott mein Gebet erhört. Diese armen Heller! und wo der arme Mann doch nicht weiß, wo er seine Tage beschließen mag! Er gibt sein Alles, – er muß wirklich ein echtes Vertrauen in die Vorsehung setzen! Möchte es ihm tausendfältig vergolten werden! Solange ich noch Kräfte zum Arbeiten haben werde, will ich das Brot, das ich verdiene, mit ihm teilen. Alter Mann! Alter Mann! ich hab' dich lieb – o, wie ich dich lieb hab'! Du errettest mich, wie aus einem tiefen Abgrund. O, du guter, lieber alter Mann, möchte mir Gott, wenn er mich vor dir von hinnen nehmen sollte, die Macht verleihen, für dich bei ihm einzutreten, wenn du irgend gesündigt hast. Es ist doch nicht jeder Mensch auf der Welt schlecht! Einige gibt's doch noch, die die Wege gehen, welche die Bibel vorschreibt. Dir schulde ich mehr, als ich je abtragen kann!«

Sie schluchzte, aber sie versicherte Robert, es geschehe nicht aus Kummer. Er vermochte mit seinem Verlangen, sie in seine Arme zu ziehen und in seiner Gewissenhaftigkeit, die Pflichten seines Beschützerpostens nach keiner Seite hin zu verletzen, nichts weiter zu tun, als dabei zu sitzen und darüber nachzusinnen, wie eigenartig sie doch sei, ein Mädchen, gleich den Gestalten der Bibel, mit hebräischer Strenge der Grundsätze und hebräischer Begeisterungsfähigkeit der Seele, dazu schön, gleich den dunklen Weibern des Orients. Er gestand sich selbst ein, wie er es niemals auf sein Gewissen geladen haben könnte, den strauchelnden Willen eines Nebenmenschen zu vergewaltigen, wie Rhoda es ohne Zögern mit Dahlia getan hatte, ihre Entschlüsse zu erzwingen und alle daraus erfolgende Verantwortlichkeit auf sich zu laden. Für sie gab es kein Zusammenbrechen mit einem Aufschrei, kein Versagen der Kraft, wie plötzlich auch das Entsetzen jener Entdeckung in der Sakristei über sie hereinbrechen mochte. Als Rhoda erkannte, daß die Hand, in welche sie in verhängnisvoller Weise die ihrer Schwester gelegt, nicht die eines Mannes, sondern vielmehr die eines Ungeheuers war, stand sie da und rang um die Sicherheit, sofort den ratsamsten Weg einzuschlagen; sie hatte – so schien es Robert – weniger von einem Weibe an sich, als von einem Wesen, das geboren war, um im Schlachtgewühl seinen Mann zu stehen. Und noch jetzt schien sie unverzagt, mit Leib und Seele ihren Plan zu verfolgen, ja, sie vermochte zu weinen, ohne Gefahr zu laufen, ihre Selbstbeherrschung darüber einzubüßen. Etwas von der ritterlichen Zurückhaltung, die er den Regungen seines Herzens antat, entsprang jener unaussprechlichen Ehrfurcht, welche ihn ihr gegenüber beseelte. Und dies Gefühl war es auch, das ihn blindlings ihrer Klugheit und ihrer Entscheidung für das, was recht war und was geschehen mußte, vertrauen ließ.

»Sie versprachen ihm dies Geld,« sagte er, während es ihm halb und halb unmöglich vorkam.

»Für Montag,« sagte Rhoda.

»Es gilt Ihrerseits, ein Versprechen von ihm zu erlangen.«

Sie antwortete: »Warum? wo er es doch jeden Augenblick brechen könnte, wenn es ihm angebracht schiene; ein Versprechen würde ihn nur dazu reizen. Er liebt sie ja nicht.«

»Nein, er liebt sie nicht,« sagte Robert und überlegte, ob es möglich sei, ihrem unschuldigen Sinn eine Idee von dem Charakter der Männer beizubringen.

»Er hat sie verstoßen. Dem Himmel sei Dank dafür! Ich wäre zu hart, allzu hart bestraft worden. Er hat sie von der Gefahr errettet, den Versuchungen zum Opfer zu fallen. Dafür soll er bezahlt werden. Sie von einem solchen Manne fortgeführt zu sehen! O!« Sie schauderte, als gewahre sie einen fürchterlichen Abgrund.

Aber Robert sagte: »Ich kenne ihn, Rhoda. Das war eine Aufwallung. Die wird vierundzwanzig Stunden währen, und nach deren Ablauf werden wir all unsere Kraft und unsern Scharfsinn zusammennehmen müssen. Liebe Rhoda, das wäre Dahlias Tod! Sie haben den Mann in seiner wahren Gestalt gesehen. Lassen Sie sich das zur Warnung dienen. Sie gehört ihm. Das ist Gesetz, göttliches und menschliches.«

»Doch nicht, wenn er sie von sich gestoßen hat, Robert?« rief Rhoda verzweiflungsvoll.

»Lassen Sie uns diesen Vorteil uns zunutze machen. Er hat sie von sich gestoßen und hat das schwärzeste höllische Komplott enthüllt, von dem ich je im Leben gehört. Er ist nicht der schlimmste Sünder, ein so großer Schurke er auch ist. Das arme Ding! Die arme Seele! ein hartes Los, das der Frauen in dieser Welt! Rhoda, ich hoffe, ich darf morgen früh mit Ihnen frühstücken? Ich höre Major Warings Klopfen unten. Ich muß durchaus mit einem Manne sprechen.«

»Ja, bitte, kommen Sie, Robert,« sagte Rhoda und reichte ihm die Hand. Er versuchte zur Klarheit darüber zu gelangen, wie es nur kam, daß ihm in diesem Augenblick ihre Hand lediglich eine Hand, nichts weiter, war, – er drückte die kalten Finger und verließ sie.


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