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Fürst Alexander Nikolajewitsch Golitzin übermittelte seinem Neffen, dem Fürsten Valerian, den Wunsch des Kaisers, die Besuche im Hause der Naryschkins einzustellen. Als aber Maria Antonowna davon erfuhr, erklärte sie, daß sie ihrer kranken, möglicherweise sterbenden Tochter nicht ihre letzte Freude nehmen wolle, und bat den Fürsten, sie nach wie vor zu besuchen; die Verantwortung vor dem Kaiser wollte sie selbst übernehmen. Mit dem Verlobten ihrer Tochter, dem Grafen Schuwalow, hatte sie sich entzweit, und sie erklärte, daß, wenn auch Sophie genesen sollte, sie trotz des Wunsches des Kaisers ihre Tochter um nichts in der Welt diesem Gauner zur Frau geben würde: in ihrem Haß war sie ebenso unberechenbar und unaufhaltsam wie in ihrer Liebe.
Maria Antonowna setzte ihren Willen durch. Fürst Valerian fuhr fort, Sophie zu besuchen und war nur darauf bedacht, dem Kaiser aus dem Wege zu gehen.
Aus diesem Grund reiste er oft nach Petersburg, wo er die meiste Zeit in Gesellschaft seines neuen Freundes, des Fürsten Alexander Iwanowitsch Odojewskij verbrachte, von allen Mitgliedern der Geheimen Gesellschaft fühlte er sich zu diesem am meisten hingezogen.
Der Reiterfähnrich Odojewskij war erst zwanzig Jahre alt. Er hatte rosige Wangen, weiche aschblonde Locken und blaue, immer lachende Augen. Seine Regimentskameraden nannten ihn ein »junges Mädchen«. Es würde ihm viel besser anstehen, mit anderen Knaben Schmetterlinge zu fangen oder zu spielen, als unter Verschwörern zu sitzen.
»Ich bin von Natur aus leichtsinnig, launisch und faul,« sagte er von sich selbst. »In meinem ganzen Leben habe ich noch nichts Unangenehmes erfahren. Ich bin zu glücklich.
Wir pflücken rasch die Blumen,
Eh' sie die Sichel köpft;
Verlängern uns durch Nichtstun
Des Lebens kurze Frist, –
Das ist auf mich gemünzt.«
Während um ihn die glühendsten Reden von der Zukunft Rußlands, von der Freiheit und der »sich vollziehenden Vervollkommnung der Menschheit« geführt wurden, lächelte er stumm; zuweilen sprang er plötzlich auf und griff nach seinem Helm mit dem weißen Federbusch. »wo willst du hin?« – »Auf den Newskij.« Dann schlenderte er säbelrasselnd durch die Straßen und sah dabei so leichtsinnig aus, daß man glauben mußte, daß er nur für Spazierengehen und Paraden Sinn hätte. Oder er ging in eine Konditorei und überaß sich an Süßigkeiten, wie ein aus der Schule entlaufener Junge.
Bei all dem Kindlichen brannte jedoch in seiner Seele die stille Flamme eines tiefen Gemüts.
Er hing an seiner Mutter so sehr, daß er nach ihrem Tode vor Kummer beinahe gestorben wäre. »Die Mutter war für mich wie Gott,« schrieb er seinem Bruder. »Daß ich ihren Tod ertragen habe, verdanke ich nur meiner Schwäche, denn ich war schwächer als ein Säugling.« Sie erschien ihm oft im Traume, und er glaubte, ihren Ruf zu vernehmen; in den lustigsten Augenblicken wurde er oft traurig und mußte an ein anderes Lied denken:
Wie eine Blume, die vom Sensenstahl bedroht ...
Neben der Mutter liebte er über alles in der Welt die Musik:
»Alle Worte lügen, die Musik allein spricht die Wahrheit.«
Alle die freiheitlichen Gespräche waren für ihn Musik. Jede Lüge, die er bei diesen Gesprächen zu hören bekam, beleidigte sein Ohr wie ein falscher Ton und hinterließ auf seiner Seele einen trüben Fleck, wie ein Hauch auf einem Spiegelglas.
»Sie streben nach Erhabenem; ich auch, wollen wir Freunde sein!« sagte er zum Fürsten Valerian gleich am zweiten oder dritten Tag ihrer Bekanntschaft.
Dieser lächelte und reichte ihm seine Hand. Von nun an, so oft er an sich selbst und an der gemeinsamen Sache zweifelte, brauchte er nur an seinen lieben Freund, den stillen Jüngling Sascha zu denken, um seinen Glauben wieder zu gewinnen und die trübe Stimmung zu verscheuchen.
Die beiden Freunde führten unendliche Gespräche. Sie begannen sie zu Hause und setzten sie dann auf der Straße oder bei einem Ausflug auf die Newainseln fort.
Auf der Krestowskij-Insel promenierten auf den mit gelbem Sand bestreuten und von weißen, nach frischer Farbe riechenden Pfosten eingefaßten Wegen junge Kollegienräte mit Spazierstöcken in der Hand und alte Staatsräte mit ihren Frauen und Töchtern, die ihre Strohhüte und Spitzenhäubchen zur Schau stellten. Sie lauschten der Hornmusik, die von der prunkvollen Villa Mon-Plaisir aus der Apothekerinsel herübertönte und sich wie Orgelspiel anhörte und erquickten sich an der »balsamischen Luft«. Zu dem abendlichen Gesang der Frösche in den Sumpfgräben und den wehmütig-lustigen Tönen des Liedes »O du lieber Augustin« tanzten deutsche Handwerker auf dem Rasen den Großvatertanz. Es roch nach jungem Gras und harzigen Tannen aus dem Walde und Bratwürsten und frischgebrannter Zichorie aus dem Neuen Restaurant, wo Zigeunerinnen kreischten, Geigen quietschten und angeheiterte Gardeoffiziere lärmten. Auf der Krestowskij-Insel herrschten so freie Sitten wie im Goldenen Zeitalter: man durfte dort sogar ungeniert rauchen, was in Petersburg auf den Straßen polizeilich verboten war. Junge Kaufleute fuhren auf der Kleinen Newa im Nachen spazieren, besuchten die Fischer, ließen sich Fischsuppe kochen, schrien, sangen und stritten sich über das Spiel des Schauspielers Jakowlew im Drama »Dmitrij Donskoj«. Die älteren Kaufleute saßen aber mit ihren Frauen auf den mit Moos und Preißelbeeren bewachsenen Hügeln des Ufers und tranken Tee aus Samowaren, die ebenso dickbäuchig und rot waren, wie sie selbst, und in den Strahlen der untergehenden Sonne blendend funkelten.
In den angrenzenden Fichtenwäldern gab es finnische Bauernhäuschen und winzige Landhäuser, die wie Kartenhäuser aussahen, zu vermieten. Die Liebhaber der ländlichen Natur konnten sich hier »ganz wie in der Schweiz« in der Morgendämmerung am Klange der Kuhglocken und Schäferschalmeien ergötzen.
Hier, im Neuen Restaurant, vor einer Flasche Bier oder Wein sitzend, führten die beiden Freunde so absonderliche Gespräche, daß ein Uneingeweihter kein Wort verstehen würde. Golitzin erzählte Odojewskij von den Gesprächen, die er in Paris mit Tschaadajew führte; während das wehmütig-lustige Lied »O du lieber Augustin« herübertönte, flüsterte er ihm jene Worte des Vaterunsers zu, die, wie Tschaadajew glaubte, zum Hosianna des zukünftigen freien Rußlands werden sollten: Dein Reich komme. Adveniat regnum tuum – so unrussisch klangen diese Worte von der russischen Freiheit.
Am meisten interessierte Odojewskij der von Tschaadajew ausgesprochene Gedanke, daß es ohne Gott keine Freiheit, und ohne eine Weltkirche keine Rettung für Rußland geben könne.
»Das ist ja die Hauptsache!« wiederholte der stille Jüngling zitternd und vor Freude errötend. »Dies ist wichtiger als alles. Und doch wird es niemand begreifen ...«
»Hast du es begriffen?« fragte plötzlich Golitzin, ihn mit jenem unerwartetem Lächeln anblickend, das Odojewskij etwas fürchtete; dieses immer unerwartete und anscheinend gehässige Lächeln verstärkte noch seine Ähnlichkeit mit Gribojedow, der gleichfalls Odojewskijs Freund war. Diese Ähnlichkeit mißfiel ihm, doch vermied er von ihr mit Golitzin zu sprechen; sie erschien ihm immer etwas unheimlich.
»Hast du es begriffen?«
»Ich weiß nicht, vielleicht habe ich es auch nicht begriffen,« sagte er noch mehr errötend. »Die Philosophie ist nicht meine Stärke. Mit der Vernunft kann ich vieles nicht erfassen; soll man aber auch wirklich alles mit der Vernunft erfassen wollen? ...«
»Nein, Sascha, hier ist auch die Vernunft durchaus notwendig, hier trennt eine haarscharfe Linie die Wahrheit von der Lüge und die Freiheit von der Sklaverei. Es sind zwei gähnende Abgründe; wenn du ausgleitest, so kannst du dich nicht mehr aufhalten und mußt in den einen von den beiden stürzen, hier heißt es, das eine oder das andere wählen, hast du schon deine Wahl getroffen? Hast du es begriffen? Oder hast du es vielleicht falsch ausgefaßt?«
»Wie soll man es aber richtig auffassen?«
»Wie ich und Tschaadajew es auffassen.«
»Vielleicht ist aber auch eure Auffassung nicht die richtige? ...«
»Dann hätten wir uns ja selbst mißverstanden ...«
»Das ist ja nicht unmöglich. Wir mißverstehen uns ja oft selbst.«
Am gleichen Tage begegneten sie auf der Jelagininsel dem Kaiser.
Er ritt ganz allein, nur vom diensthabenden Flügeladjutanten gefolgt, durch den Waldweg vom neuen Jelaginschen Palais zum Meeresstrande. Die beiden Freunde blieben stehen. Der Kammerjunker zog den Hut, und der Offizier stand stramm. Der Kaiser erwiderte den Gruß mit jenem gütigen Lächeln, das nur ihm allein eigen war: es war für jedermann gleich und dabei doch immer verschieden und einzig.
»Was hast du?« fragte Fürst Valerian Odojewskij, der dem Kaiser mit freudestrahlendem Gesicht nachblickte.
»Nichts ...« erwiderte jener, gleichsam zur Besinnung kommend und wieder errötend. »Jedesmal, wenn ich ihn sehe, wird es mir so sonderbar ums Herz ... Wie er uns eben anblickte, wie er uns zulächelte! ...«
»Du liebst ihn folglich?«
Odojewskij schwieg und errötete noch mehr.
– Warum bist du dann bei der Geheimen Gesellschaft? – wollte ihn Golitzin fragen; Odojewskij sagte aber selbst:
»Wenn er nur wüßte, was wir anstreben, so hätte er sich uns sofort angeschlossen ...«
»Wieso denn? Er würde doch nicht gegen sich selbst auftreten?«
»Gewiß. Er würde sich selbst für das Wohl des Vaterlandes, für das Glück und die Freiheit Rußlands opfern. Wenn der Zar wirklich der Vater ist, wie könnte er dann dulden, daß seine Kinder, sein Volk in Sklaverei schmachten?! Weißt du noch, wie es in der Schrift heißt: Doch die Söhne sind frei.«
»Hier ist aber von Gott und nicht vom Zaren die Rede.«
»Das ist ja gleich.«
»Nein, es ist nicht gleich.«
Sie verstummten und blickten einander erstaunt an; es war ihnen, als sähen sie sich zum ersten Male, wie es oft bei einer zu schnell geschlossenen Freundschaft vorkommt.
»Warum wollen wir ihn dann töten?« fragte plötzlich Fürst Dalerian mit dem unheimlichen Lächeln von vorhin.
»Töten?« rief Odojewskij. »Ach, mein Lieber, wir sprechen ja so viel dummes Zeug und lügen uns selbst an. Wenn einer, der sich wirklich zum Zarenmord entschließt, dieses Gesicht, diese Augen und dieses Lächeln, mit dem er uns eben zugelächelt hat, sieht, so wird er unmöglich seine Hand erheben können: sein Herz wird ihn im Stich lassen! Es gibt keinen solchen Unmenschen, der den Kaiser nicht liebte und nicht mit Freude für ihn sein Leben ließe. Ich wage es gar nicht auszusprechen; doch weißt du, wie es das einfache Volk sagt: ›Zar, Väterchen, unsere liebe Sonne!‹ Wer dieses Gefühl nicht kennt, der ist kein Russe. Wir sind aber alle Russen. Wir kennen auch alle dieses Gefühl, doch haben wir es vergessen; es wird uns aber doch einmal wieder einfallen ...«
»Der Geschmack ist verschieden: der eine liebt den Zaren, der andere liebt die Freiheit,« versetzte Golitzin lachend. »Man kann aber nicht zugleich den Zaren und die Freiheit lieben.«
»Nun siehst du also, daß ich dich vorhin nicht ohne Grund gefragt habe, ob du uns richtig verstehst ...«
»Nein, nein, das ist doch etwas anderes ...«
»Doch, Sascha, es ist ein und dasselbe.«
Sie blickten einander wieder erstaunt an. Wie es oft unter Freunden vorkommt, hatten sie das Gefühl, daß sie sich liebten, doch zu wenig kannten. Liebten sie auch wirklich einander? War ihre gegenseitige Annäherung nicht übereilt?
Sie kehrten zur Krestowskij-Insel zurück, mieteten sich ein Boot und fuhren ins Meer.
Es war eine weiße Nacht. Es war so hell wie am Tage. Doch alle Farben waren gleichsam verschossen. Es blieben nur zwei Farben – weiß und schwarz – wie auf einer Höhlenzeichnung zurück: ein weißes Wasser, ein weißer leerer Himmel, ein letzter durchsichtiger Wolkenstreif, der sich von Westen nach Osten hinzog; ein schwarzer Streifen Land erschien zwischen den beiden weißen Flächen, der des Wassers und der des Himmels, zerdrückt und platt; eine schwarze baufällige Fischerhütte und schwarzes Schilf auf dem flachen Strande vervollständigten die Zeichnung. In der Ferne war alles ganz flach und ganz weiß, und man konnte das Wasser nicht von der Luft unterscheiden. Es herrschte eine tote Stille. Ab und zu hörte man das Plätschern eines Fisches oder ferne Axthiebe; das Dampfboot von Berd, das zwischen Petersburg und Kronstadt verkehrte, das erste und einzige Dampfboot in Rußland, zog unsichtbar vorüber; man hörte nur das Aufklatschen seiner Schaufelräder; und dann wurde die Stille noch grenzenloser.
Sie zogen die Ruder ein. Das Boot schaukelte wie eine Wiege.
Die Rede kam auf Gribojedow. Odojewskij erzählte:
»Als Graf Sawadowskij sich mit Scheremetjew wegen der Tänzerin Istomina schlug, machte Gribojedow den Sekundanten. Ohne ihn wäre das Duell überhaupt nicht zustande gekommen: die beiden Gegner wollten sich eigentlich versöhnen, doch Gribojedow hetzte sie wieder aufeinander. Er sagte später, daß er selbst nicht wußte, warum er es getan. Als Scheremetjew zu Tode getroffen in den Schnee fiel, lief der andere Sekundant, der Husar Kawerin, ein gänzlich versoffener, doch gutmütiger Kerl zu ihm, beugte sich über den Sterbenden, schlug sich auf die Schenkel und rief: ›Hier hast du den Salat!‹ Als Gribojedow davon berichtete, lachte er so, wie er immer lacht: es klingt wie wenn man trockene Knochen aus einem Sacke schüttet; sein Gesicht bleibt aber dabei immer leichenblaß. Er erzählte, daß er den Anblick des sich im Todeskampfe windenden Scheremetjew nie vergessen könne und immer den blutbefleckten Schnee vor sich sähe ...«
Odojewskij verstummte und wurde nachdenklich, plötzlich blickte er Golitzin an und fragte:
»Du hast dir wohl vorhin, als wir vom Zaren sprachen, gedacht, daß ich fähig wäre, eine Gemeinheit zu begehen und euch alle zu verraten; nicht wahr?«
»Nein, Sascha, ich bin nicht um dich, sondern um uns alle besorgt. Wir sind ja alle Träumer und Romantiker ...«
»Gribojedow hat einmal die Romantiker ›Liebhaber des Samowardunstes‹ genannt,« sagte Odojewskij lachend. »Die Bemerkung ist doch gut?«
»Ja. Von diesem Dunst wird es uns allen früher oder später übel werden, das ist es, was ich befürchte ... Du hast recht: wir reden zu viel albernes Zeug. Wenn aber die Stunde kommt, wo man handeln muß, werden wir uns alle blamieren. Vielleicht ist es auch wahr, daß wir alle unbewußt den Zaren lieben und glauben, daß er von Gott eingesetzt ist. Wenn wir das heilige Abendmahl empfangen, spricht der Priester die Worte: ›Der frömmste und autokratischeste Kaiser ...‹; und diese Worte dringen uns tief ins Blut. Wie kann man dem entrinnen? Wir haben es vergessen, doch wenn es uns wieder einfällt, werden wir den Mut verlieren, wie kleine Kinder flennen, vor ihm niederknien und rufen: ›Zar, Väterchen, unsere liebe Sonne!‹ Wir werden uns von allem lossagen, alles verraten und den großen Gedanken erniedrigen. Dies wird uns aber nie verziehen werden! Wir werden uns aus dem blutbefleckten Schnee im Todeskampfe winden, und der Teufel wird über uns das Gebet lesen: ›Hier habt ihr den Salat!‹«
»Wie schrecklich klingen deine Worte, Valerian! Beschütze uns Gott und die heilige Himmelskönigin! ...« sagte Odojewskij, sich andächtig bekreuzend.
Dann verstummte er wieder und versank in seine Gedanken. Beide wollten noch etwas sagen, doch die Stille übertönte alle Worte; unter dem Kiele sangen leise Wellen, und in den Ohren sang die wunderbare Stille. Das Boot schaukelte wie eine Wiege und lullte sie ein. Odojewskij legte sich platt auf den Boden des Bootes, verschränkte die Hände im Nacken und sah zum Himmel hinauf. Plötzlich lächelte er freudig wie ein Kind und sagte:
»Weißt du, was für einen wunderbaren Traum ich neulich gehabt habe? Mir träumte, ich säße im Winter früh des Morgens, wenn es noch finster ist, auf dem Lande bei meinem Bruder Wolodja. Er saß am Fenster bei einer Lampe und las irgendein deutsches Buch; ich glaube, es war der Philosoph Schelling. ›Verdirb dir doch nicht die Augen,‹ sagte ich zu ihm. ›Sag mir lieber, ob dein Schelling an Gott glaubt?‹ – ›Ja, er glaubt an Gott.‹ – ›Auch an die heilige Mutter Gottes?‹ – ›Er glaubt auch an sie.‹ – ›Wie deutet ihr das Wort Mariä Schutz und Fürbitte?‹ Er blätterte im Buch herum, fand die Stelle und zeigte mir mit dem Finger die Zeile; ich las: ›Es herrscht eine allweise Güte über die Welt.‹ – ›So heißt es deutsch; russisch heißt es aber Mariä Schutz und Fürbitte, hast du es verstanden?‹ – ›Ja, ich habe es verstanden.‹ Da wurde es plötzlich so hell um mich herum, als ob die Sonne aufginge; dieses Licht ging von den grünen Tassen mit goldenem Bande aus, aus denen wir in unserer Kindheit auf dem Lande bei der Mutter die Milch tranken; es war im Entresol, dessen halbrunde Fenster auf den Birkenwald hinausgingen. Diese grünen und goldenen Milchtassen, die wie die Sonne durch ein Birkenblatt schimmerten, sehe ich in allen meinen glücklichen Träumen. Sie strahlen wie die Morgensonne. Es war nicht mehr Wolodja's Stimme, sondern eine Musik oder die Stimme meiner verstorbenen Mutter, die mir ins Ohr flüsterte: ›Glaub es mir, Sascha, alles, was ihr wollt, wird in Erfüllung gehen: die Wahrheit, das Glück und die Freiheit; doch über uns alle, du mußt es mir glauben, über uns alle schwebt ständig Mariä Schutz und Fürbitte.‹ Bei diesen Worten erwachte ich.«
Die letzten leisen Wellen unter dem Boote verstummten, die letzten leichten Wolken im Himmel lösten sich auf, und der Himmel wurde ganz leer und ganz weiß; es gab keinen Himmel, kein Wasser, kein Land und keine Luft mehr; es war eine grenzenlose und weiße Leere. Nur dort, wo Petersburg lag, leuchtete die Turmspitze der Peter-Pauls-Feste, und hie und da konnte man noch einige Fischerhütten erkennen, die wie von der Strömung ans Ufer getriebene Spänchen aussahen. Die Leere war weiß und gläsern, wie das offene Auge eines Toten. Es war so still und so schwül wie unter einem Grabtuch. War das nicht »Mariä Schutz und Fürbitte«?
»Sascha!« rief Golitzin, nur um seine Stimme zu hören.
Odojewskij gab aber keine Antwort: er schlief. Vielleicht träumte er wieder von den grüngoldenen Milchtassen, von seiner Mutter und Musik.
Golitzin überfiel ein Grauen. Er wollte aufschreien, doch seine Stimme versagte, und wenn es ihm auch gelungen wäre, aufzuschreien, so hätte er nicht seine eigene Stimme, sondern die des nächtlichen leeren weißen Teufels vernommen: »Hier hast du den Salat!«
In die Stadt zurückgekehrt, traf er in seiner Wohnung einen Boten mit einem Brief von Maria Antonowna: sie schrieb ihm, daß Sophies Befinden sich wieder verschlimmert hätte, und bat ihn, sofort hinauszukommen.
Er begriff, daß sie bereits im Sterben lag.