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Kapitel XL. Eine Laune des Dämons des Geldes, die vorauszusehen war

Solange wir nicht wissen, daß wir irgendein besonderes Unternehmen wagen, vermögen wir auf der schmalsten Planke zwischen zwei Abgründen mit vollkommenster Sicherheit dahinzuschreiten, aber in dem Moment, wo wir unserm Bewußtsein erlauben, einen Blick in die gähnende Tiefe unter uns zu tun, beginnt die Gefahr für uns, und in dem Augenblick, wo wir dem verräterischen Gedanken Raum geben, daß jemand anders in unserer Lage wahrscheinlich kopfüber hinabstürzen würde, liegt für uns selbst die furchtbare Angst nahe, das Gleichgewicht zu verlieren. Anton Hackbutt von Boynes Bank hatte sich seit kurzem einem solchen verhängnisvollen Vergleiche-Ziehen hingegeben. Die Stunde, wo ihm Gold anvertraut wurde, fand ihn fieberisch und nervös erregt. Er fragte sich, ob er denn eine bloße Maschine sei, um Gold von einem Platz zum andern zu befördern, und er zuckte verächtlich die Achseln zu der geringen Wertung, die man der Ehrlichkeit in diesem Leben angedeihen läßt. Wo vermochte Boynes Bank einen so ehrlichen Mann zu entdecken, wie ihn? Und weil er ehrlich war, war er arm. Die Betrachtung, daß wir, einzig und allein, imstande sind, etwas Unerhörtes zu tun, vermag uns zuweilen mit außergewöhnlicher Kraft zu beseelen, doch wird solches großenteils von den sittlichen Anfechtungen abhängen, in denen unser bisheriges Leben uns bewährt gefunden hat. Es ist unter allen Umständen eine Versuchung, etwas, was wir vollbringen, in diesem Lichte zu betrachten. Und da eine solche Versuchung aus unserm eignen Innern herauskommt, ist sie kurzweg ein Beweis innerer Verderbnis. Anton hatte sich daran gewöhnt, während seiner Gänge zu sagen: »Wenn ich jetzt einen Schritt zur Rechten oder zur Linken machte,« und hatte er das ihm anvertraute Gut abgeliefert, so pflegte er sich in einer Empfindung verzweifelten Hochgefühls seiner aufs neue erwiesenen Zuverlässigkeit gegenüber, den Schweiß von der Stirn zu trocknen.

Er hatte dies nun schon jahrelang getan. Und was wußten die Leute auf der Straße von ihm? In früheren Zeiten hatte er auf die Leute auf der Straße und ihre Ansichten mit einer Art frohlockender Verächtlichkeit herabgesehen, aber er gab sich nicht mehr süßen Berechnungen über seine Ersparnisse und seine Glückschancen und seine Beziehungen zu einer bedeutenden Bank hin. Die Tugend war aus seinem Innern entwichen. Trotzdem dürstete ihn nicht im geringsten nach anderer Leute Geld, noch hing er besonderen Vorstellungen von irgendwelchen Hochgenüssen nach, die er sich durch Geld, das nicht sein eigen war, verschaffen könne. Die Einbildungskraft allein war es, die den alten Mann auf Abwege führte. Ein fleckenloser Ruf ist schon oft in dem Dienst der Tugend erworben worden, und keusche, schöne Menschenkinder sind unter dem Neid und der Bewunderung anderer auf der schmalen Planke entlang geschritten, gelegentlich ins Schwanken geraten und nur mit genauer Not dem Sturz entgangen, oder sie sind gestürzt aus keiner schlimmeren Ursache, als aus Neugier. Kalte Neugier ist, wie uns scharfe Beobachter der menschlichen Natur lehren, ein trügerisches Laster, welches bei kühlem Blut in die Sünde hineinführt, zu einer Zeit, wo uns die Früchte der Sünde die geringste Befriedigung gewähren. Sie ist in der Tat die letzte Prüfung, die an uns herantritt und eine der letzten Täuschungen, denen wir uns hingeben. Haben wir sie erfolgreich überwunden, so dürfen wir in Wahrheit Anspruch auf einen gewissen Wert erheben. Anton wünschte seiner Neugier in ganz bescheidenem Maße nachzugeben, etwa insoweit, davonzulaufen, hin auf der einen Seite von London Bridge und zurück auf der andern, während er das Geld fest an sich drückte. Zwei Wochen lang dachte er sich in dieses absonderliche Manöver hinein, wie in eine komische und angenehme Abwechslung. Was für ein Gefühl mochte es wohl sein, wenn er die Richtung nach den Hügeln von Surrey einschlüge? Und wie wäre das, wenn bei seiner Rückkehr die Möglichkeit bestände, daß die Bank, zu welcher er das Geld zu tragen hatte, bereits geschlossen wäre? Gesetzt den Fall, er käme eine halbe Minute zu spät, – würde man die Türen wohl, weil man auf sein Kommen rechnete, so viel länger offen halten? Und wenn er das Geld nicht ablieferte, was würde man dann denken? Was würde man in Boynes Bank denken, wenn er am nächsten Morgen zu spät käme?

»Na, Hackbutt, was soll denn das heißen?« – »Ich hab' mich 'n bißchen verspätet, Herr, 'n Morgen!« – »Verspätet? Sie haben sich gestern abend verspätet, was?« – »Ja, sehen Sie, Herr, wie die Beamten in der Bank von Mortimer und Pennycinck nach Geschäftsschluß davonrennen und die Türen hinter sich zuschlagen, als wenn ihr Tag erst um vier Uhr nachmittags anfinge, und das Geschäft bloß 'ne lästige Zugabe wäre, das ist geradezu eine Schande für London! Ich bitte um Verzeihung, daß ich 'n bißchen spät komme, aber da ich die ganze Nacht, aus Angst wegen dieses Geldes, kein Auge habe zutun können, so komm' ich 'n bißchen spät, wie ich gar nicht leugnen will. Als ich bei der Bank ankam, waren die Türen zu. Unsere Uhr geht richtig, das weiß ich ganz bestimmt. Was ich glaube, Herr, das ist, daß die Beamten bei Mortimer und Pennycinck ihre Uhren vorrücken.« – »O, das müssen wir doch mal näher untersuchen!«

Anton stellte sich die ganze possenhafte Szene, wie er dachte, daß sie sich zwischen ihm und Mr. Sequin, dem Aufsichtsbeamten bei Boynes, abspielen könnte, mit einem unbeschreiblichen Genuß dramatisch vor, und das Ende vom Liede war jedesmal, daß sein Ruf äußerster Ehrlichkeit fester gegründet, denn je dastehe, nach welcher heftigen Anstrengung seiner Phantasie der alte Mann mehrere Tage lang in eine Art völliger Lethargie versank. Einmal übernachtete der Bauer in seiner Wohnung und sprach über Geld und davon, daß er den Hof verkaufen müsse, wobei er eine beiläufige Bemerkung fallen ließ, als würde es von Antons Seite nicht mehr als brüderlich sein, wenn er ihn kaufen und erhalten würde, so daß er im Besitz der Familie verbliebe. Des Bauers festgewurzelter Glaube an das Bestehen seiner Schätze war für Anton immer die schlimmste Versuchung. Anton empfand ein Gefühl von Schwindel und war den nächsten Tag kaum imstande, seine Obliegenheiten zu erfüllen. Aber den darauf folgenden Tag war er ruhig und aufmerksam. Man gab ihm zwei Beutel voll Gold zur Besorgung, und er schritt vorsichtig die Stufen des Bankgebäudes hinab, bog um die Straßenecke und ging geradeswegs nach dem Westen, ohne auch nur zu zögern oder einen Gedanken zu Mortimer und Pennycinck zurückzuschicken. In der Tat hatte er keinen einzigen zur Verfügung, den er hätte zurückschicken können. Alle Gedanken kochten in seinem Hirn und umgaben ihn nebelgleich mit einer Art dichter Rauchwolke, durch welche er das Wogen der Stadt und das Sich-Winden der Straßen, gleich Furchen im Wasser, wahrnahm, auch beobachtete, wie die Menschen sich untereinander vermischten, zusammenkamen und sich trennten in einer geradezu Staunen erregenden Weise – ohne daß sich ein einzelnes Gesicht unterscheiden ließ, die ganze dicke Masse machte den Eindruck von Leim, der in einem mächtigen Tiegel durcheinander gerührt wird. Der einzige deutliche Gedanke, den er hatte, entsprang einer Furcht, daß die unehrlichen Kerle versuchen würden, ihm sein Geld zu stehlen, und er drückte es zärtlich an sich und stöhnte über die Schlechtigkeit der Welt, die er ringsum wahrnahm. Wunderbar war auch, daß die Uhren an allen Kirchen den ganzen Weg durch die Hauptstraße, die nach dem Westen führte, an der Stunde hängen blieben, wo die Bankgeschäfte geschlossen wurden! Es dauerte eine ganze Zeitlang oder schien doch jedenfalls eine ganze Zeitlang zu dauern, bis die Minutenzeiger diese Schwierigkeit überwunden hatten. Nachdem sie es getan, rannten sie auf die folgende Stunde mit der wahnsinnigen Hast eines pantomimischen Mechanismusses zu. Ihr Anblick, wie sie plötzlich wieder die volle Stunde zeigten, gleich Schildwachen, die das Gewehr präsentieren, war überwältigend – geradezu zum Lachen! Anton hätte in der Zwischenzeit nicht fünfzigmal mit den Fingern schnippen können, dessen war er ganz sicher, »oder jedenfalls nicht viel öfter«, sagte er. So schloß sich das Geschäftsviertel der Stadt hinter ihm, als legten sich eiserne Querbalken davor.

Dort im Westen ist von der Raublust der Menschen nicht so viel zu befürchten. Da hört man nicht Tag für Tag von solchen entsetzlichen Raubanfällen, da fährt nicht jede Hand dem andern an die Kehle oder in die Tasche, wenigstens nicht vor Einbruch der Dunkelheit, und wenn die Dämmerung käme, hatte sich Anton fest vorgenommen, eiligst seine eigne Wohnung aufzusuchen. Dunkelheit in unbekannten Gegenden hat etwas Entsetzliches, aber bei Tageslicht haben unbekannte Gegenden nicht etwas derart Anklägerisches.

Der Park war dem alten Manne ungeheuer angenehm.

»Ah!« atmete er wohlig, »Landluft!« und ließ sich auf eine Bank nieder. »Wunderlich«, dachte er, »wie klein die Menschen auf ihren Pferden und in ihren Equipagen aussehen! Das ist also die Aristokratie, – ja, ja!« Die Aristokratie schien ihm wunderlich winzig. Er schlug der ganzen Aristokratie ein Schnippchen, aber als er einen Polizisten erblickte, sah er gänzlich verstört aus. Der Polizist war ein Bindeglied mit dem Geschäftsviertel Londons, dem wahren Beherrscher seiner furchterfüllten Seele. Obschon er die Geldbeutel unter dem Arm, in seinem Rock eingeknöpft, hielt, bedurfte es dennoch eines tiefen Nachdenkens seinerseits, um sich wirklich vorzustellen, was er getan hatte, und dann fing der Park um ihn her an, sich im Kreise zu drehen und sich zu winden, gleich den Straßen, und Himmel und Erde schienen einander seltsame Verbeugungen zu machen. Er mußte seine Geldsäcke ganz fest halten, um sie davor zu bewahren, daß sie in entsetzliche Abgründe stürzten. »Ich kann mich doch nicht erinnern, daß ich irgend etwas getrunken hätte,« sagte er, »seit der alte Bauer und ich zusammen nach den Docks gingen. Wie kommt denn das?« Es schien ihm, als taumelte er. Ein Anfall von Entsetzen wollte sich seiner bemächtigen, aber der Gedanke, daß es unklug wäre, sich etwas davon merken zu lassen, bewahrte ihn vor irgendwelcher Äußerung davon, von einem unwillkürlichen, krampfartigen Schmerzenslaut abgesehen. Nachdem dieses verwunden, wurden sein Blick und seine Empfindungen wieder klarer, er saß in einem Halbtraum da und blickte mit ruhiger animalischer Beobachtung auf die Dinge rings umher. Seine Erinnerung an diesen Zustand, nach Verlauf einiger Minuten, war eine angenehme. Das Bedürfnis, sich zu bewegen, brachte ihn indessen wieder auf die Füße, und weiter ging's, immer noch in westlicher Richtung, aus dem Park heraus und auf die Straße. Er trabte in einem guten Tempo dahin. Plötzlich hörte er seinen Namen rufen und warf einen Arm, wie zum Selbstschutz, in die Höhe.

»Onkel Anton, kennst du mich nicht?«

»Wie? Ja, natürlich! Gewiß kenn' ich dich,« antwortete er, indem er unsicher auf Rhoda blickte. »Irgend jemand von euch begegne ich ja immer.«

»Ich war den ganzen Tag unten in der City und versuchte dich zu treffen, Onkel. Nun begegne ich dir – wie leicht hätte ich dich verfehlen können. Das ist eine Fügung des Himmels. Ich habe so zu ihm gebetet.«

Anton murmelte: »Ich hab' mir mal 'n freien Tag gemacht.«

»Hier« – Rhoda wies auf ein Haus – »wohne ich.«

»O!« sagte Anton, »und wie geht es deiner Familie?«

Rhoda bemerkte, daß er sehr zerstreut war. Nach einigem Zureden vermochte sie ihn dazu zu bringen, mit ihr nach oben zu kommen.

»Nur für zwei Minuten,« bedang er sich aus, »ich kann mich nicht erst setzen.«

»Du wirst doch eine Tasse Tee bei mir trinken, Onkel?«

»Nein, ich glaube nicht, daß ich Appetit auf Tee habe.«

»Nicht mit Rhoda?«

»Es ist ein Name aus der Heiligen Schrift,« sagte Anton und kam näher an sie heran. »Hier ist's gemütlich und dunkel, meine Liebe. Wie bist du denn hierher gekommen? Was ist passiert? Du wolltest mich doch nicht überraschen?«

»Ich bin nur für ein bis zwei Tag hier in London, Onkel.«

»Ah! London ist auch 'n böser Ort, ja wahrhaftig. Freilich vielleicht nicht böser als andre Orte auch, darauf könnt' ich wetten. Na, ich muß mich wieder aufmachen. Ich kann mich nicht erst setzen, sag' ich dir. Es ist hier ja auch so dunkel wie in 'n Gefängnis.«

»Laß mich klingeln, daß man Licht bringt, Onkel.«

»Nein, ich gehe schon.«

Sie versuchte ihn festzuhalten, ihn zu einem Stuhl hinzuziehen. Der behende alte Mann entwand sich ihr gewaltsam, und sie mußte sich alle liebevolle Mühe geben, ihn zu beruhigen, bis er sich endlich dazu überreden ließ, sich zu setzen. Das Teegeschirr wurde gebracht, und Rhoda machte Tee und schenkte ihm eine Tasse ein. Anton begann die Ruhe des Zimmers zu genießen. Aber um so ungemütlicher wurden ihm die Geldbeutel, die ihm wie Schlangen vorkamen, die sich an seine Brust schmiegten. Indem er unruhig auf seinem Stuhl hin und her rückte, rief er aus: »Nun? Über was reden wir denn? Man kann doch nicht Tee trinken und nichts dazu reden?«

Rhoda dachte einen Augenblick nach, dann sagte sie: »Onkel, ich glaube, du hast mich immer lieb gehabt.«

Es schien ihm ein Verdienst, daß er sie lieb gehabt haben sollte. Er griff den Gedanken auf.

»Gewiß, Rhoda, das hab' ich auch, liebes Kind! Das hab' ich, und ich hab' dich immer noch lieb!«

»Du hast mich wirklich lieb, mein guter Onkel?«

»Wenn ich mir das so recht überleg', Rhoda – mein Dody, dann glaub' ich, ich hab' eigentlich nie jemand anders lieb gehabt. Ich hab' nie in mein' Leben 'n junges Mädchen lieb gehabt. Als 'n jungen Mann auch nich', mein ich.«

»Sag' mir, Onkel, bist du nicht sehr reich?«

»Nein, das bin ich nich'; sehr reich nich'? überhaupt nich' reich.«

»Du mußt keine Unwahrheiten sagen, Onkel.«

»Tu' ich auch nich',« sagte Anton, aber er sagte es zu eigensinnig, als daß es überzeugend geklungen hätte.«

»Ich habe immer gefühlt, daß du zu sehr am Gelde hingst, Onkel. Was hat denn Geld für einen andern Wert, als daß es einem das Leben behaglich machen, und daß es einem helfen kann, anderen, wenn sie in Not sind, zum Segen zu werden. Verleiht Gott es einem nicht zu dem Zweck? Aber wenn man es nur so aufspeichert, dann wird es einem zum Fluch. Onkel, du hast mich lieb. Ich bin in großer Not, ich brauche Geld.«

Anton strich mit langem Arm über den Wulst unter seinem Rock hin und preßte ihn sicher an sich, dabei verweigerte er hartnäckig jede Erwiderung.

»Lieber Onkel, hör' mich zu Ende! Ich komme zu dir, weil ich weiß, daß du reich bist. Ich war auf dem Weg zu deiner Wohnung, als wir uns begegneten, wir sind einander in die Arme geführt. Du hast mehr Geld, als daß du wüßtest, was du damit anfangen sollst. Ich komme als eine Bettlerin um Geld zu dir. Ich habe niemals zuvor um etwas gebeten, und ich werde auch niemals wieder bitten. Aber jetzt flehe ich dich an: hilf mir! Mein Leben und ein Leben, das mir teurer als mein eignes ist, hängt von dir ab. Willst du mir helfen, Onkel Anton? Ja?«

»Nein!« schrie Anton.

»Ja, ja!«

»Ja, wenn ich es kann. Nein, wenn ich es nicht kann. Und, ich kann nicht, das ist die Sache. Also: ›Nein!‹«

Rhoda entsank der Mut, aber es war nur, als ebbe eine Woge ihrer meeresgleichen Energie zurück.

»Onkel, du mußt!«

Der Friede, welcher im Zimmer herrschte und die Furcht vor der Einsamkeit, nachdem er Gesellschaft gekostet hatte, hielt Anton davon ab, aufzuspringen und davonzurennen.

»Du hast Geld, Onkel. Du bist reich, du mußt mir helfen. Denkst du denn nie daran, wie es sein wird, wenn du ein alter Mann sein wirst, und es ist niemand da, um dich lieb zu haben und dir dankbar zu sein. Warum verschränkst du deine Arme so fest?«

Anton leugnete, daß er seine Arme fest verschränke.

Rhoda zeigte auf seine Arme, um ihn durch den Augenschein zu überzeugen und er sprudelte heraus: »So, das ist es also! weil man denkt, ich hätte 'n büschen was zurückgelegt, da soll ich woll nich' mehr sitzen, wie ich Lust hab'? Das ist wahrhaftig zu toll! Es ist wirklich großartig!«

Rhoda, welche sah, daß er seine Arme nicht löste, vielmehr trotzig in seiner zusammengekauerten Stellung verharrte, beobachtete ihn stumm. Sie fühlte, daß Geld im Zimmer war.

»Laß es nicht zum Fluch für dich werden,« sagte sie, und ihre Stimme war heiser vor Erregung.

»Was?« fragte Anton, »was ist ein Fluch?«

»Das da!«

Wußte sie es denn? Hatte sie es erraten? Ihre Finger legten sich grade auf die Beutel. Hatte sie das Geld gewittert?

»Es wird dir zum Fluch werden, Onkel. Bald kommt der Tod. Was nützt dir dann das Geld? Onkel, nimm die Arme auseinander! Du fürchtest dich. Du wagst es nicht. Du trägst es mit dir herum. Nirgends fühlst du dich sicher. Es frißt dir noch das Herz ab. Sieh mich an, Onkel! Ich habe nichts zu verbergen. Kannst du mir das nachmachen, – so – die Hände ausbreiten? Onkel, Onkel, soll ich mich denn deiner schämen müssen? Da hast du das Geld. Du kannst es nicht leugnen. Und da stehe ich und flehe dich an, mir zu helfen. Wovon haben wir doch gesprochen? Daß wir zusammen in einem Landhaus sitzen wollten, und ich die Blumen besorgen sollte und immer darauf achten, daß du 'ne ganz große Schüssel voll grüner Erbsen hättest! eine ganze Menge, schon im Juni, und du wolltest den Dorfjungens beweisen, was du für 'ne Zunge hättest, wenn sie immer mit ihren Stöcken am Gitter entlang klapperten, und du wolltest deinen Tee trinken mit dem Blick auf eine Wiese und auf den Sonnenuntergang. Onkel! Arme, alte, gute Seele! Du meinst es ja gut. Du mußt auch gut sein. Ein Tag, und es ist zu spät! Du hast das Geld da. Du wirst jede Minute älter bei deiner Anstrengung, mir das Geld zu versagen. Du weißt, daß ich dich glücklich machen kann. Ich habe die Kraft dazu, und den Willen dazu habe ich auch. Hilf mir in meiner großen Not! Dir ist das Geld nur eine Last. Du mußt es mit dir herumschleppen aus lauter Angst. Du siehst wie ein Verbrecher, aus, wenn du so durch die Straßen rennst, weil du vor jedermann Angst hast. Tu Gutes damit. Laß es Geld sein, auf dem ein Segen ruht! Uns wird es von furchtbarem Elend befreien, vom Tode! von Qual und Tod! Denk dir das doch nur, Onkel! Sieh mal, Onkel! Du hast das Geld – und ich brauch' es. Ich flehe den Himmel an, und ich begegne dir, und du hast es. Willst du sagen, daß du dich weigerst, es mir zu geben, wenn ich doch sehe – wenn ich dir doch zeigen kann, daß du mir in den Weg geführt bist, um mir zu helfen? Die Arme weg! Nimm den Arm da weg!«

Anton hielt diesem Ansturm von flehenden Blicken und dunklen Drohungen mit aller äußeren Ruhe stand, bis sie, während sie den Befehl aussprach, den Arm wegzunehmen, ihn gebieterisch berührte, – da sank er, wie gelähmt, herab.

Rhodas Augen waren nicht schön, als sie auf dem in Frage stehenden Gegenstand hafteten. Sie entsprachen dem Charakter ihrer Mission. Sie gab sich mit etwas Bösem ab und hatte den Ausweg gewählt, zu handeln, wie es ihr recht schien und geleitet von ihrem kampflustigen und gewalttätigen Temperament. Bei jedem Schritt mußten neue Hilfstruppen gegen neue Schwierigkeiten ins Feld geführt werden, und Geld – Geld allein war augenblicklich das einzig notwendige Mittel zu ihrem Zweck. Ihre Vorstellungskraft stieß überall an Grenzen, – nur hinsichtlich der Geldfrage sah sie klar, und als das Geld vor ihren Augen offen dalag, schoß ein fürchterlicher Strahl von Gier aus ihnen über dasselbe hin. Ihre Hände gerieten mit denen Antons aneinander in einem gemeinsamen Griff nach den Geldbeuteln.

»Es ist nicht meins!« schrie Anton verzweifelt.

»Wessen Geld ist es denn?« sagte Rhoda, und ihre Hände fuhren von den Beuteln zurück, als hätten sie ins Feuer gegriffen.

»Mein Gott!« stöhnte Anton, »Du sprichst wahrhaftig wie 'n Gerichtshof. Hör' doch nur selbst!«

»Ist es dein Geld, Onkel, oder nicht?«

›Es ist‹ und ›es ist nicht‹ – die Qual war groß!

»Ist es nicht deins?« Rhoda stellte die Frage noch direkter in dem Entsetzen eines verächtlichen Schauders.

»Es ist meins. Ich – natürlich ist es meins, wie sollte es denn nicht meins sein? Mein Geld? Ja. Wie kann man so was fragen – ob das, was ich habe, mein ist oder dein oder ich weiß nicht wessen? Ja!«

»Und du sagst, du bist nicht reich, Onkel?«

Ein reizendes, beglückwünschendes Lächeln flog zu ihm hin, von einem Kopfschütteln leichten Vorwurfs begleitet, dem seine Eitelkeit nicht zu widerstehen vermochte.

»Reich! Ja, mit all den Anforderungen, die an einen gestellt werden! Jeder kommt und will was von mir leihen. Schön reich! Und nun kommst du an! Daß man euch Weibern doch nie 'n rechten Begriff vom Geld beibringen kann!«

»Onkel, nun wirst du dich entschließen, mir zu helfen! Ich weiß es!«

Sie sagte es mit verblüffender Sicherheit.

»Wie weißt du das?« rief Anton.

»Warum trägst du so viel Geld in Beuteln mit dir herum, Onkel?«

»Hör' mal, mein Kind.« Er simulierte die Freude eines Geizhalses. »Ist das nich' Musik! Ach was, Opern! Hör' das! Sagte es nicht was? Klimpert es nicht fein? Singt es nicht?« Er stöhnte auf. »O Gott,« und dann fiel er zurück.

Dieser jähe Übergang von einem Zustand übermäßigen Entzückens zum tiefsten Schmerz erschreckte sie.

»Nichts, es ist nichts!« kam Anton ihren Fragen zuvor. »Die Beutel sind bloß so schwer.«

»Aber warum schleppst du sie denn herum, Onkel?«

»Vielleicht is es 'n Herzfehler,« sagte Anton und grinste, denn er kannte die eiserne Zuverlässigkeit seiner Konstitution.

»Du bist sehr blaß, Onkel.«

»Ach? Was du nicht sagst?«

»Du bist entsetzlich weiß, lieber Onkel!«

»Will mich doch mal in 'n Spiegel sehn,« sagte Anton. »Nee, will ich doch nich'.« Er sank in seinen Stuhl zurück. »Rhoda, wir sind allzumal Sünder, nich' wahr? Alle mit'nander, jeder Mann un' jede Frau un' jedes kleine Kind auch schon. Das 's 'n Trost, ja, das 's 'n Trost! Das 's 'n ganz furch'baren Trost – denn kann keiner was sagen. Ach, ich weiß schon, was du sagen willst – 'n paar sind besonders große Sünder. Aber wenn denen das denn leid tut, was sagst du denn? Sie können doch bereuen, nich'?«

»Sie müssen das Unheil, was sie angerichtet haben, wieder gut zu machen trachten. Sünder sollen nicht bloß mit Worten bereuen, Onkel.«

»Die letzte Zeit fühlt' ich so was –«

Rhoda wartete auf das Geständnis eines Geizhalses.

»Die letzten zwei, drei Tage fühlte ich so was –«

»Was denn, Onkel?«

»So 'n Art Geschmack auf der Zunge, wie von 'ne ganz schrecklich süße Apfelsine, un' das war mir sehr angenehm, bis, – ja, bis ich sie auf einmal ganz 'runter schluckte – 'n Schluck war das! Eben fühl' ich's wieder. So, nun geht's mir wieder gut.«

»Nein, Onkel,« sagte Rhoda, »es geht dir nicht ganz gut; dies Geld bringt dich ganz herunter. Ganz gewiß tut es das, ich kann es ja sehen. So, nun gib mir mal die Beutel in die Hand. Einen Augenblick nur! Versuch's mal! Es wird dir gut tun! Glaub' mir, es tut dir gut. Oder, gib sie mir überhaupt! Für dich sind sie das reine Gift. Du brauchst sie nicht.«

»Tu' ich auch nicht,« rief Anton, »meiner Seel', nein, tu ich auch nicht! Ich brauch' sie auch gar nicht! Ich gäbe sie – das is' auch wahr, mein Kind, ich brauch' sie gar nicht! Sie sind auch Gift!«

»Für dich sind sie Gift,« sagte Rhoda, »mir aber sind sie Gesundheit, Leben. Ich sagte: ›Onkel Anton wird mir helfen. Er ist kein – ich kenne ja sein Herz! – er ist kein Geizhals.‹ Bist du ein Geizhals, Onkel?«

Ihre Hand faßte nach den Beuteln. Er hielt sie krampfhaft fest, aber als sie weiter sprach, und das Wort ›Geizhals‹ immer wieder fiel, erschlafften seine Hände endlich. Sie bemächtigte sich des schweren Beutels und erschrak über sein Gewicht.

Er bemerkte den Eindruck, den der Beutel auf sie hervorbrachte, und rief: »Ja, ja, und ich hab' zwei von der Sorte getragen!«

Rhoda keuchte vor Erregung.

»Nun gib ihn mir wieder,« sagte er.

Sie gab ihn zurück, er drückte ihn freudlos an seine Brust, und dann hieß er sie das Gewicht beider prüfen. Sie wog beide in ihren Händen, und Anton schwelgte an dem Erstaunen, das sich in ihren Zügen malte.

»Onkel, nun sieh, was der Reichtum aus dem Menschen macht! Du fürchtest jedermann – du denkst, kein Platz ist sicher – hast du noch mehr? Trägst du all dein Geld mit dir herum?«

»Nein,« kicherte er, sich an ihrem Erstaunen weidend. »Ich hab' – Ja, ja! Ich hab' noch mehr Geld, was mir gehört.« Ihre weit aufgerissenen Augen wirkten auf ihn wie ein berauschender Trunk. »Mehr. Ich hab' zurückgelegt. Ich hab' gespart. Sag' du man, ich war 'n alter Sünder. Na, was würd' der alte Bauer denn nu' sagen? Na, hast 'n Onkel Toni lieb? ›'n alten Ant‹ ant = Ameise. nennen sie mich auf –«

›Auf der Bank‹, wollte er sagen, aber die Erinnerung an die Bank tauchte wie ein Schreckgespenst vor seiner Phantasie auf, und nun sie endlich heraufbeschworen, wollte sie nicht mehr weichen. Das unerträgliche Bild schwamm in einer Umgebung sich mehr und mehr zusammenballenden Gewölks vor seinen Augen, fern und doch bis ins kleinste genau, wie besondere Erinnerungen unserer Kinderzeit, aber gewaltig, als rührte ein gebieterisch ausgestreckter Arm unmittelbar an den seinen.

»Ich bin 'n ehrlicher Mann,« schrie er. »Ich bin immer 'n ehrlicher Mann gewesen! Jeder kennt mich als 'n ehrlichen Mann. Ich brauche niemand anders sein Geld! Ich hab' selbst Geld genug. Ich hasse Sünde. Ich hasse Sünder. Ich bin 'n ehrlicher Mann. Prag' sie doch bloß darnach – Rhoda, Liebling! Ich sag' doch, hör' mich doch bloß an! Rhoda, du meinst, ich war 'n Geizhals. Das 's nich' wahr, Rhoda. Meine armseligen Ersparnisse, und es ist doch so schwer, ehrlich zu bleiben, wenn man arm ist, und ich bin doch all die Jahre ehrlich geblieben, trotz all der Versuchungen, durch die 'n Masse Menschen nach 'n Hulks gekommen sein würden. Sicher in meine Hand – sicher wieder 'raus! Aber ein Ausrutschen – und kein Mensch kennt Erbarmen! Und wenn man sagt: ›Ich hatte so 'n Schwindel in 'n Kopf, und alles ging mir rundum, und ich wußte auch nich' 'n Augenblick, wo ich war, un' vergaß, wo ich hinsollte, un' ging nach 'n ruhigen Platz hin, – bloß, daß ich mich mal besänne‹ –«

Er hielt jäh inne in seinen irren Reden. »Gib mir das Geld her, Rhoda!«

Sie reichte ihm die beiden Beutel.

Er ergriff sie und warf sie mit der Kraft des Wahnsinns zu Boden. Kniend zog er sein Messer aus der Tasche und schlitzte die Seiten der Beutel auf und hielt sie offen und ließ das Gold in Strömen herausfließen, daß es schier unerträglich zu sehen war, dann stieß er ein Gelächter aus, das ihr noch lange hinterher entsetzlich in den Ohren gellte, schwenkte die leeren Beutel hin und her und rannte aus dem Zimmer heraus.

Entsetzt saß sie mitten in einem Haufen Goldes.


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