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II.

Rylejew und Bestuschew saßen einmal am Kamin im selben Eßzimmer, wo die russischen Frühstücke abgehalten wurden, und sprachen über die Geheime Gesellschaft.

Winterlich knisterte das Feuer im Kamin, winterlich heulte der Wind. Aus dem Fenster konnte man sehen, wie der Wind an der Blauen Brücke den Passanten die Hüte vom Kopfe riß, die Röcke der Frauen wie Segel aufblähte und den Beamten die Mantelkrägen über die Köpfe warf.

Der erste Eisgang – auf der Newa – war zu Ende; jetzt kam der zweite – auf dem Ladogasee. Der Nordostwind ließ alles, was vorher aufgetaut war, wieder einfrieren; die Pfützen waren von Eisnadeln überzogen. Ein feiner, mit Schnee vermischter Regen zog wieder wie eine weiße Wolke über die Erde, und ein neuer Winter brach an. Der Frühling war anscheinend besiegt.

Und trotzdem war der Frühling da. Zuweilen zerriß der Wolkenschleier, und dann schimmerte ein durchsichtiger Himmel, blau und grün wie die Eisschollen beim Eisgang, hindurch; hie und da taute der Schnee in der Sonne; von den Dächern rauchte es; die nassen und glatten Pferde glänzten wie Seehunde. Der Straßenkot schimmerte in der Ferne wie Silber. Alles war zweideutig, selbst das Zwitschern der Kanarienvögel: wenn der Winter wiederzukehren schien, zwitscherten sie traurig, wenn es wieder Frühling wurde – fröhlich.

»Niemand tut bei uns etwas,« sagte Rylejew in einer von jenen Anwandlungen von Kleinmut, die ihn ebenso schnell überfielen, wie wieder verließen. »Man muß aber doch irgend etwas unternehmen. Es ist Zeit, daß man endlich anfängt ...«

»Ja, es ist Zeit, anzufangen,« bestätigte Bestuschew, seine Glieder reckend und ein Gähnen unterdrückend. Er hatte nicht ausgeschlafen. Zuerst war er im Klub beim Kartenspiel, dann kam eine Troikafahrt in lustiger Gesellschaft nach Jekaterinhof und zur Gelben Schenke und ein Nachtgelage mit Zigeunerinnen ... Die Geschäfte der Geheimen Gesellschaft wollten ihm jetzt gar nicht in den Sinn; er fühlte viel eher ein Bedürfnis, sich mit einem Glase Wein zu stärken und von seinen nächtlichen Abenteuern zu erzählen.

Bestuschew war ein wirklich guter Junge, ein treuer Kamerad, tapferer Offizier und geistreicher Mitarbeiter der literarischen Zeitschrift »Polarstern«. In die Verschwörung war er ganz zufällig hineingeraten: das Ganze war bei ihm wohl nur jugendliche Waghalsigkeit, Byronismus und kam vielleicht aus dem Bestreben, alles dem Jakubowitsch nachzumachen. Er spielte den Verschwörer, wie Knaben Räuber spielen. Jetzt ging ihm aber langsam das Licht auf, daß dieses Spiel gefährlich sei. Er dachte immer öfter darüber nach, wie er, ohne sein Wort zu brechen, aus der Gesellschaft austreten könnte: im Sommer wollte er heiraten und dann ins Ausland reisen.

– Vorläufig geht es ja noch, – sagte er sich, – aber wenn ich einmal verheiratet bin, bleibe ich um nichts in der Welt in der Gesellschaft, und was sie von mir auch sagen werden! –

»Ja, es ist Zeit, anzufangen!« wiederholte er mit großem Eifer. Unter den prüfenden Blicken Rylejews wandte er sich weg, machte sich mit der Zange im Kaminfeuer zu schaffen und fügte eilig und geschäftig hinzu:

»Man sagt, daß Pestel schon hier ist.«

»Pestel? Unmöglich! warum zeigt er sich dann nicht bei uns?« rief Rylejew erstaunt.

»Vielleicht fürchtet er sich?« fuhr Bestuschew fort. »Es heißt, daß man ihn auf Schritt und Tritt beobachtet. Der Kaiser selbst soll auf ihn aufmerksam geworden sein. Übrigens werden wohl auch wir beobachtet. Überall wimmelt es von Spionen. Du weißt ja, was uns Glinka neulich sagte: ›Seid auf der Hut!‹ Pestel will aber, daß wir uns beeilen; es heißt, daß in der Südarmee eine solche Stimmung herrscht, daß man sie nur mit Mühe zurückhalten kann: wenn sich nur eine Kompagnie auflehnt, wird es sofort überall losgehen. Er macht uns den Vorschlag, daß wir uns mit dem Süden verbinden.«

»Ja, wenn es hier nur jemanden gäbe, der sich mit ihnen verbinden könnte!« rief Rylejew bitter lächelnd.

»Ja, es gibt zu wenig Menschen,« bestätigte Bestuschew und rezitierte mit dem gleichen übertriebenen Feuer die Verse Rylejews:

Einen Menschen deinesgleichen
Suchst vergebens du ringsum, –
Was du siehst, sind kalte Leichen,
Oder Kinder seicht und dumm!

»Ja, es sind wirklich kalte Leichen!« seufzte Rylejew auf und ließ seinen Kopf sinken. »Du denkst dir wohl, Sascha, daß ich die anderen bezichtige und selbst nicht besser bin?! Ja, mein Lieber, ich weiß ja, daß auch ich ein Schuft bin! Für meine Frau, für mein Kind, für ein behagliches Heim und für einen wohlklingenden Vers gebe ich alle Freiheiten hin. Jakubowitsch gibt sie für seinen Haß hin, Kachowskij – für seinen Ruhm, Puschtschin für seine Ehrlichkeit, Odojewskij – für seine jugendliche Ausgelassenheit ...«

»Und ich?«

»Du gibst alles für das Kartenspiel, für deine Mädel und für die Flügeladjutantenschnüre hin. Wir sind alle gut! In der Schrift heißt es aber: ›Wer seine Hand an den Pflug leget, und siehet zurück, der ist nicht geschickt zum Reich Gottes.‹ Wir sind alle Federfuchser, Prahler, Aufschneider; mit den Worten sind wir tapfer, wenn uns aber jemand ›Kusch‹ sagt, ziehen wir sofort den Schwanz ein. Weißt du, Sascha, was mir scheint? ... Daß wir uns alle nur blamieren und furchtbar hereinfallen werden. Wir wollen ein Werk verrichten, zu dem uns die Kräfte fehlen. Es wird alles nur bei den schönen Redensarten bleiben. Puschtschin hat wirklich recht ...«

Er legte seine Hand auf Bestuschews Schulter und fuhr in jenem feierlich-theatralischen Ton fort, in dem sie alle selbst dann sprachen, wenn sie vollkommen aufrichtig waren:

»Auch in deinen Augen, Alexander, lese ich etwas, was gegen das Wohl der Gesellschaft gerichtet ist!«

»Laß das! Das ist ja aus den ›Räubern‹ von Schiller. Warum soll gerade ich verantwortlich gemacht werden? Ihr seid alle Träumer, ich bin aber Soldat: meine Sache ist nicht das Philosophieren, sondern das Handeln. Wenn es Zeit ist, anzufangen, so wollen wir eben anfangen. Von mir aus – jetzt gleich!« erwiderte Bestuschew nicht weniger pathetisch.

Eigentlich wollte er es gar nicht sagen, es kam aber bei ihm ganz von selbst über die Lippen. Was er sprach, war auch nicht absolute Lüge: wenn ein guter Schauspieler sich ein bestimmtes Gefühl einbildet, so empfindet er es auch; zuweilen waren es auch einander widersprechende Gefühle, und dann wußte er selber nicht, welches das richtige war.

»Nein, jetzt gleich geht es nicht,« begann Rylejew in viel zuversichtlicherem Ton als vorhin: nachdem er sich das Herz in Klagen erleichtert, fühlte er sich wieder sicherer und herzhafter. »Jetzt gleich geht es nicht, vielleicht aber im nächsten Frühjahr bei der Maiparade oder beim Sommerfest zu Peterhof. Den Jakubowitsch könnte man allerdings schon jetzt loslassen. Der schreckt vor nichts zurück. Ich fürchte aber, daß er eher schaden kann und die öffentliche Meinung gegen die Gesellschaft aufreizen wird ...«

»Sei auf der Hut, Rylejew: dein Kachowskij ist noch viel schlimmer als Jakubowitsch. Neulich war er wieder in Zarskoje Ssjelo ...«

»Du lügst!«

»Frage ihn selbst. Es heißt, daß der Kaiser jetzt oft ganz allein und unbewacht im Parke spaziert. Kachowskij lauert ihm auf, macht förmlich Jagd auf ihn. Wie leicht kann da ein Unglück geschehen! Dann sind wir alle verloren, wenn du ihn wenigstens zur Vernunft bringen könntest.«

»Wie kann man ihn zur Vernunft bringen?« sagte Rylejew, ärgerlich die Achseln zuckend. »Neulich kam er wie ein Wahnsinniger zu mir hereingestürzt und platzte gleich heraus: ›Ich komme zu dir, Rylejew, um dir zu sagen, daß ich mich entschlossen habe, den Zaren zu töten. Melde es dem Großen Rat. Man möchte mir den Zeitpunkt bestimmen.« Ich sprang wie vom Blitz getroffen vom Sofa, auf dem ich gerade lag, und schrie ihn an: ›Bist du verrückt? Du willst wohl die Gesellschaft zugrunde richten? ...‹ Was ich ihm auch vorbrachte, – alles war vergebens. Schließlich flehte ich ihn kniefällig: ›Erbarme dich doch wenigstens meiner Natascha und Nastenjka!‹ Dies machte offenbar doch Eindruck auf ihn; er wurde nachdenklich, weinte, umarmte mich und sagte: ›Gut, ich will noch etwas warten ...‹ Dabei blieb es vorläufig. Ob er es aber lange aushält?«

»Da habt ihr euch selbst einen Teufel auf den Hals gesetzt!« brummte Bestuschew, »Wer ist er eigentlich überhaupt? Wo kommt er so urplötzlich her? Ist er am Ende ein Spion?«

»Was dir nicht einfällt! Ein grundehrlicher Kerl, vom ältesten polnischen Adel und gebildet; hat in Deutschland studiert. War bei der Garde, hat den französischen Feldzug mitgemacht; für irgendeine Frechheit wurde er in die Linie versetzt und nahm den Abschied. Er besaß ein kleines Gut im Smolensker Gouvernement, hat es aber im Kartenspiel verloren und ist dann ganz heruntergekommen. Wollte den griechischen Aufstand mitmachen, kam nach Petersburg und blieb hier stecken. Hat alles verloren, ist beinahe vor Hunger gestorben. Ich habe ihm etwas auf die Beine geholfen und ihn in die Gesellschaft aufgenommen ...«

An der Haustüre wurde geklingelt, man hörte aus dem Vorzimmer die Stimmen Kachowskijs und des Dieners Filjka:

»Ist der Herr zu Hause?«

»Jawohl, treten Sie nur ein.«

»Mir scheint, jetzt kommt er gerade,« sagte Rylejew zu Bestuschew, nachdem er etwas hinausgehorcht hatte. »Gewiß ist er es. Wenn man vom Wolf spricht, ist er nicht weit.«

Kachowskij trat ein und begrüßte die beiden Anwesenden von oben herab, ihnen gleichsam aus Gnade zwei Finger reichend; er schien noch hungriger, zerlumpter und heruntergekommener als beim letzten russischen Frühstück. Er setzte sich zum Kamin, wärmte sich die Hände und trocknete seine zerrissenen kotbeklebten Stiefel auf dem Kamingitter neben den eleganten Lackstiefeln des Flügeladjutanten Bestuschew.

»Du bist wohl ganz erfroren, Petja? Willst du nicht etwas essen?« unterbrach Rylejew das Schweigen.

Kachowskij gab keine Antwort. Er zuckte böse und krampfhaft, wie im Schüttelfrost die Achseln und sagte:

»Ich reise morgen ab. Lebt wohl.«

»Wohin?«

»Nach Smolensk.«

»Was ist denn plötzlich los?«

»Was soll ich hier bei euch anfangen? Ich lebe wie ein Hund, hungere, treibe mich wie ein Bettler herum, kann mir nicht einmal Stiefel kaufen ... Ihr wollt aber die Sache noch immer hinausschieben ...«

»Warte nur, Petja, etwas Geduld. Es hängt ja nicht von uns ab.«

»Von wem denn?«

»Vom Großen Rat. Wie er beschließt ...«

»Meinst du die Unsichtbaren Brüder?«

»Ja, auch sie. Wir beide sind ja nur gewöhnliche Mitglieder der Gesellschaft, gemeine Soldaten. Du weißt es ja selbst ...«

»Ich weiß nichts und will nichts wissen. Ich spucke auf euren Großen Rat! Es sind Mysterien wie bei den Freimaurern. Unsichtbare Brüder! Ihr führt uns nur an der Nase herum, warum sollte ich weniger zu sagen haben, als eure Unsichtbaren Brüder; daß sie alle der Teufel hole! Weil ich ein verabschiedeter Armeeoffizier, ein Bettler, Proletarier bin? Folgt etwa daraus, daß ich keine Ehre habe? Ja, ich bin ein Proletarier!« wiederholte er mit sichtlichem Stolz dieses neue Wort, sich vor die Brust schlagend. »Ich bin ein Proletarier, doch ist mir die Ehre nicht weniger wert, als euren rotznasigen Edelleuten, den Taugenichtsen von der Garde, den Kammerjunkern und sonstigem Hofgesindel! ...«

»Warum schimpfst du, Bruder? Niemand rührt ja an deine Ehre. Wenn du aber beschlossen hast, fortzugehen, so können wir dich doch nicht mit Gewalt zurückhalten. Auch ohne dich gibt es genügend Freiwillige. Du sprichst immer von deiner Ehre, und doch gibt es Menschen, die dem allgemeinen Wohl nicht nur ihr Leben, sondern auch ihre Ehre zu opfern bereit sind ...«

»Wer ist es denn? Wer?« Kachowskij erbleichte und sprang wie von einer Wespe gestochen auf. »Meinst du vielleicht Jakubowitsch?«

»Auch ihn.«

»Er ist ja ein Hanswurst!«

»Du bist neidisch, mein Lieber, und beschimpfst alles, wozu du selbst unfähig bist ...«

»Zu einer Gemeinheit bin ich nicht fähig.«

»Was nennst du Gemeinheit?«

»Die Rache eines beleidigten Wahnsinnigen ist eine Gemeinheit! Wenn aber diese Rache den Deckmantel des allgemeinen Wohls trägt, so ist die Gemeinheit noch größer. Den Zaren umzubringen und selbst alle niederzumachen, – ist wahrlich kein Kunststück, das kann ein jeder. Man muß aber das Recht dazu haben, hörst du? das Recht!«

»Das Recht auf Mord?«

»Hier ist die Rede nicht von Mord, sondern von etwas anderem, was vielleicht noch schlimmer ist als Mord ... Ihr versteht es aber alle nicht ... Niemand versteht es. O Gott! ...«

Er ließ sich in einen Sessel fallen, schloß die Augen und wurde leichenblaß.

»Was hast du, Petja? Bist du unwohl?«

»Nein, nichts ... Es geht bald vorüber. Es schwindelt mich. Gib mir Wasser oder ein Glas Wein ...«

In den Vormittagsstunden roch es in Rylejews Eßzimmer immer höchst appetitreizend. Vor diesem Geruch und vor Hunger wurde es Kachowskij übel.

Rylejew begriff Kachowskijs Zustand, eilte in die Küche und brachte einen Teller Kohlsuppe mit Fleisch und eine Flasche Schnaps. Als Kachowskij seinen Hunger gestillt hatte, führte ihn Rylejew in sein Arbeitszimmer und sagte zu ihm:

»Höre einmal, Petja, schämst du dich nicht? Du leidest Hunger und bittest mich nie um Geld. Unter Freunden handelt man nicht so!«

Er holte aus seiner Schreibtischlade ein Paket Banknoten und drückte es Kachowskij in die Hand.

»Wenn du mich nicht beleidigen willst ... Ich glaube, es sind zweihundert Rubel ...«

»Was fange ich mit so viel Geld an?« suchte Kachowskij das Geld zurückzuweisen; seine hervortretende Unterlippe zitterte. »Ich brauche ja nur so viel, um meine Schulden bei der Hausfrau und beim Krämer zu begleichen und den Schneider Jauchtzi zu bezahlen. Der verfluchte Jude läßt mir keine Ruhe, kommt täglich zu mir herauf und droht mit einer gerichtlichen Klage ...«

Der Schneider Jauchtzi hatte Kachowskij eine Offiziersuniform geliefert: Rylejew hatte darauf bestanden, daß Kachowskij wieder Offizier werde; er hatte auch schon ein Gesuch an das Jelezsche Infanterieregiment eingereicht.

Schließlich nahm er das Geld doch an. Ohne nachzuzählen, steckte er die Banknoten in seine Hosentasche, nachlässig, wie einen Tabaksbeutel.

»Ist die Uniform fertig?« fragte Rylejew.

»Ja.«

»Das ist schön. Denn der Frack steht dir nicht. In der Uniform wirst du dich besser machen. Auch kannst du dann mehr erreichen. – Wie ist es nun mit deinen Leibeigenen?« fügte er nach einer Weile hinzu. »Du solltest sie doch wirklich verkaufen. Man zahlt jetzt fünfhundert für eine Seele. Du hast dreizehn Seelen, das macht ein Sümmchen aus, das man nicht so leicht auf der Straße findet. Ich könnte dir dabei behilflich sein: ich habe Beziehungen in den Kanzleien ...«

»Nein, laß es nur ... Ich habe sie alle verpfändet und seit Jahren keine Zinsen gezahlt; sie sind wohl längst verfallen ...« log ihm Kachowskij vor, wobei er über und über rot wurde: er hatte die letzten dreizehn Leibeigenen, die ihm noch vom väterlichen Erbe blieben, nicht versetzt, sondern auf einem Jahrmarkt an einen herumziehenden Falschspieler im Kartenspiel verloren.

»Wir sind also wieder Freunde, lieber Petja? Ja? Du bist mir doch nicht böse?« Rylejew drückte ihm die Hand und blickte ihm mit seinem lieben kindlichen Lächeln in die Augen.

Kachowskij vermied aber, ihm in die Augen zu sehen und dachte: »Wie kann ich zürnen, wenn ich von ihm Geld genommen habe?« Jedesmal, wenn er von Rylejew Geld bekam, hatte er das Gefühl, als ob er seine Seele dem Teufel verschreibe.

»Ich bin dir nicht böse, Atja, nein ... Warum sollte ich es? ... Es ist mir manchmal so elend zumute, daß ich mich am liebsten erschießen würde ... Ich halte es nicht mehr aus, ich kann nicht mehr ...«

»Laß das, laß das,« tröstete ihn Rylejew, der offenbar etwas ganz anderes im Sinn hatte. »Es wird nicht mehr lange dauern. Du mußt nur noch ein wenig Geduld haben ... Wozu bist du eigentlich neulich nach Zarskoje Ssjelo gefahren?«

»Nach Zarskoje? Das weißt du ja selbst. Wenn man nur gut zielt ... Es sind höchstens zehn Schritte. Er geht ganz allein im Parke umher. Er fordert einen direkt heraus ...«

»Du sagst ja selbst: das Töten sei kein Kunststück, man müsse aber ...«

»Ja, ich weiß, ich weiß. Ich halte es nicht länger aus ... Gott, wann kommt der Augenblick? ...«

»Ich sage dir ja, daß du nicht mehr lange zu warten hast. Ich schwöre es dir bei Gott!« Er bekreuzigte sich vor dem Heiligenbilde, wie er es auch neulich im Gespräch mit Golitzin getan hatte. – »Du allein kannst es tun, und sonst niemand! Merke dir das. Wir wollen es dem Großen Rat melden und dir den Zeitpunkt bestimmen. Du bist der Würdigste. Ich weiß es ja, lieber Petja, daß du allein würdig bist!«

Die Augen Kachowskijs funkelten wie geschliffener Stahl. Rylejew sah ihn an wie ein Schleifer, der die Schärfe des Messers prüft. Ja, jetzt war es genügend scharf.

Bestuschew hatte sich noch im Anfang dieses Gesprächs ins Gastzimmer zurückgezogen, um nicht zu stören. Als die beiden aber ins Arbeitszimmer gegangen waren, kehrte er ins Eßzimmer zurück, setzte sich vor den Kamin, zündete sich eine Pfeife an, ließ sie aber bald fallen und schlummerte ein. Ihm träumte: er spielt Karten, gewinnt Haufen Gold, auf seinem Schoß sitzt die Zigeunerin Maljarka; sie küßt und kitzelt ihn und stört das Spiel. Als Rylejew und Kachowskij wieder im Eßzimmer erschienen, erwachte er; es ärgerte ihn, daß der schöne Traum so jäh abgebrochen wurde. Rylejew sah auf die Uhr: er mußte noch vor dem Essen in die Direktion der Russisch-amerikanischen Kompagnie hineinschauen. Auch Bestuschew mußte gehen: er wollte noch eine Tante, die heute Namenstag hatte, besuchen.

»Wollen Sie eine Strecke mit mir fahren, Kachowskij?«

»Ich danke, ich gehe immer zu Fuß. Auch haben wir nicht den gleichen Weg.«

Bestuschew führte ihn etwas zur Seite, so daß ihn Rylejew nicht hören konnte.

»Ich bitte Sie, mit mir zu fahren. Ich muß mit Ihnen etwas besprechen, was die Gesellschaft betrifft.«

»Also gut, ich fahre mit.« Kachowskij blickte ihn etwas erstaunt an: sie waren sonst einander nicht gerade freundlich gesinnt und hatten bisher noch nie von den Angelegenheiten der Gesellschaft gesprochen.

Sie gingen ins Vorzimmer. Kachowskij setzte sich einen schwarzen Karbonarihut mit weiter Krempe auf und warf einen seltsamen leichten Almavivamantel um. In diesem Aufzug erinnerte er noch mehr an einen Räuber vom Theater oder einen Klavierstimmer.

Vor dem Hause wartete der elegante englische hochgebaute Wagen des Flügeladjutanten Bestuschew; auf dem Bock saß ein stattlicher Kutscher, mit Pfauenfedern auf dem Hut; das Nebenpferd mit dem schlanken Schwanenhals tänzelte ungeduldig. Für zwei Personen war der Wagen zu schmal; Bestuschew setzte sich seitwärts in höchst unbequemer Lage: der »Taugenichts von der Garde« überließ seinen Platz höflich und zuvorkommend dem »Proletarier«. Er bat ihn um Erlaubnis, unterwegs eine Korrektur für den »Polarstern« in die Druckerei bringen zu dürfen.

Die Sonne kam plötzlich zwischen den Wolken zum Vorschein; in ihrem Licht erschienen die öden Straßen, die so breit wie Plätze waren, und die kleinen grauen flachen Häuschen, unter denen stellenweise einsame Feuerwachtürme hervorragten, noch öder, und der blaßgelbe Ockeranstrich der öffentlichen Gebäude schien unter dem hellgrünen Himmel noch trostloser.

Sie kamen auf den Newskij-Prospekt. Von der Polizeibrücke bis zum Anitschkinpalais zog sich eine Lindenallee, die einmal auf Befehl des Kaisers Paul mitten im Winter beim grimmigsten Frost in vier Wochen angelegt worden war; man mußte in die Erde mit Äxten Löcher schlagen, in die dann Feuer gelegt wurde, um den hartgefrorenen Boden aufzutauen. Die im Tauwinde zitternden armseligen Linden glichen kranken Kindern; es schien, daß sie nie erblühen würden. Doch hatte der Frühlingskorso in der Allee bereits begonnen. Man sah Offiziere in Dreimastern mit Hahnenfedern, Beamte in Friesmänteln, Kaufleute in langen »sibirischen« Überröcken. Vor dem großen Kaufhofe stiegen Damen in russischen Pelzmänteln und grellfarbigen Pariser Frühjahrshüten, von Livreedienern gestützt, aus ihren Equipagen. Herrschaftliche, von sechs Pferden gezogene Wagen fuhren vorbei; junge Burschen als Vorreiter gaben unausgesetzt gedehnte Schreie von sich. Auf einem Postwagen raste Hals über Kopf ein Feldjäger vorbei. Auf dem elenden Pflaster klirrten und stöhnten die Droschken, genannt »Gitarren«, auf denen die Fahrgäste rittlings saßen, wobei sie sich mit den Händen am Rücken des Kutschers festhielten; die Kutscher hatten auf dem Rücken eine Blechtafel mit der Nummer hängen. Eine Abteilung Soldaten, mit Musik an der Spitze, marschierte vorüber.

In der Einförmigkeit der vorbeimarschierenden Soldaten, in der Einförmigkeit der ockergelben, von weißen Säulen geschmückten Fassaden der öffentlichen Gebäude spürte man den Geist des Mannes, der gesagt hat: »In allen Dingen liebe ich die Einförmigkeit.« Die Öde hatte etwas Feierliches: die ganze Stadt machte den Eindruck eines riesigen Kasernenhofs oder Exerzierplatzes, auf dem alles unter Trommelwirbeln und dem Kommando »Stillgestanden« mit angehaltenem Atem stramm steht.

Bestuschew erzählte etwas, Kachowskij hörte aber nicht zu. Er sah auf die Menschenmenge und dachte sich: heute weiß noch niemand unter diesen vielen Leuten von meiner Existenz; es naht aber die Stunde, und alle diese Leute, ganz Rußland und die ganze Welt werden von mir erfahren und vor meiner schrecklichen und großen Tat erschauern.

»Ich werde Ihnen einen Aufsatz schicken. Lesen Sie ihn bei Gelegenheit.«

»Was für einen Aufsatz?«

»Meinen Aufsatz: ›Betrachtungen über die russische Literatur im Jahre 1824.‹«

Bestuschew sprach von seinem Aufsatz, von seinem Pferd, von seiner Tante und von seiner Zigeunerin so selbstverständlich, als ob er gar nicht daran zweifelte, daß es alle interessiere.

»Die Literatur ist übrigens nur ein winziges Blättchen im Buche meines Lebens. Ich kann von mir dasselbe sagen, was Chenier, als er vor der Guillotine stand, auf seine Stirne weisend, gesagt hat: ›Hier war etwas!‹ Meine nervöse Konstitution ist eine Äolsharfe, durch die ein Sturmwind fährt ...«

Das hatte er früher einmal von Byron gesagt; er gewöhnte sich aber, diesen Ausdruck auch auf sich selbst anzuwenden.

Kachowskij blickte ihn finster an und sagte:

»Ich glaube, Sie wollten mit mir von der Gesellschaft sprechen?«

»Ja, ja, gewiß. Aber wissen Sie, auf der Straße geht es nicht gut. Der Kutscher kann es hören. Wir werden auf Schritt und Tritt beobachtet. Ich kann mich sogar nicht auf meine eigenen Leute verlassen,« fügte er französisch hinzu. »Können wir vielleicht für einen Augenblick zu Ihnen hinaufgehen?«

»Ich bitte sehr,« erwiderte Kachowskij trocken.

Unterwegs kaufte Bestuschew in den Miljutinschen Läden verschiedene Delikatessen und Champagner. Kachowskij fragte ihn nicht, wozu diese Einkäufe seien; während der ganzen Fahrt saß er mit finsterer Miene und schwieg.

Er wohnte in der Kolomna-Vorstadt, im Hause eines gewissen Engelhardts, in einem alten schiefen Hofgebäude.

Sie stiegen eine steile Treppe hinauf, wo es nach Küchenabfällen und Katzen roch. Bestuschew mußte seinen Helm mit dem weißen Federbusch in die Hand nehmen und sich bücken, um sich nicht an den aus Stricken zum Trocknen aufgehängten Lumpen zu beschmutzen. Zwei alte Weiber zankten sich auf der Treppe wegen eines abhanden gekommenen Herings, wobei sie einander den Heringsschwanz abwechselnd an den Kopf warfen. Aus einer offenen Wohnungstüre schaute ein geschminktes Mädchen mit aufgelöstem Haar und einer Gitarre in der Hand heraus, während in der Tiefe des Zimmers eine heisere Baßstimme das bei den Kanzleibeamten so sehr beliebte Lied sang:

O Glafira, süße Wonne,
Kind, ich liebe dich so sehr!
Ohne dich, du meine Sonne,
Ist die Welt mir öd und leer.

Kachowskijs Zimmer war im obersten Stock gelegen und erinnerte mehr an eine Dachkammer. Irgendwo unten befand sich wahrscheinlich eine Schmiede, denn die mit einer blauen Tapete beklebten und mit Feuchtigkeitsflecken bedeckten Bretterwände des Zimmers erzitterten ab und zu unter donnerähnlichen Schlägen. Auf dem Tisch lagen Werke von Plutarch und Livius in französischen Übersetzungen des 18. Jahrhunderts, und daneben stand ein Teller mit einem abgenagten Knochen und einer Salzgurke. Auf einem Feldbette lag statt einer Decke ein alter Offiziersmantel; das rote Kopfkissen hatte keinen Bezug. An der Wand hing ein kleines Messingkruzifix und das Bild des jungen Sand, der den russischen Spion Kotzebue getötet hatte; im gleichen Rahmen befand sich eine trockene, vermutlich am Grabe gepflückte Blume, ein mit dem Blute des Hingerichteten durchtränkter Leinenfetzen und ein von Kachowskijs Hand geschriebenes Zitat aus dem Puschkinschen Gedicht »Der Dolch«:

Du starbst auf dem Schafott, o edler Sand,
Und opfertest der Freiheit deine Jugend;
Doch auch im Blut, verspritzt von Henkershand,
Lebt noch ein Rest der heil'gen Tugend.

Als Kachowskij ins Zimmer trat, wurde er noch finsterer: wahrscheinlich schämte er sich seiner Armut. Er setzte sich aufs Feldbett und bot dem Gast den einzigen Stuhl an. Beide schwiegen. Bestuschew hielt das Paket mit den Delikatessen und dem Champagner auf dem Schoß, denn er wußte nicht, wo er es hintun sollte. Schließlich stellte er es unter den Tisch.

»Sagen Sie einmal, Kachowskij,« begann er plötzlich in großer Hast und Erregung, »hat Ihnen nicht Rylejew etwas vom Großen Rat gesagt?«

»Nein, nichts.«

»Ich kann wirklich nicht begreifen, warum er so heimlich tut. Einem solchen Menschen wie Sie sollte man doch wirklich alles sagen. Übrigens gibt es überhaupt keinen Großen Rat. Der ganze Rat ist Rylejew selbst.«

»Und Trubezkoj, Puschtschin, Odojewskij?« fragte Kachowskij. Er heuchelte Gleichgültigkeit, wartete aber mit brennender Neugier auf Bestuschews Antwort.

»Sie alle sind nur Marionetten in seiner Hand. Er unternimmt alles aus eigene Verantwortung und verkündet seinen Willen wie ein wahrer Diktator. Er betrügt alle und auch sich selbst. Die Revolution ist seine fixe Idee. Er ist ja kein schlechter Mensch, er lebt aber ganz in der Phantasie, in Gedanken, ist mit einem Wort ein Dichter, wie wir alle. Er versteht nur die Suppe einzubrocken, auslöffeln müssen sie aber andere.«

Er schwieg eine Weile und fuhr fort:

»Ich hielt es für meine Pflicht, Sie zu warnen. Ich will niemanden betrügen und niemandem eine Falle stellen. Ein jeder muß wissen, was er tut und was er riskiert ... Hat er Ihnen gesagt, daß der Zarenmord in keinem Zusammenhange mit der Gesellschaft stehen darf?«

»Ja, das hat er gesagt.«

»Das ist eben der ganze Witz. Er will Sie einfach als ein Messer gebrauchen: er will den tödlichen Streich führen und dann das Messer zerbrechen. Sie sind ein Ausgestoßener, eine gemeine Mordwaffe, ein abgeurteiltes Opfer. Im übrigen sind alle diese Unsichtbaren Brüder ...«

»Gehört er auch zu ihnen?«

»Ja. Alle diese Herren verstehen es, aus fremder Haut Riemen zu schneiden. So machen sie es auch mit Ihnen. Das Blut wird auf Ihr Haupt fallen, sie werden sich aber die Hände in Unschuld waschen und Sie verraten. Den Jakubowitsch schonen sie, denn er ist als kaukasischer Held ein Dekorationsstück für die Gesellschaft. Was aber Sie betrifft ... Rylejew glaubt, daß er Sie gedungen hat, denn Sie nehmen von ihm Geld; ein gedungener Mörder ...«

»Ich, ich ... Rylejew ... Geld ... Es kann nicht sein!« keuchte Kachowskij erbleichend.

»Merken Sie es denn selbst nicht? Ich glaubte, offen gestanden, daß Sie ...« Bestuschew stockte und blickte Kachowskij an: er hatte sein Gesicht mit den Händen bedeckt, saß ganz regungslos da und sprach kein Wort. Unten dröhnten wieder die Hammerschläge, und es kam ihm vor, als ob es die Schläge seines eigenen Herzens wären.

Plötzlich sprang er mit funkelnden Augen und verzerrtem Gesicht auf und lallte:

»Wenn ich nur ein Messer in seiner Hand bin, so wird er der erste sein, der sich daran schneidet! Sagen Sie ihm das, sagen Sie ihm das! ...«

Er griff sich an den Kopf und begann auf und ab zu rennen.

»Ich werde meine Ehre nicht so billig verkaufen! Ich will niemandem als Werkzeug dienen! ... Ich werde sie alle ... Diese Schurken! Schurken! Schurken ...«

Er ließ sich erschöpft auf das Feldbett sinken.

»Was ist nun das? ... Bestuschew! Bestuschew! ... Ich war ein Narr und glaubte ihm alles ... Die Beispiele der Helden des Altertums haben mich geblendet ... Ich glaubte, daß eine Tat, die dem allgemeinen Wohle dient, unmöglich ein Verbrechen sein kann ... Ich dachte mir: das Gute um des Guten willen, ohne Entgelt, solange mein Herz schlägt, denn mein Vaterland ist mir teurer als alle Güter der Erde und selbst des Himmels! ...«

Er warf verzweifelt wie ein Ertrinkender die Arme empor.

»Ich habe alles hingeopfert: Leben, Glück, Gewissen und Ehre ... Und sie ... O Gott, o Gott! ... Es ist eine Beleidigung nicht nur für mich, – das mußt du begreifen, Bestuschew! – sondern für die ganze Menschheit ... Wie gemein, wie schmutzig doch ein Mensch, ein Sohn des Himmels, sein kann! ...«

Er sprach hochtrabend, seine Worte waren aus Büchern geschöpft und machten einen unaufrichtigen Eindruck; in der Tat war aber alles tief aufrichtig: in den hochtrabenden, verlogenen Worten war Wahrheit.

Bestuschew packte seine Eßwaren aus und sah sich nach einem Korkzieher um. Er konnte aber keinen entdecken und schlug der Champagnerflasche einfach den Hals ab. Er fand ein Bierglas, holte vom Waschtisch einen Tonkrug und schenkte ein.

»Genug, mein Bester, genug!« er klopfte Kachowskij vertraulich auf die Schulter. »So Gott will, kann noch alles gut werden. Wollen wir uns überlegen, was da zu machen ist ... Zuerst müssen wir aber etwas trinken: es wirkt erfrischend auf die Gedanken.«

Er trank aus, dachte nach, und trank wieder aus.

»Wissen Sie was?« sagte er plötzlich so harmlos, als ob dieser Gedanke ihm erst eben gekommen wäre. »Man sollte die Gesellschaft auflösen und alles neu schaffen. Sie werden der erste Direktor sein, und ich werde Ihnen die passenden Menschen zuführen. Was sagen Sie dazu?«

Sein geheimes Bestreben war, nur das Alte zu vernichten, nicht aber etwas Neues zu schaffen; wie Rylejew, so wollte auch er Kachowskij nur als Werkzeug für seine Pläne gebrauchen. Jener verstand aber nichts mehr und hörte kaum zu.

»Nein, wozu? Es ist gar nicht nötig,« sagte er abwinkend. »Ich brauche niemand. Ich mache alles selbst. Wenn es niemanden gibt, wenn es keine Gesellschaft gibt, so nehme ich alles auf mich. Ich gehe hin und vollbringe die Tat. So muß es sein. Es ist ja alles eins. Mag kommen, was will. Jetzt kann mich niemand mehr zurückhalten. So muß, so soll es sein. Ich weiß es. Ich allein ...«

Er sprach wie im Fieber und leerte gierig ein Glas nach dem anderen. Da er das Trinken nicht gewohnt war, war er bald berauscht. Bestuschew schlug ihm vor, Brüderschaft zu trinken. Sie tranken und küßten sich. Dann tranken sie wieder und fielen sich noch einmal in die Arme.

»Weißt du was, Bestuschew?« begann plötzlich Kachowskij, mit einem unerwartet heiteren und milden Lächeln; sein Zorn war ganz verpufft. »Vielleicht ist alles nur zu meinem Besten? Ich bin ganz allein in der Welt. Habe weder Freunde, noch Verwandte. Ich war immer allein. Von meiner Geburt an ruht das Siegel des Schicksals auf meiner Stirne. Ich bin gezeichnet und ausgestoßen. Was ist denn dabei? Offenbar muß es so sein. Ich bin allein, allein für alle! Ich brauche nichts – weder Glück, noch Ruhm, noch Freiheit. Denn selbst in Ketten bleibe ich ewig frei. Stark und frei ist derjenige, der in sich die Kraft der ganzen Menschheit erkannt hat! Ist es denn nicht ganz gleich, ob man auf dem Schafott stirbt, oder im Augenblick der höchsten Lust? Wenn du nur wüßtest, Alexander, welche Freude und Ruhe meine Seele überkommt, wenn ich dies, wie jetzt, klar empfinde! ...«

– Was dieser Schiller nicht alles zusammenredet! – sagte sich Bestuschew geärgert. Denn er hatte eingesehen, daß die ganze Unterredung zu nichts führen würde: Kachowskij wird noch etwas weinen und zürnen und schließlich doch zu Rylejew zurückkehren. Der Teufel selbst hatte ihn wohl mit Rylejew verbunden.

Sie sprachen noch recht lange hin und her. Doch hörte keiner mehr dem andern zu, und sie merkten gar nicht, daß sie von verschiedenen Dingen sprachen.

»Ohne Weiber, mon cher, würde es sich gar nicht lohnen, auf der Welt zu leben!« erklärte Bestuschew nach der zweiten Flasche. Nach der dritten äußerte er aber den Wunsch, »in den Flammen der Liebe und eines Erdbebens unterzugehen.«

Nach der vierten Flasche erzählte Kachowskij davon, wie er auf dem Grabe Sands Blumen gepflückt und geweint hatte, während Bestuschew den Napoleon-Jakubowitsch nachzuahmen suchte und rief: »Meine Seele ist aus Granit, selbst ein Blitz kann sie nicht vernichten!« Darauf begann er mit lallender Zunge von seinen Liebesabenteuern zu erzählen:

»Als wir in Polen bei reichen Gutsbesitzern einquartiert waren, hatten wir manche Schöne erobert. Das war ein Leben! Wir soffen nichts als Champagner. Vogue la galère! Die Zimbeln dröhnten, die Mädchen tanzten. Wunderbar! Bist du ein Mönch oder ein Misanthrop, Petja? Verurteilst du vielleicht solche Sachen? Was kann ich aber tun. Die Natur hat mich statt mit Blut – mit feuriger Lava begabt. An meiner tollen Leidenschaftlichkeit entzünden sich die Weiber wie Stroh. Du kannst es mir glauben: in einem polnischen Nest haben mich die Damen beinahe vergewaltigt. Ich konnte leicht ein ganzes Dutzend haben. Übrigens habe ich das, was man gute Gesellschaft nennt, immer verachtet. Ich bin nicht für die Gesellschaft geschaffen. Mein Herz ist ein Ozean, der von schweren Nebeln erdrückt wird ...«

Bestuschew sprach noch sehr viel. Kachowskij wurde wieder schweigsam und finster: er fühlte, daß er zu viel getrunken und gesprochen hatte; der Rausch und die Reden seines neuen Freundes flößten ihm Widerwillen ein; es schien ihm, daß Bestuschews Worte, und nicht der Limburger Käse, den üblen Geruch verbreiteten.

Endlich fiel Bestuschew seine Tante, die heute Namenstag hatte, ein.

»Die alte Hexe wird wütend sein, wenn ich nicht gratuliere. Ich darf sie aber nicht reizen, denn ich habe durch sie Protektion bei meinem Alten ...«

Der »Alte« war der Herzog von Württemberg, bei dem Bestuschew als Flügeladjutant diente.

»Eine alte Hexe mit Protektion ist doch zuweilen einer jungen Schönen vorzuziehen?« fragte Kachowskij ironisch, ohne aus seinem Ekel hehl zu machen. Bestuschew merkte aber nichts.

»Eine Protektion darf man nie verachten, mon cher: das gehört auch zu den Grundsätzen der Gesellschaft.«

Zum Abschied umarmte er Kachowskij.

– Wie konnte ich nur diesem Taugenichts mein Herz enthüllen? – fragte sich Kachowskij angeekelt.

Als der Gast fort war, machte er das Fenster auf und warf den Rest des Limburger Käses heraus. Er sah zum Fenster über den Zaun auf die längst bekannten Ladenschilder: »Niederlage verschiedener Mehle.« »Schneider Iwan Dobrochotow aus dem Auslande.« Vom Hofe her kamen die gedehnten Rufe der Hausierer:

»Alte Kleider! Alte Kleider!«

»Messer schleifen! Scheren schleifen!«

Unten aus der Stiege klang das Lied zur Gitarre:

O Glafira, süße Wonne,
Kind, ich liebe dich so sehr ...

Und dann wieder:

»Messer schleifen! Scheren schleifen!«

»Alte Kleider! Alte Kleider!«

Er ging vom Fenster weg und ließ sich auf sein Feldbett fallen. Ihn schwindelte. Die Schmiedehämmer dröhnten in seinen Schläfen. Er fühlte tödliche Übelkeit und Langeweile. Das ganze Leben kam ihm wie ein übelriechender Limburger Käse vor.

Unter seinem Bett stand ein Kasten mit einem Paar teurer englischer Pistolen neuester Konstruktion: sie waren das einzige wertvolle Stück in seiner Bettlerwirtschaft. Er holte den Kasten hervor, untersuchte die Pistolen und putzte sie mit einem Stück Leder. Dann lud er eine Pistole, spannte den Hahn und setzte sie sich mit der Mündung an die Schläfe. Die reine Kälte des Stahls war ihm ebenso angenehm, wie die Kälte des Wassers, mit dem man sich Schweiß und Staub vom Körper wäscht.

Er legte die Pistolen in den Kasten zurück, warf sich seinen Almavivamantel um und ging mit dem Pistolenkasten in der Hand in den Hof. Vor der Hausmeisterwohnung spielten mehrere Knaben; Kachowskij rief im Vorbeigehen seinen Namensvetter, den kleinen Petja zu sich heran, der ihm sofort willig folgte: er wußte wohl, wozu ihn Kachowskij brauchte, am Ende des Hofes befand sich ein Holzlager, und dahinter stand zwischen leeren Bauplätzen und Gemüsegärten ein verfallener, gemauerter Schuppen.

Sie traten ein und versperrten hinter sich die Türe, auf dem Boden standen mehrere Körbe mit leeren Flaschen. Kachowskij legte ein Brett quer auf zwei Haufen Ziegelsteine. Dann stellte er auf dem Brett dreizehn Flaschen in einer Reihe auf und holte die Pistolen hervor. Er zielte, drückte ab und traf die erste Flasche so genau, daß sie in Scherben zersprang, während die Nachbarflasche stehen blieb. Es folgte die zweite Flasche, dann die dritte, und so schoß er alle dreizehn Flaschen der Reihe nach herunter. Während er schoß, lud der kleine Petja die Pistolen immer wieder, die Schüsse folgten ununterbrochen aufeinander.

Bei der ersten Flasche flüsterte er:

»Alexander.«

Bei der zweiten:

»Konstantin.«

Bei der dritten:

»Michaïl.«

Und so nannte er alle Namen ...

Als die Reihe an die Kaiserin Jelisaweta Alexejewna kam, zielte er, drückte aber nicht ab und hielt inne.

Er mußte daran denken, wie er ihr einmal auf der Straße begegnet war. Ihr Wagen fuhr im Schritt; er ging ganz allein über den leeren Schloßquai und sah die Kaiserin ganz nahe vor sich. Ohne seinen Gruß abzuwarten, neigte sie vor ihm als erste mit müder und gewohnter Gebärde den schönen Kopf; ihr blasses Gesicht schimmerte durch den schwarzen Schleier. Wie es zuweilen bei solchen ganz flüchtigen Begegnungen fremder Menschen vorkommt, waren die raschen Blicke, die sie wechselten, hellseherisch. »Diese traurigen Augen!« sagte er sich, und plötzlich schien es ihm, daß sie im gleichen Augenblick das gleiche von ihm dachte. Zwei Schicksale zogen, aus Ewigkeiten kommend, aneinander vorbei, um sich in diesem einen blitzschnellen Blicke zu treffen und dann wieder für alle Ewigkeit zu trennen.

Er übersprang »Jelisaweta Alexejewna« und schoß auf die nächste Flasche.

Als alle dreizehn Flaschen, mit Ausnahme der einen, füsiliert waren, stellte er neue auf, und dann begann er von vorne:

»Alexander.«

»Konstantin.«

»Michaïl ...«

Die Glasscherben fielen auf den Boden mit hellem Geklirr, das wie Kinderlachen klang. Wie Kachowskij so im weißen Pulverrauch, in dem es ab und zu rot aufblitzte, stand, glich er einem schwarzen hageren Gespenst.

Den kleinen Petja freute es, wie gut der große Petja zu zielen verstand: kein einziger Fehlschuß. Auf ihren Gesichtern spielte das gleiche Lächeln.

Dieses unschuldige Spiel – das Füsilieren der Flaschen währte noch eine geraume Zeit.


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