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VII.

Aufzeichnungen des Fürsten Valerian Michailowitsch Golitzin.

Den 1. Januar 1823. »Die russischen Kaiser sind das Oberhaupt der Kirche.« Dieser Satz befindet sich in der Urkunde, die in der Mariä-Himmelfahrts-Kathedrale zu Moskau am Tage der Thronbesteigung Pauls I. verlesen wurde. Ich hatte heute darüber ein sehr bemerkenswertes Gespräch mit Tschaadajew. Die Einsetzung eines irdischen Herrschers an Stelle des himmlischen Herrschers Jesu Christi ist nicht nur die äußerste Gotteslästerung, sondern auch ein vollständiger Abfall von Christo und eine Hinneigung zum Andern, von dem es geschrieben steht: »Ein Andrer wird in seinem eignen Namen kommen, den werdet ihr annehmen.«

Den 2. Juli 1824. Es ist über ein Jahr her, seit ich diese Aufzeichnungen in Paris begonnen und abgebrochen habe. Jenes Gespräch war das letzte, das ich mit Tschaadajew geführt habe. Nach Rußland zurückgekehrt, hatte ich an ganz andere Dinge zu denken.

Jetzt habe ich wieder etwas freie Zeit und fahre fort. Wenn man krank ist, hat man immer freie Zeit. Ich bin krank, obwohl ich nicht weiß, was mir eigentlich fehlt. Der Stabsarzt Kossowitsch, der mich behandelt, ein gutmütiges altes Männchen, ein richtiges Marienkäferchen, läßt die Frage unentschieden, ob es eine von der Verstimmung der Leber herrührende Melancholie, oder ein schleichendes Nervenfieber ist.

»Man sollte Ihnen Blutegel ansetzen,« sagte er zu mir.

»Nun, setzen Sie sie nur an: dann wird ein Blutegel auf einem anderen sitzen.«

Er erschrak und glaubte, daß ich phantasiere.

»Was heißt es, ein Blutegel auf dem anderen?« fragte er mich.

»Sie haben, Herr Doktor, ja selbst gestern gesagt, daß jene Menschen, die in allen Dingen nur das Schlechte sehen, Blutegeln gleichen, die das verdorbene Blut heraussaugen. Darin besteht eben meine Krankheit, helfen Sie mir, wenn Sie es können.«

»Nein, unsere Arzneien können dagegen nicht helfen; hier ist eine geistliche Behandlung notwendig.«

»Meinen Sie die Philosophie?«

»Nein, warum die Philosophie? Ihr Licht leuchtet im Sturme der menschlichen Leiden noch schwächer, als ein Lämpchen vor dem Bilde der heiligen Jungfrau.«

»Ich danke dafür; ich habe an den Lampen meines Onkels genug. Das Lampenöl ist heute billig. Dann ziehe ich Blutegel vor!«

Ich mußte lachen. Es ist ein dummes und häßliches Lachen, und doch kann ich mich seiner nicht enthalten. Oft möchte ich weinen und muß lachen.

Mein Alter wurde wütend und glich so einem wütenden Marienkäferchen. Er ist ja ein Mystiker, Mitglied einer geheimen Gesellschaft, (die unsrige ist ja nicht die einzige), ein Sohn der Philadelphischen Kirche der Frau Staatsrätin Tatarinowa.

Den 3. Juli. Seit dem Tode Sophies sind kaum drei Wochen vergangen. Wenn ich weinen könnte, so brauchte ich die Blutegel nicht; ich kann aber nicht weinen. Sophies alte Kinderfrau, Wassilissa Prokofjewna, stellte bei den Totenmessen eine Schale mit Wasser aufs Fensterbrett, »damit die Seele sich darin wasche«; sie tat es so überzeugt, als ob das Waschwasser für eine Lebende bestimmt wäre. Uns aber, den greisenhaften Enkeln des Greises Voltaire, sind »alle Ansichten über die Unsterblichkeit der Seele durchaus dunkel«, wie mein Großvater, der Voltairianer, zu sagen pflegte. Er sagte auch: »Wir sehen uns ja noch, wenn wir bis dahin keinen dummen Streich machen.« Einen dummen Streich nannte er das Sterben. Wir aber, die Enkel dieses Großvaters, können nicht einmal einen ordentlichen dummen Streich machen.

Nicht umsonst hat mich wohl Sophie gewarnt, daß ich im Alter jenes häßliche Lachen bekomme. Ich glaube, ich habe es schon jetzt.

Wir glauben nicht an jene allweise Güte, die nach Schellings Ansicht über die Welt herrscht, sondern an den Affen des Holbachschen Systems. »Stelle dir einmal das Schicksal als einen großen Affen vor. Wer könnte ihn an die Kette legen? Weder du, noch ich. Folglich kann man hier weder etwas tun, noch sagen,« schrieb Puschkin an Wjasemskij, als diesem ein Kind gestorben war. Hier kann man weder etwas tun, noch meinen. Man kann nur lachen, in allen Dingen das Schlechte sehen und sich wie ein Blutegel mit schwarzem Blut vollsaugen.

Es heißt, daß die Verrückten mit sich selbst sprechen, vielleicht sind diese Aufzeichnungen auch nur das Selbstgespräch eines Verrückten.

Den 4. Juli. Meine Tante schreibt mir, ich möchte zu ihr aufs Land kommen. Nein, ich will nicht hin. Ich fühle mich auch hier in der leeren Wohnung des alten Bauerschen Hauses an der Wäscherinnenbrücke sehr wohl. Die Fenster sind übertüncht, die Spiegel und die Möbel stecken in Überzügen; in den leeren Zimmern ist es so bequem auf und ab zu gehen; wenn ich müde werde, lese ich in einer vergilbten Nummer der »Senatsnachrichten«, in die die Vase auf dem Ecktischchen eingewickelt ist, den Bericht über die Schlacht bei Kulm. Oder ich liege auf dem Sofa und stecke meine Nase in den geflickten alten Überzug; ich habe dabei über so viele Dinge nachgedacht, daß ich diesen Überzug wohl nie vergessen werde. Wenn es zu heiß ist, öffne ich ein Fenster; dann dringt ins Zimmer von der Fontanka her der Geruch von faulen Fischen und von Teer, mit dem das Holzpflaster auf dem Schloßquai repariert wird, und von Fichtenbalken, die von den Schiffsarbeitern in Karren über die schmalen Bretter transportiert werden. Manchmal kommt plötzlich aus dem Sommergarten der Honigduft von jungen Linden, und dann muß ich an die alten Linden in Pokrowskoje denken, an den Parkteich und die Treibhäuser, wo ich mit Sophie Schukowskijs »Ludmilla« las:

Liebste, bleibst an dieser Stätte,
Denn das Grab ist unser Bette.
Und das Bahrtuch kühlt die Glut:
In der Erde schläft's sich gut!

Ja, der Schlaf wäre gut, wenn es nur nicht die schrecklichen Träume gäbe. Im Traume sehe ich immer das Äffchen Atjka als jenen Schicksalsaffen, von dem Puschkin an Wjasemskij schrieb; er wälzt sich mit seinem zottigen Fell auf meinem Gesicht herum und würgt mich; dicht neben meinem Ohre summt aber wie eine Mücke die Stimme meines lieben stillen Freundes Sascha: »Es herrscht eine allweise Güte über die Welt.«

Und ich lache. Ich lache auch im Traume und werde wohl auch im Sterben ebenso häßlich lachen.

Den 8. Juli. Der Dichter Gribojedow wohnt bei Odojewskij. Sie sind befreundet. Ich liebe Gribojedow nicht. Manche begehen Selbstmord mit einem Dolche, manche mit einem Strick und manche mit einer Kugel; er tötet sich aber mit seinem Lachen.

Es heißt, daß ich ihm ähnlich sehe. Um Gotteswillen! Klingt denn auch mein Lachen so, als wenn man trockene Knochen aus einem Sacke schüttet?

Neulich las er in großer Gesellschaft sein Lustspiel »Verstand schafft Leiden«. Er setzte sich an den Tisch und legte das Manuskript vor sich hin. Wassilij Michailowitsch Fjodorow, ein etwas einfältiger Alter, der Verfasser des schlechten Dramas »Lisa, oder die Folgen der Verführung und des Stolzes«, ging auf ihn zu, nahm sein Manuskript und wog es mit der Hand.

»Oho!« jagte er, »das Stück ist schwer, es reicht an meine Lisa heran!«

Gribojedow sah ihn giftig durch seine Brille an und murmelte durch die Zähne:

»Ich schreibe kein albernes Zeug.«

Fjodorow wurde ganz konfus.

»Niemand zweifelt daran, Alexander Ssergejewitsch; ich hatte durchaus nicht die Absicht, Sie durch den Vergleich Ihres Stückes mit dem meinigen zu verletzen, und bin bereit, selbst darüber zu lachen ...«

»Sie können über sich lachen so viel Sie wollen; ich werde aber niemandem erlauben, über mich zu lachen.«

»Ich bitte um Verzeihung, Alexander Ssergejewitsch, ich habe mir wirklich nichts dabei gedacht ...«

»Ich zweifle nicht daran, daß Sie sich nichts gedacht haben!«

Als der Hausherr sah, daß die Sache eine schlimme Wendung nahm, ging er auf Fjodorow zu, legte ihm die Hand aus die Schulter und sagte:

»Wir werden Wassilij Michailowitsch zur Strafe dafür in die hinterste Reihe setzen.«

»Sie können ihn setzen, wohin Sie wollen; in seiner Gegenwart werde ich aber nicht lesen!« erklärte Gribojedow. Er stand auf und begann rauchend auf und ab zu gehen.

Fjodorow wurde abwechselnd rot und blaß und weinte beinahe. Schließlich griff er nach seinem Hut.

»Es tut mir sehr leid, Alexander Ssergejewitsch, daß mein unschuldiger Scherz so unangenehme Folgen nach sich zog; um aber dem Hausherrn und seinen Gästen nicht das Vergnügen zu nehmen, Ihr Stück zu hören, gehe ich fort.«

Odojewskij behauptet: »Wenn man Gribojedow näher kennen lernt, muß man ihn lieb gewinnen.« Vielleicht liebe ich ihn deswegen nicht, weil ich auch mich selbst nicht liebe und ihn wie einen Doppelgänger fürchte.

Den 9. Juli, heute habe ich bei Odojewskij gefrühstückt. Ich bekam plötzlich Kopfschmerzen. Der Hausherr brachte mich in sein Arbeitszimmer, ließ die Vorhänge herunter und band mir ein mit Essig befeuchtetes Handtuch um den Kopf. Ich schlummerte etwas ein. Ich erwachte aber bald, denn im Nebenzimmer wurde laut gesprochen. Ich erkannte die Stimme Gribojedows:

»Ich habe die Gestalten des Famussow und Skalosub geschaffen und bin folglich ein lustiger Patron! Daß euch alle der Teufel! Mir ist gar nicht lustig zumute, ich langweile mich gräßlich. Ich trage eine fremde Larve vor dem Gesicht und lebe gleichsam in fremder Gestalt. Doch die Zeit vergeht; in meiner Seele brennt ein Feuer, in meinem Kopfe regen sich neue Gedanken. Warum bin ich dann schweigsam wie ein Grab? Für mich selbst ist es ein Rätsel, ob ich irgendwie tauge, ob ich zu schreiben verstehe. Meine Seele verdorrt, mein Geist verfinstert sich, ich sehe nur Finsternis vor mir ... Es ist ein unbeschreibliches Unlustgefühl! ... Wenn es noch lange so geht, habe ich durchaus nicht die Absicht, mich mit Geduld zu wappnen; sie möge die Tugend der Ochsen bleiben! ... Sascha, Sascha, mein lieber Freund, hilf mir um Christi willen, sage mir, was ich tun soll, wie ich dem Wahnsinn und dem Selbstmorde entrinnen kann; denn ich fühle, daß mir das eine oder das andere droht ...«

Ich mußte an die Worte denken, die der Sekundant Kawerin, über den sterbenden Scheremetjew gebeugt, sprach: »Da hast du den Salat!«

Es wurde mir so unheimlich zumute, als ob ich meinem Doppelgänger zuhörte, der über mich selbst erzählte.

Odojewskij versuchte Gribojedow zu trösten; dieser hörte ihm aber nicht mehr zu: er setzte sich ans Klavier und spielte. Er spielte sehr lange. Er kann oft alles vergessen und stundenlang improvisieren. Zuweilen scheint es mir, daß sein eigentlicher Beruf nicht die Literatur, sondern die Musik ist.

Ich schlummerte wieder ein und hörte nicht, wie sich inzwischen alle Unsrigen versammelt hatten. Sie sprachen wohl über die Angelegenheiten der Geheimen Gesellschaft. Ich erwachte, als die Musik verstummte und die trockenen Knochen wieder aus dem Sacke geschüttet wurden: Gribojedow lachte.

»Genug des Unsinns, meine Herren!«

»Wieso Unsinn?«

»Hundert Fähnriche wollen in Rußland Revolution machen!«

»Es sind nicht hundert Fähnriche, sondern das ganze Volk ...«

»Das Volk lassen Sie lieber aus dem Spiele.«

Ich betrat das Zimmer. Gribojedow zog seine seinen Lippen zusammen, blickte die Versammelten durch die Brille an und fuhr fort; er lachte nicht mehr, sondern sprach mit aufrichtiger Erbitterung:

»Das Volk kümmert sich nicht um uns. Es ist von uns ewig verschieden. Die Bauern und die Herren sind in Rußland zwei gänzlich verschiedene Rassen. Welchem schwarzen Zauber ist es aber zuzuschreiben, daß wir ihnen, die doch vom gleichen Fleisch und Blut sind, so entfremdet sind? Wir sind in ihrer Vorstellung Hanswürste, Unmenschen, schlimmer als die Deutschen, Peterchens Kinder ...«

»Wer ist Peterchen?«

»Ich meine euren Liebling, Peter den Großen, daß ihn der Teufel!«

Er fügte noch ein gemeines Schimpfwort hinzu, lachte auf und begann mit einem Finger die Melodie des Rylejewschen Liedchens zu klimpern:

Wo liegt jenes Gebiet,
Wo das Kraut »Schnuppe« blüht,
Brüder!

»Meine Herren, wir wollen doch lieber in den Schusterklub gehen. Es gibt dort viel Porter, und er ist nicht teuer! Wir wollen trinken und uns vergnügen; zum Teufel die Politik!«

Als ich mit Iwan Iwanowitsch Puschtschin nach Hause ging, erzählte ich ihm davon, wie uns Gribojedow neulich aufgefordert hatte, in die Kirche zu gehen: »Die Russen pflegen sich in den Kirchen zu versammeln; sie beten und denken dort russisch. Nur in der Kirche sind wir Russen.«

Puschtschin wurde nachdenklich und sagte:

»Vielleicht hat er auch recht.«

»Wieso hat er recht? Sie selbst gehen doch nie in die Kirche.«

»Sie irren: ich gehe oft in die Kirche.«

»Beten Sie auch für den Zaren?«

»Nein; das ist auch unwesentlich.«

»Wieso ist es unwesentlich? Der Zar ist ja das Oberhaupt der Kirche.«

»Nicht der Zar, sondern Christus.«

»Anderswo ist es Christus, bei uns aber der Zar.«

»Warum bei uns?«

»Weil die russischen Kaiser das Oberhaupt der Kirche sind.«

»Wo haben Sie das her?«

Ich erzählte ihm, wo ich es her hatte. Er erstaunte.

»Es ist höchst merkwürdig. Warum weiß es aber niemand?«

»Ja, wir wollen die Autokratie stürzen und wissen selbst nicht, worauf sie steht.«

Wir schwiegen eine Weile. Dann sagte ich:

»So stehen die Dinge, Iwan Iwanowitsch. Es ist daher besser, wenn wir in den Schusterklub und nicht in die Kirche gehen. Sonst ist es eine Gotteslästerung. Was dem Volke ein Heiligtum ist, ist uns schnuppe, wie es im Rylejewschen Liedchen heißt ...«

»Oder ein ›trockenes Huhn‹,« bemerkte Puschtschin lächelnd.

»Wieso ein trockenes Huhn?«

»In Moskau,« erklärte er mir, »erzählte mir ein Mann, daß er einmal eigens nach Kiew reiste, um den Geschmack von Heiligenreliquien zu versuchen. Als ich ihn fragte, wie sie ihm schmeckten, antwortete er: ›Wie ein trockenes Huhn, weder Saft noch Geschmack.‹«

Anfangs begriff ich es nicht; später mußte ich aber so lachen, daß ich beinahe erstickte; Puschtschin sah mich erstaunt an und sagte:

»So ist es, wir kauen Heiligenreliquien wie ein trockenes Huhn!«

Den 11. Juli. Bulgarin und Gretsch sind die Herausgeber der gemeinen »Blätter für Literatur«. Dieses Pärchen ist im »Irrenhaus« von Wojejkow wie folgt verewigt:

Neben Gretsch, in gleicher Zelle,
Sitzt mit schaumbedecktem Mund
Herr Bulgarin, sein Geselle,
Bissig wie ein toller Hund.

Gretsch und Bulgarin sind alle beide Hunde: sie machen ganz öffentlich die gemeinsten Dinge und blicken dabei alle mit unschuldigen Augen an.

»Ist es wahr, daß Gretsch im Dienste der Geheimpolizei steht?« fragte neulich Rylejew.

»Unsinn! Er bot sich der Geheimpolizei an, man wollte ihn aber nicht nehmen,« erwiderte Bulgarin.

Und bald darauf, als er etwas angeheitert war, fing er an, Gretsch zu umarmen und abzuküssen.

»Mein lieber Gretsch, ich begreife ja vollkommen, daß du, als treuer Untertan, die Pflicht hast, alles bei der Behörde anzuzeigen. Du mußt aber mich, deinen alten Freund, jedesmal darauf vorbereiten, damit ich meine Maßregeln treffen kann.«

»Wenn die Revolution kommt, werden wir dich, Bulgarin, auf deinen eigenen ›Blättern für Literatur‹ köpfen!« warnte ihn Rylejew.

»Wofür denn, meine Herren? Ich bin ja ebenso liberal gesinnt, wie ihr. Mein Vater war ein toller Republikaner und kam nach dem polnischen Aufstand nach Sibirien; ich heiße Thaddäus zu Ehren Kosciuskos ...«

»Das ist ja alles erlogen, Thaddäus!«

»Ich schwöre es bei den grauen Haaren meiner Mutter!«

»Du hast ja selbst erst gestern erzählt, daß deine Mutter tot ist?«

»Gut, dann schwöre ich es bei der Seele meiner Mutter!«

Gribojedow nennt Bulgarin seinen Kaliban und behandelt ihn mit großer Zärtlichkeit.

»Ich weiß ja, mein Lieber, daß du eine Kanaille bist, doch liebe ich dich für deinen Verstand!«

Dabei kugelt er sich vor Lachen, wenn der »große Dichter« erzählt, wie er Napoleon während des Überganges über die Beresina das Leben gerettet hat.

Als wir neulich bei Bulgarin soupierten und etwas zu viel Champagner getrunken hatten, sangen wir zuerst unanständige und dann aufrührerische Lieder. Seine Wohnung liegt zur ebenen Erde in der Offizierskaja, unweit der Polizeiwache. Bulgarin lief jeden Augenblick ins Nebenzimmer, um nachzuschauen, ob nicht ein Revieraufseher auf den Balkon geklettert sei, um zu horchen.

»Ich bin nicht feig, meine Lieben, ich habe es bei Leipzig bewiesen, wo ich verwundet wurde ...«

»Wo wurdest du denn verwundet?«

»Auf der Brust.«

»Und nicht hinten?«

»Nein, ich schwöre es bei den grauen Haaren meiner Mutter, daß es auf der Brust war! Ich bin nicht feige, doch fürchte ich zwei Dinge: den blauen Kittel eines Gendarmen und den roten Rock der Tante ...«

Die »Tante« war seine Schwiegermutter, oder vielleicht nur eine Tante seiner Frau, eine alte Kupplerin, die ihn oft so verprügelte, daß er eine blaue Brille tragen mußte, um seine blaugeschlagenen Augen zu verdecken. –

Mit diesen beiden Spitzbuben verbindet uns die intimste Freundschaft. Es fehlt nur noch, daß wir sie in die Geheime Gesellschaft aufnehmen.

Wie sind sie nur in unseren Kreis hereingeraten? Wofür haben wir sie so lieb gewonnen? Puschtschin sagt, daß diese Vorliebe für jede Schweinerei eine angeborene Eigenschaft aller Russen sei.

Bis einer meiner Freunde geisteskrank wurde, behauptete er immer und überall, daß es stinke. So scheint es auch mir, daß es überall nach Bulgarin stinkt.

Doch vierzigtausend Bulgarins könnten mich nicht von meiner Überzeugung abbringen, daß die Wahrheit auf unserer Seite ist. Wir erniedrigen aber diese Wahrheit, indem wir uns selbst erniedrigen.

Gribojedow diente in seiner Jugend bei den Husaren in Brest-Litowsk; einmal versteckte er sich auf dem Chor der Jesuitenkirche. Als die Mönche sich versammelt hatten und die Messe begann, setzte er sich an die Orgel und begann nach den Noten, die dort aufgeschlagen waren, zu spielen; er spielte wunderbar. Plötzlich verstummten die heiligen Weisen, und vom Chore tönte die Kamarinskaja.

Daß es uns nicht ebenso geht: wir beginnen mit einer Messe und können jeden Augenblick mit einer Kamarinskaja enden.

Wir strebten nach Blut und bleiben im Schmutz stecken.

Den 12. Juli. Nun sind wir wieder aus dem Schmutz ins Blut geraten.

Gestern war eine Versammlung bei Puschtschin. Rylejew stellte uns mehrere junge Seeoffiziere aus Kronstadt, Leutnants und Schiffsfähnriche vor. Sie haben eine eigene, von der unsrigen unabhängige Geheime Gesellschaft gebildet.

Es sind ganz junge Burschen, richtige Gelbschnäbel. Alle diese Wassjas, Koljas, Petjas und Mitjas sehen einander auffallend ähnlich.

»Wie leicht ist es,« spricht so ein Mitja, »in Rußland eine Revolution zu machen. Man braucht nur gefälschte Senatsbefehle zu verschicken.«

»Man nehme irgendein großes Buch,« sagt Kolja, »mit einem goldenen Siegel und der Inschrift ›Gesetz‹, und zeige es den Regimentern; dann kann man alles erreichen!«

»Man braucht nicht einmal ein Buch,« wendet Petja ein, »es genügt, wenn man unter Trommelschlägen von Regiment zu Regiment geht: dann fliegt alles zum Teufel!«

Es wurde noch vorgeschlagen, nach der Absetzung des Kaisers den minderjährigen Großfürsten Alexander Nikolajewitsch zum Thronfolger auszurufen und eine Regentschaft einzusetzen; oder die Krone der Kaiserin Jelisaweta Alexejewna anzutragen: in ihrer allbekannten Herzensgüte werde sie gewiß der Errichtung einer Republik zustimmen; oder schließlich auf dem Kaukasus einen neuen Staat mit der Dynastie der Jermolows zu gründen und von dort aus Rußland zu erobern. Das Wichtigste aber sei, sofort ohne Zeit zu verlieren, irgendwo im Walde eine geheime Druckerei und eine Fabrik für falsches Papiergeld zu gründen.

Mir fiel die Antwort ein, die Graf Potocki gab, als man ihm vorschlug, zum Angeln mitzukommen: »Ich ziehe vor, mich auf eine andere Weise zu langweilen«; ich wollte also weggehen.

Rylejew brachte aber Leben in die Versammlung, indem er die Rede auf den Zarenmord brachte. Er sagte:

»Es ist eine Schande, wenn fünfzig Millionen Menschen unter dem Joche eines Einzelnen schmachten! ...«

»Es ist wahr! Es ist wahr!« riefen wie ein Mann alle die Koljas, Petjas, Wassjas und Mitjas. »Das ist auch unsere Ansicht! Wir sind alle von Tatendrang erfüllt! Man muß das Böse vernichten und frei werden!«

»Man muß die Freiheit mit dem Blute erkaufen!«

»Seinen letzten Blutstropfen freudig dem Vaterlande opfern!«

»Sich wie Curtius in den Abgrund stürzen, wie Fabius dem Tode weihen!«

»Meine Herren, ich will die Verantwortung auf mich laden,« rief plötzlich der Allerjüngste dazwischen; er hatte kornblumenblaue Augen und rosige Wangen mit leichtem Flaum, wie ein Pfirsich; er war besonders elegant gekleidet und schien ein echtes Muttersöhnchen. »Ich bin bereit, der Régicide zu sein. Ich kann aber nicht kaltblütig morden, denn ich habe ein zu gutes Herz: ich werde zwei Pistolen nehmen; mit der einen erschieße ich ihn, und mit der anderen mich selbst. So wird es kein Mord, sondern ein tödlicher Zweikampf sein.«

Ein anderer, der etwas älter schien, erklärte uns, wie man es machen sollte; er sprach von diesem lustigen Spiel mit einem Lächeln, das ich, wenn ich auch hundert Jahre lebe, nie vergessen werde:

»Nichts ist leichter, als den Kaiser im Palais oder bei einem Ausgange zu ermorden: man bringt im Griffe des Degens eine winzige Pistole an und schießt, während man den Degen neigt.«

Er nahm Papier und Bleistift und entwarf den Degengriff mit der Öffnung, in der die kleine Pistole, wie man sie Kindern zu Weihnachten schenkt, verborgen werden sollte.

»Die Kugel muß natürlich auch sehr klein sein; man muß gut zielen und ihn entweder ins Auge oder in die Schläfe treffen; man kann auch die Kugel vergiften, und dann ist die kleinste Verletzung tödlich.«

Darauf sprachen wieder alle durcheinander: es genüge nicht, den Kaiser allein zu töten, man müsse das ganze Geschlecht ausrotten.

»Alle müssen vernichtet werden, ohne Ansehung des Geschlechts und des Alters!«

»Niemand darf verschont werden!«

»Selbst ihre Asche muß in alle Winde gestreut werden!«

»Das nenne ich tapfere Burschen!« begann Rylejew zu prahlen, als alle gegangen waren. »Aus solchen Leuten sollte man die ›todgeweihte Kohorte‹ bilden!«

»Nein, man sollte ihnen einfach die Hemdchen hochnehmen und sie ordentlich durchhauen!« brummte Kachowskij. »Diese Milchbärte sprechen auch schon vom Blutvergießen.«

»Wie denken Sie darüber, Fürst?« fragte mich Rylejew.

»Wissen Sie, wie man das, was wir tun, nennt?«

»Wie?«

»Kinderschändung.«

Ich glaube, er hat mich nicht verstanden. Als ich fortging, fragte er alle, warum ich ihm zürne.

Ja, es ist eine Kinderschändung. Es ist gemein, zu morden, aber noch gemeiner ist es, vom Morden zu sprechen, während man weiß, daß man es doch nie tun wird.

Es ist wirklich sehr leicht, den Kaiser zu töten: man trifft ihn oft in Zarskoje Ssjelo bei Wachtparaden, Ausgängen und auf der Straße allein, ohne jede Bewachung. Man könnte ihn vielleicht auch wirklich mit einer Kinderpistole erschießen. Und doch werden wir es nie tun. »Das Herz wird es nicht zulassen, die Hände werden sich nicht erheben.«

Sind wir vielleicht doch feig? Nein, wir sind nicht feig. Ich kannte einen tapferen Hauptmann; in der Schlacht, während die Kanonenkugeln um ihn nur so herumflogen, blieb er ruhig wie am Schachbrett; und doch räumte er jeden Abend vor dem Schlafengehen sein Handtuch fort, damit es ihm nicht in der Nacht als Gespenst erscheine. So geht es auch uns mit dem Zaren: wir wissen nicht, ob wir ein Gespenst oder ein Handtuch vor uns haben.

Wieder fiel mir Sophies schrecklicher Traum ein, wie ich mich mit einem Dolche auf den Toten stürzte, um ihn zu ermorden. Ich habe auch sein lebendes Gesicht über ihrem Sarge gesehen. Und es war noch mehr tot als das ihrige.

Es wäre eine Gemeinheit, jetzt aus der Gesellschaft auszutreten. Aber noch gemeiner ist es, mit solchen Gedanken bei der Gesellschaft zu bleiben. Ich will nicht Heiligenreliquien wie ein trockenes Huhn kauen, ich will nicht Kinder schänden, ich will nicht die Messe mit der Kamarinskaja, Blut mit Schmutz vermengen.

Den 13. Juli. Ich erklärte Rylejew meinen Austritt aus der Geheimen Gesellschaft. Er glaubte anfangs, daß ich scherze; als er aber sah, daß ich Ernst machte, wurde er grob und verlangte Erklärungen von mir. Ich hoffte schon, daß es zu einem Duell kommen würde. Puschtschin mischte sich aber ein und brachte die Sache in Ordnung. Auch Rylejew wurde plötzlich kleinlaut, verstummte und wandte sich traurig und gekränkt von mir ab.

Er tut mir leid. Er sieht, daß die Sache schlecht steht, und doch sucht er sich Mut einzuflößen, »wenn alle die Gesellschaft verlassen,« sagte er neulich, »so werde ich sie als in meiner Person doch noch fortbestehend betrachten.«

Vielleicht hat er auch recht: selig ist, der da glaubt.

Den 14. Juli. Kossowitsch erzählte mir von der Geistlichen Vereinigung der Tatarinowa. Er sagte:

»Ich werde in meinem Herzen das Zeugnis dafür bewahren, daß die prophetischen Worte Jekaterina Filippownas eine Gabe des tröstenden heiligen Geistes sind. Der Herr hat ihr eine Macht über mich verliehen. Sie hilft mir meine Leiden zu ertragen, nährt und belebt meine Seele. Sie ist wahrlich meine mir von Gott gegebene Mutter. Ich bin zu ihr wie in ein Vaterhaus, wie ein Kind zur Mutter gekommen.«

Jekaterina Filippowna hat neulich einen Traum gehabt, der für mich armen Sünder bedeutungsvoll sein soll. Sie beauftragte Kossowitsch, mir ihren Segen zu überbringen.

Er will, daß ich einmal mit ihm zu ihr gehe: »Ein einziges Wort von Mamachen wird Sie schneller als alle Arzneien gesund machen.«

Vielleicht gehe ich auch wirklich hin. Ist es denn nicht ganz gleich, ob ich in den Englischen Klub, zu einem Abendessen bei Bulgarin oder in die Philadelphische Gesellschaft gehe?

Den 15. Juli. Ich war heute mit Kossowitsch bei der Tatarinowa.

Am äußersten Ende der Stadt, an der Moskauer Landstraße, stehen am Rande des alten Fichtenwaldes drei aus Holz gezimmerte Landhäuser. Die Tore sind immer verriegelt, ein hoher Zaun aus nach oben zugespitzten Balken umgibt die Häuser, die noch außerdem von wütenden Kettenhunden bewacht werden; das Ganze sieht halb wie ein Kloster und halb wie ein Zuchthaus aus. Innen gibt es unzählige finstere Treppen und Korridore. Die Zimmer gleichen Kapellen: man sieht eine Menge von Heiligenbildern, Kirchenfahnen, Kronleuchtern und Kerzen. Im großen Saal ist auf der Decke der Heilige Geist in Gestalt einer Taube gemalt; ein großes Wandgemälde vom Akademieprofessor Borowikowskij stellt das heilige Abendmahl dar.

Frau Tatarinowa empfing uns in ihrem Schlafzimmer, einer engen Zelle, wo es nach Arzneien, Weihrauch und Moschus roch. Obwohl wir jetzt Juli haben, war das Zimmer überheizt. Eine Menge Leute drängten sich in dem kleinen Raum; der Geheimrat und Departementsdirektor im verflossenen Ministerium meines Onkels, Wassilij Michailowitsch Popow; der Staatsrat und Direktor der Philanthropischen Gesellschaft, Martin Stepanowitsch Pilezkij; der Stabskapitän Gagin; der Leutnant a. D., Neffe des Generalgouverneurs und mein ehemaliger Nebenbuhler bei der Tänzerin Istomina, Aljoscha Miloradowitsch; der Kommandeur des Leibgardejägerregiments, Generalmajor Golowin; der alte Kanzleidiener oder Schreiber Lochwizkij; ein Fräulein Piper, Haushälterin bei Frau Sagriaschskaja; die Waschfrau Lukerja; und die »blöde Praskowja«, eine Bettlerin vom Kirchenportal.

Am interessantesten war aber Nikituschka. Der ehemalige Soldat und Musiker am Ersten Kadettenkorps und nun für seine Prophezeiungen zum Titularrat beförderte Nikita Iwanowitsch Fjodorow ist neben Mamachen der erste Lehrer und Prophet der Gesellschaft. Es ist ein unansehnliches altes Männchen in schmierigem Frack, mit dem Stanislausorden im Knopfloch und einem Messingring im Ohr. Er sieht ganz wie ein alter Polizeisoldat aus. Er kann kaum lesen und schreiben, ist aber dabei ein vorzüglicher Musiker und komponiert geistliche Gesänge nach dem Vorbilde russischer Volkslieder.

Nikituschka saß auf einem niedrigen Schemel zu den Füßen Mamachens und klimperte auf einer kleinen Harfe.

Frau Tatarinowa lag wie eine Kranke hingestreckt auf einem Ledersofa. Sie hat ein ausgemergeltes, hageres Gesicht von brauner Hautfarbe. Auf der Oberlippe hat sie einen leichten Anflug von einem Schnurrbart. Sie erinnert halb an eine alte Zigeunerin und halb an die Mutter Gottes Odigithria, deren Bild über ihrem Bette hängt. Sie hat durchsichtig gelbe Augen, die wohl im finstern wie bei einer Katze leuchten. Ich habe noch nie eine Frau mit so ausgesprochen männlichen Augen gesehen. Dieses Männliche im Weiblichen ist bei ihr recht anziehend.

Sie benimmt sich höchst vornehm: sie ist eine geborene Baronesse Buxhevden und hat ihre Erziehung im Smolnyj-Kloster genossen; sie spricht französisch besser als russisch.

»Wenn es Ihnen in unserer Philadelphischen Gesellschaft nicht gefällt,« sagte sie mit großer Würde zu mir, »so bitten wir Sie inständig, über uns nichts zu verbreiten: die Welt hat auch so genug Stoff zum Lästern.«

Dann sagte sie mir ins Ohr mit einem so freundlichen Gesichtsausdruck, als ob wir alte Freunde wären:

»Ich weiß, daß Sie von einem schweren Leid bedrückt sind; hoffen Sie aber auf den Herrn ...«

Ich fürchtete, daß sie gleich das Gespräch auf Sophie bringen würde; hätte sie das getan, so wäre ich sofort weggegangen. Sie hatte aber wohl selbst begriffen, daß sie davon nicht sprechen durfte; sie schwieg eine Weile und fuhr dann fort:

»Die menschlichen Herzen gleichen jenen Bäumen, die ihren heilenden Balsam nicht eher von sich geben, als sie selbst von einem Eisen verwundet werden.«

Schließlich fragte sie mich ganz ohne Umschweife und beinahe grob (was mir übrigens gefiel), ob ich an Gott glaube. Als ich die Frage bejahte, sagte sie:

»Ich weiß nicht, Fürst, ob Sie es auch schon bemerkt haben, ich bin aber schon längst zur Einsicht gekommen, daß nur diejenigen Gott verleugnen, die kein Interesse an seiner Existenz haben.«

»Oder vielleicht,« fügte ich hinzu, »die ein Interesse daran haben, daß Er nicht existiere.«

»Das meinte ich eben!« sagte sie und neigte tief den Kopf, wohl zum Zeichen ihrer vollständigen Übereinstimmung.

Als sie merkte, daß ich darüber staunte, wie respektlos Nikituschka den General Golowin behandelte, während ihm dieser mit großer Achtung begegnete, sagte sie französisch mit einem feinen Lächeln zu mir:

»Man soll nicht darüber staunen, daß die geistlichen Phänomene heutzutage hauptsächlich bei den niederen Gesellschaftsklassen auftreten; denn die höheren Klassen, die vom Zauber der europäischen Bildung, d. h. des verfeinerten Dienstes dieser Welt und ihren Lüsten geblendet sind, haben nicht Zeit, sich seligmachenden Meditationen hinzugeben. An wem wurden denn, als der Siegeszug des Christentums begann, die ersten Wirkungen des Heiligen Geistes wahrgenommen? Doch nicht an den ältesten, Lehrern und Hohepriestern, sondern an den Geringsten, an einem verachteten und geknechteten Volke.«

Dann legte sie mit mütterlicher Zärtlichkeit ihre Hand auf Nikituschkas Haupt und schloß russisch:

»Der unfaßbare Vater der Welt hat einst Fischer und geringe Leute erwählt, um die Weisen dieser Zeit zu beschämen; so wohnt er auch heute bei ihnen. Was denkst du darüber, Nikituschka?«

»Ja, so ist es, Mamachen! Erlauben, Exzellenz, daß ich Ihnen die Hand küsse! ›Was töricht ist vor der Welt, das hat Gott erwählet, daß er die Weisen zuschanden machte.‹ wie es auch in unserem Liedchen heißt:

Ach ihr Bauern, meine Lieben!
Ihr seid dumm wie Runkelrüben;
Doch bei euch, ihr armen Narren,
Wohnt der Heiland, Jesus Christ!«

begann er plötzlich mit seiner hohen Stimme zur Harfe zu singen. Die Waschfrau Lukerja, die blöde Praskowja, Fräulein Piper, der Kanzleidiener Lochwizkij, der Staatsrat Pilezkij, der Geheimrat Popow und der Generalmajor Golowin sangen mit.

Mir fielen die Worte Gribojedows von der Kluft, die uns vom gemeinen Volke trennt, ein. Hier trennte uns aber nichts von diesem Volke. Vielleicht führt auch wirklich dieser Weg zum Heil und zur Vereinigung des Unvereinbaren?

»Nun, was sagen Sie dazu?« fragte mich Kossowitsch, als wir Mamachen verließen.

»Sie ist gescheit,« sagte ich, »außerordentlich gescheit.«

Der Alte schüttelte den Kopf und sagte:

»Sie schreiben, Fürst, dem menschlichen Verstande Dinge zu, die von der göttlichen Weisheit ausgehen.«

Ob sie wirklich von Gott kommen, weiß ich nicht. Jedenfalls ist sie ein wirklich hellseherisches Frauenzimmer.

Den 19. Juli. Nun habe ich mich wirklich gewöhnt, Mamachen zu besuchen. Ich dachte anfangs, daß ich darüber lachen werde, es ist mir aber ganz unheimlich zumute. Ich weiß noch immer nicht, ob es Weisheit oder Wahnsinn, etwas Heiliges oder Teuflisches ist. Vielleicht ist es auch beides zusammen? Auch in Nikituschkas Liedern sind die Texte heilig, während die Melodien so ausgelassen lustig sind wie die Tanzweisen der Hexen beim Sabbat. Mamachens Kinder tanzen zu diesen Weisen, und das soll ihr Gottesdienst sein.

»Den Gottesdienst verrichten, heißt sich freuen,« erklärte mir Kossowitsch. »Es ist ein geistlicher Ball, und das Herz schwelgt in Vorahnung des Hochzeitsmahls, bei dem die jungfräulichen Seelen frohlocken. Auch König David tanzte vor der Lade des Bundes. So tanzen auch wir, wie glückselige Kinder, vom neuen Wein berauscht und die Weisheit dieser Welt und alle Anstandsgesetze mit den Füßen tretend. Als Arzt will ich Ihnen aber noch Folgendes sagen, Fürst: dieser heilige Tanz, den ich einen geistlichen Walzer nenne, ist als Bewegung der Gesundheit höchst zuträglich, denn er bewirkt eine so starke Transpiration, daß wir uns nachher leicht und beweglich wie kleine Kinder fühlen.«

Das mag ja alles stimmen, und doch kommt es mir so unheimlich vor.

Nikituschka sang neulich ein merkwürdiges Lied:

Auf dem siebten Himmel tanzt
Jesus Christus, tanzt und singt!
Er hat Saffianstiefel an
Schön gestickt und reich verziert ...

In diesen beinahe unsinnigen Worten verbindet sich eine gewisse heilige Verzückung mit der ausgelassenen Stimmung einer Branntweinschenke. Ich sah, wie der Geheimrat Wassilij Michailowitsch Popow plötzlich von heftigen Zuckungen befallen wurde; er bewegte Beine und Arme, und es schien, als ob er gleich wie bei einem Hexensabbat tanzen würde.

Ich wollte lachen und zugleich graute es mir; es war jener »feine Frost«, von dem die Mystiker sprechen.

Den 20. Juli. Geheimrat Popow erklärte neulich vor allen:

»Ich habe, Mamachen, die Absicht, Stiefel zu putzen, was ich als göttlichen Willen hinnehme; ich schäme mich aber ...«

»Warum schämst du dich, mein Freund?«

»Was wird mein Diener Proschka dazu sagen?«

»Du mußt dich demütigen, Wassja,« riet ihm Nikituschka.

»Ich war am Samstag mit Martin Stepanowitsch im Dampfbade,« fuhr Popow fort »Wir übergossen uns dreimal mit kaltem Wasser: im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes. Da sagte Martin Stepanowitsch: ›Ich will dich, Wassja, noch einmal begießen.‹ Er nahm den Eimer und begoß mich noch einmal im Namen der heiligen Jungfrau. Sofort wurde in meinem inneren Himmel eine Schleuse aufgetan, und ich wurde von einem reinen Strome überschwemmt. Und da fühlte ich, wie die heilige Mutter Gottes den Astralleib meiner Seele in ihren eigenen Mondleib verwandelte und wie in der Nacht Saturns das Licht der Allweisheit erstrahlte ...«

Martin Stepanowitsch Pilezkij bestätigte diese Mitteilung in vollem Umfange.

Auch der Kanzleidiener hatte neulich ein Wunder erlebt, worüber er wie folgt berichtete:

»Ich war neulich beim Vorsteher des Kaufmannsstandes Galaktion Iwanowitsch, der gerade Namenstag hatte, zu Besuch und merkte plötzlich, daß ich eine ganz durchlöcherte Hose anhatte. Ich schämte mich und wollte mich zudecken. Da rief mir eine innere Stimme zu: ›Bedecke dich nicht, denn darin ist dein Ruhm!‹ Und plötzlich überfiel mich ein angenehmes mystisches Grauen, von dem mein ganzes Wesen erbebte.«

Das Gespräch kam auf die neuentdeckten wundertätigen Gebeine des heiligen Theodosius von Totjma. Der Stabskapitän Gagin sagte:

»Der weise Newton, der die Mathematik mit der Physik vereinigt hat, ist gestorben und verfault; doch unser einfacher und einfältiger Russe ist heute nach zweihundert Jahren noch so frisch, als ob er erst eben gestorben wäre!«

Alle begannen nun über den eitlen Menschenverstand zu spotten, dessen Licht dem eines vermoderten Stückes Holz gleiche.

Popow schielte mich von der Seite an. Er hat ein bleiches, blutleeres Gesicht und die blaßblauen Augen »eines verendenden Kalbes« (wie einmal eine Dame über Speranskij gesagt hat), in denen aber Funken höllischen Feuers sprühen.

»Manche Leute,« sagte er, »stinken heute förmlich vor Gelehrsamkeit und prahlen dabei mit diesem Gestank. Man sollte ihnen ordentlich die Fußsohlen rösten und ihr Fleisch strafen, damit der Geist gerettet werde.«

Habe ich vielleicht schon selbst das Delirium? Mamachen ist ja eine kluge Frau. Warum leidet sie es denn? Oder zieht sie daraus ihren Vorteil?

Ach ihr Bauern, meine Lieben,
Ihr seid dumm wie Runkelrüben! ...

Ich muß aber gestehen, daß die Sache mir doch etwas anrüchig vorkommt.

Den 21. Juli. Aljoscha Miloradowitsch erläuterte mir heute die geheimnisvolle Lehre vom leidenschaftslosen Kusse:

»In diesem Kusse teilt ein Mensch dem anderen eine magische Tinktur zur Zeugung von Nachkommenschaft, wie Adam im Paradiese, mit. Obwohl diese Tinktur heutzutage durch grobe Kanäle mitgeteilt wird, kann in der himmlischen Liebe der übernatürliche Zustand, bei dem die Kinderzeugung nicht durch die von den Naturgesetzen bestimmte fleischliche Vermengung, sondern durch einen leidenschaftslosen Kuß stattfindet, erreicht werden.«

Der arme Aljoscha! Der übernatürliche Zustand hat ihm bereits die Schwindsucht eingebracht.

Von seinem Burschen, dem Soldaten Fedul Petrow, zur Skopzensekte bekehrt, verliebte er sich in die »Mutter Gottes« der Sekte, die aus Lebedjanj stammende Kleinbürgerin Katassanowa, eine ganz gemeine Dirne, und wollte selbst Kastrat werden.

Als man dies bei Hofe erfuhr, gerieten alle alten Tanten außer sich: der Leutnant der Leibgarde und Neffe des Generalgouverneurs, der schöne Aljoscha – ein Skopze! Das war wirklich unerhört. Die Sache kam vor den Kaiser, und der Führer der Skopzensekte, Kondratij Sseliwanow wurde daraufhin aus Petersburg abgeschoben.

Als Aljoscha mit seinen Ausführungen über den leidenschaftslosen Kuß zu Ende war, fragte ich:

»Glauben Sie selbst daran?«

»Ja, ich glaube es. Warum nicht? Gibt es denn nicht auch in den Sakramenten der christlichen Kirche viele Dinge, die man nicht mit der Vernunft erfassen kann?«

»Gewiß. Erinnern Sie sich, Aljoscha, an Istomina? An die Bälle bei den Wjasemskijs? Wie wunderbar Sie doch Mazurka getanzt haben!«

»Warum soll ich noch an diesen Wahnsinn denken?!«

Er schlug die Augen nieder, lächelte plötzlich wie vor Jahren, und auf seinen blassen Wangen erschienen zwei rosige Flecken.

»Nein,« sagte er, »ich sehne mich nicht nach all diesen Dingen zurück. Sie sprechen, Fürst, von den Bällen; die geistlichen Versammlungen sind mir aber lieber als alle Bälle!«

Der arme Aljoscha!

Den 22. Juli. Sind wir vielleicht alle in unser Mamachen, wie Aljoscha in seine Gottesmutter, verliebt?

»Mamachen! Mein Täubchen! Nimm mich hin!« girrt wie ein Täuberich der rotbackige und dickbäuchige Stabskapitän Gagin.

»Mein Kindchen,« tröstet ihn Mamachen, »ich liebe und bemuttere dich, wie nur eine Mutter ihr Kind lieben kann. In unseren Herzen wohne einzig das Herz Jesu Christi!«

Generalmajor Golowin, der einst sein Fanagorisches Regiment in das mörderische Feuer der Schanzen von Bagration geführt hatte, lag jetzt Mamachen zu Füßen, wie ein von einer Taube gezähmter Löwe.

Sie ist alt, ausgemergelt und gleicht mehr einer Leiche als einem lebenden Menschen; und doch kann ich es begreifen, daß man sich in sie verlieben kann. Es ist eine süße und wollüstige geistliche Blutschande; die Kinder sind sämtlich in ihre Mutter verliebt.

Ich fühle, daß ich leicht in den Bann dieser gelben Katzenaugen geraten und mich nach ihnen ebenso sehnen kann, wie sich ein Trinker nach einem Glas Wein sehnt.

Den 23. Juli. Treffend sagte von den Mystikern der Mystiker Labsin: »Diese Herren wollen zu Gott durch eine Hintertüre gelangen.« Er sagte auch: »Ihre göttliche Weisheit riecht zu sehr nach Menschenschweiß.«

Den 24. Juli. Nikituschka hatte eine Prophezeiung:

Wie verhütet man den Schaden?
Rußland muß im Blute baden!

Auch die blöde Praskowja hatte eine Prophezeiung:

Ich begrab' den großen Zaren
In der kühlen, feuchten Erde ...

Als Kossowitsch es mir erzählte, erbleichte ich. Er hat es wohl auch bemerkt.

Was für ein Zar, was für ein Blut ist hier gemeint?

Und wenn die Prophezeiung in Erfüllung geht? Wenn sich die beiden Geheimen Gesellschaften vereinigen?

Den 25. Juli. Generalmajor Golowin sprach von den Verfolgungen, die die Philadelphische Kirche zu erleiden hat, und sagte:

»Der Teufel selbst hat sich in den Herzen aller Mitglieder der höchsten Regierung eingenistet!«

Ich hörte ihm gespannt zu und sagte mir: Nicht umsonst wollten einst die Herausgeber des »Zionsboten« die Verfassung im Namen Christi erreichen.

Ich brachte das Gespräch auf Politik. Doch Mamachen unterbrach mich mit den Worten:

»Unsere Hoffnungen liegen außerhalb der Grenzen dieser eitlen Welt, wo die Leiden nützlicher sind als die Freuden; daher vermeiden wir auch alle Betrachtungen über politische Angelegenheiten.«

So bin ich aus der einen Geheimen Gesellschaft in eine andere hineingeraten: in der einen gibt es Menschen ohne Gott, in der anderen einen Gott ohne Menschen. Ich stehe aber zwischen dem einen Wahnsinn und dem andern, wie zwischen zwei Feuern.

Alles ist wieder so schrecklich unvereinbar!

Den 26. Juli. Der Sommer in Petersburg ist scheußlich. Es ist heiß, staubig, und die Luft ist unerträglich. Aus den Läden riecht es nach Sauerkohl, aus den Neubauten nach Mörtel und Unrat: die Maurer machen es sich auf den Baustellen recht bequem. Mit ohrenbetäubendem Lärm werden schwere Eisenstangen vorübergefahren. Von den Gerüsten fällt weißer Kalkstaub herab. Der wolkenlose Himmel ist wie ein glühendes Kupferblech.

Ich irre durch die Straßen wie im Traume. Wenn ich zur Besinnung komme, weiß ich selbst nicht, wer ich bin, woher ich komme und wohin ich gehe. Der Kopf schwindelt mir, die Füße sind wie gelähmt, ich fürchte jeden Augenblick hinzufallen.

Neulich sah ich in der Sechsladenstraße einen betrunkenen Malergesellen, der auf einem Brett, das auf Stricken hing, saß und eine Mauer tünchte; als das Brett heruntergelassen wurde, schaukelte er darauf und schien zu tanzen. Als ich ihn ansah, mußte ich lachen, so daß mich alle Passanten erstaunt anblickten. Ich dachte an den Geheimrat Popow, der zu Nikituschkas Weise tanzte:

Er hat Saffianstiefel an
Schön gestickt und reich verziert! ...

Ich lache und lache; vielleicht lache ich so lange, bis ich das Delirium bekomme.

Den 27. Juli. Der Maler Borowikowskij ist ein gutmütiger alter Kleinrusse; ich glaube auch, daß er entsetzlich säuft. Er verschleppte mich neulich in ein Restaurant, um »mit Rum«, d. h. Tee mit Rum zu trinken.

Als er etwas angeheitert war, begann er mir zu beweisen, daß »die Gottheit die höchste Schönheit sei«, und daß er in seiner Kunst dieser Schönheit diene; doch verstehe ihn niemand. Er beklagte sich über die Brüder von der Philadelphischen Gesellschaft.

»Keiner von ihnen ist mir gegenüber aufrichtig, und keiner liebt mich; wo es aber keine Liebe gibt, dort gibt es nichts. Zum Beispiel dieser Herr Pilezkij; er sägt Pila = russisch Säge mir das Herz wie mit einer Säge entzwei, so daß ich ganz entmutigt werde. Und dann der Geheimrat Popow ...«

Über diesen erzählte er mir so tolle Sachen, daß ich gar nicht weiß, ob ich ihm glauben soll. Wenn ich aber an die gelben Augen, die im Finstern wie bei einer Katze leuchten, denke, bin ich bereit, ihm alles zu glauben.

Popow hat eine Tochter Ljuba, ein fünfzehnjähriges Mädchen, das die Philadelphischen Mysterien verabscheut und Mamachen ins Gesicht sagt, sie sei eine alte Hexe; der sanfte Fanatiker Popow glaubt aber, daß seine Tochter besessen sei und sucht die Teufel aus ihr auszutreiben, indem er sie schwer mißhandelt, hungern läßt, in einer Kammer versperrt hält und sie so schrecklich mit Ruten schlägt, daß die Wände der Kammer mit Blut bespritzt sind; es ist zu befürchten, daß er sie noch zu Tode peinigt. Alles geschieht aber auf Mamachens Wunsch; sie sagt, es sei Gottes Wille.

Ohne Gott gelangt man zum Zarenmord, mit Gott – zum Kindermord. Ich bin vor Blutvergießen geflohen und bei Blutvergießen angelangt. Die unvereinbare Vereinigung, die Grundlage der beiden Geheimen Gesellschaften ist Blut.

Nein, hier riecht es nicht mehr nach Menschenschweiß!

Es ist das Delirium, das Delirium!

Nun hab ich genug. Ich muß fliehen, solange es nicht zu spät ist.

Den 28. Juli. Nein, ich darf nicht fliehen, ich muß den Kelch bis an die Neige trinken und den Wahnsinn anderer, wenn auch um den Preis meiner eigenen Vernunft, ergründen.

Aljoscha Miloradowitsch hat mir die Lehre der Skopzen über Zar Christus mitgeteilt.

Kondratij Sseliwanow ist mit dem Kaiser Peter III. identisch; zugleich ist er auch der zweite Christus. Ein König über alle Könige und ein Gott über alle Götter. Er wird bald den russischen Thron besteigen, und die ganze Welt wird ihn als Sohn Gottes erkennen.

Diesen Sinn hat also der Satz: »Die russischen Kaiser sind das Oberhaupt der Kirche!« Jetzt weiß ich, wen wir aus der Kinderpistole erschießen wollten! Es ist nicht mehr das Handtuch, das als Gespenst erscheint, sondern das Gespenst selbst.

Was ich und Tschaadajew in unseren Pariser Gesprächen wie in einem hellseherischen Traume vorgeahnt haben, ist in Erfüllung gegangen. Das Unvollendete ist vollendet, das Unausgesprochene ist ausgesprochen, der unvollständige Kreis hat sich geschlossen.

Davor fliehen – hieße die Wahrheit fliehen.

Ich bat Aljoscha, mich zu den Skopzen zu führen.

Den 31. Juli. Ich bin dort gewesen. Ich habe es meinem Onkel Alexander Nikolajewitsch zu verdanken, den sie für ihren Wohltäter halten, daß sie mich freundlich aufnahmen.

»Nun, Fürst, bist du schon eingeführt?« fragte mich ihr Vorsänger Grobow.

»Eingeführt« heißt bei ihnen verschnitten.

Als ich diese Ehre zurückwies, lächelte er mir schlau zu und sagte:

»Ich sehe dir durch und durch, Durchlaucht. Ihr könnt es vor uns unmöglich verheimlichen, daß ihr, unsere Wohltäter, das gleiche wollt.«

»Was wollen wir denn?«

»Daß der Herr auf Erden unbeschränkt herrsche.«

Den 1. August. Auf dem Wassiljewskij-Ostrow, an der Ecke der 13. Linie und des Kleinen Prospekts steht das Wirtshaus des Kaufmanns Ananjew. Zur ebenen Erde befindet sich das eigentliche Wirtshaus oder richtiger eine Schenke; im oberen Stockwerk liegen die übrigens nicht minder schmutzigen Zimmer für Herrschaften. In einem dieser Zimmer finden unsere Versammlungen statt.

Im Sonnenlicht, das durch die Fenster flutet, summen unzählige Fliegen. Dem riesengroßen Samowar, der auf dem Tische steht, entströmen solche Dampfwolken, daß der Spiegel angelaufen ist. Die Skopzen lieben Tee: bei einer Versammlung trinken sie ein halbes Dutzend Samowars aus. Und wenn sie sich vollgetrunken haben, verbreiten sie einen Schweißgeruch, der an den Geruch der Bisamratte erinnert. Die Gesichter sind gelb, voller Runzeln und wie von Wassersucht aufgebläht. Im Anfang kam es mir in dieser Gesellschaft recht unheimlich vor, dann gewöhnte ich mich aber an sie. Es sind ebensolche Menschen wie alle anderen; es fehlt ihnen zwar der Bart, der Schnurrbart und noch manches andere, doch nicht der Verstand. Sie sind geborene Philosophen.

Hier geht es noch viel demokratischer zu als bei Mamachen. Der Wirt selbst, der Kaufmann Ananjew, dann die Kaufleute Miljutin, Nenastjew und Solodownikow sind Millionäre. An ihrer Seite sitzen aber: der mit Semmeln hausierende Kleinbürger Kurilkin; der aus der Artilleriegarnison desertierte Feuerwerker Iwan Budylgin; der Soldat Fedul Petrow, dem Aljoscha seine Bekehrung zum Skopzentum zu verdanken hat; der Kanzlist Duschetschkin im Frack, mit einer Medaille für das Jahr 12. Die Hauptperson ist aber der Hoflakai Kobeljow. Er ist aus dem Ssolowezkij-Kloster, wohin er für seine Irrlehre verbannt war, entflohen und lebt in der Hauptstadt auf Grund eines gefälschten Passes. Er ist ein halb blindes und halb taubes altes Männchen; seine Sprache ist schwer verständlich. Er ist im Jahre 1762 in Ropscha gewesen und hat alles »mit eigenen Augen gesehen«. Er bezeugt, daß Kondratij Sseliwanow mit dem Kaiser Peter III. identisch sei.

Dieser Sohn der Allerreinsten Jungfrau Kaiserin Elisabeth ist in Holstein erzogen und daselbst auch verschnitten worden. Seine Gattin, Kaiserin Katharina II., die den Verlockungen der Welt mit ihren teuflischen Lüsten erlag, beschloß, als sie seine Unfähigkeit zum ehelichen Zusammenleben sah, ihn zu töten. Der Kaiser floh aus Ropscha in den Kleidern des an seiner Stelle ermordeten Soldaten. In Moskau wurde er vom Polizeimeister Archarow ergriffen, mit der Knute geschlagen und nach Sibirien verschickt, wo er mit dem Räuber Iwan Blocha, dem ersten Bekenner des Sohnes Gottes, an den Füßen zusammengekettet wurde. Es gelang ihm, wieder zu entkommen; auf der Flucht versteckte er sich in einer Aasgrube, im Korn, in Kellern, in einem Schweinetrog: »Dort hatte ich, der höchste Gott, den Schweinetrog zum Himmel,« spricht der Erlöser. Er wurde wieder ergriffen, man kettete ihn am Halse, zerriß ihm mit Zangen den Mund, peitschte ihn so, daß sein Hemd vom Blute durchtränkt wurde, und schleppte ihn von Gefängnis zu Gefängnis. Er sagte: »Ich habe hundert Gefängnisse durchwandert und euch, meine Kinder, gefunden.«

»Dies alles mußte der Schöpfer von der Kreatur erdulden!« schloß Grobow seine Erzählung. Die Zuhörer seufzten:

»So viel mußte unser Herr für uns leiden, und wir wollen nicht für ihn leiden!«

Sie weinten vor Rührung und schwitzen dabei noch mehr; es riecht so stark nach Bisam, daß es mir davon ganz übel wird.

Aus der Branntweinschenke tönen die Lieder der Betrunkenen herüber. Doch der Erlöser spricht: »Ich, der Vater, habe noch viele Kinder in den Straßengräben liegen, und es dauert mich aller Betrunkener!«

Der Vorsänger fährt in der Vorlesung der Glaubensverkündigung fort und enthüllt das letzte Geheimnis des Zaren Christus.

»Der weiße Zar« heißt eigentlich der »schneeweiß gewordene« (Ps. 51, 9), d. h. der verschnittene: »Unser Fleisch ist so weiß, wie das Leichentuch des Heilands,« heißt es in einem ihrer Gesänge.

»Der kaiserliche Purpur ist heute noch vor Blut rot, doch durch das Blut des Lammes wird er schneeweiß werden; dann wird auch der Weiße Zar kommen, und die Sonne und die ganze Welt werden schneeweiß werden.«

»Und dann werde ich,« so spricht der Erlöser, »alle meine Kinder unter einem Dach versammeln. Die ganze Welt wird sich vor mir verneigen, alle irdischen Könige werden ihre Szepter und Kronen mir zu Füßen legen, und dann wird mein Reich kommen auf Erden, wie im Himmel.«

Es ist ja heller Wahnsinn, und doch erkenne ich darin etwas Bekanntes: dachte denn nicht auch Kaiser Alexander der Benedeite an eine Theokratie, an ein auf kaiserlichen Befehl gegründetes Reich Gottes und an eine heilige Allianz?

Ich muß auch noch an die vom Kaiser beabsichtigte Verzichtleistung – (niemand weiß noch etwas davon, ich habe es aber von Sophie gehört) – denken. Ist diese Verzichtleistung nicht auch eine Passion? Sehnt sich denn nicht ganz Rußland nach einem leidenden Gott?

Den 2. August. »Im russischen Zaren ist der ganze Herr Zebaoth samt Händen und Füßen enthalten,« so lehren die Skopzen und blicken dabei unschuldig wie die Kinder. Es ist ja auch eine Kinderschändung.

Wer hat sie verbrochen? Wer trägt die Schuld?

Hat sich nicht ganz Rußland an diesem Geringsten versündigt, und muß es nicht die Verantwortung vor Gott tragen?

Den 3. August. Neulich zeigte uns der Deserteur Iwan Budylgin einen alten Silberrubel und ein Fünfzigkopekenstück und fragte:

»Wißt ihr, Kinder, wessen Bildnisse es sind?«

»Ja, wir wissen es: Väterchens und Mütterchens.«

Sie bekreuzten sich und küßten auf dem Silberrubel das Bild Peters III. und auf dem Fünfzigkopekenstück das der Kaiserin Elisabeth, – des Heilands und seiner Mutter.

Den 4. August. Sie verschneiden sich und berauben sich ihrer Männlichkeit, um in weiblicher Liebe zum Zaren und Bräutigam Christus zu erglühen.

Den 5. August. Nicht alles ist bei ihnen Märchen und Delirium; es gibt auch manches Wirkliche.

Im Herbste des Jahres 1805, kurz vor dem Feldzuge von Austerlitz hat Kaiser Alexander I. Kondratij Sseliwanow besucht und mit ihm eine längere Unterredung unter vier Augen gehabt, wobei ihm Sseliwanow den Mißerfolg des Feldzuges vorausgesagt haben soll.

Diese Zusammenkunft wird auch in ihren Liedern besungen:

In der Hauptstadt von St. Peter
Ist ein Wunder heut' geschehen:
Eine Sonne traf die and're,
Traf der offenbare Zar
Den Geheimen am Altar.

»Ich habe mich von allem losgesagt und alles an Alexascha abgetreten,« sprach der Erlöser.

Bei meinem Onkel, dem Minister, sah ich einmal die vertrauliche Denkschrift »Über die Bildung des Volkes«, die Magnizkij dem Kaiser im vergangenen Jahre 1823 überreicht hat. – »In Rußland müssen der Volksbildung zwei Religionen, – die der ersten und die der zweiten Majestät – zugrunde gelegt werden.« Diese Stelle habe ich mir noch damals beim Onkel abgeschrieben. Weiter heißt es darin: »Ein treuer Sohn der orthodoxen Kirche kann nur Denjenigen als wahren Gottgesalbten – &#935;&#961;&#953;&#963;&#964;&#972;&#962; anerkennen, der von der orthodoxen Kirche zum Herrscher gesalbt ist.«

Diesen Sinn hat also die »Religion der beiden Majestäten«: die eine Majestät ist Christus, der König des Himmels, und die andere – Christus, der König der Erde, der Selbstherrscher von Rußland:

Traf der offenbare Zar
Den Geheimen am Altar ...

Das Unvollendete ist vollendet, das Unausgesprochene ist ausgesprochen, der unvollständige Kreis ist geschlossen.

Den 6. August. Aljoscha Miloradowitsch erhielt vom Hoflakai Kobeljow eine Abschrift der vom Skopzen und Kammerherrn, Staatsrat Alexej Michailowitsch Jelenskij verfaßten Denkschrift über die Errichtung einer theokratischen Regierung in Rußland. Diese Denkschrift wurde im Jahre 1804, kurz vor der Zusammenkunft der beiden Majestäten durch den Gehilfen des Justizministers, Nikolai Nikolajewitsch Nowossilzew dem Kaiser überreicht.

Kammerherr Jelenskij wollte zur wirksameren Bekämpfung Napoleons eine »Göttliche Kanzlei« aus Mönchen der herrschenden orthodoxen und Propheten der Skopzen-Kirche gründen. Die Mönche mußten gelehrt und die Propheten »einfältig« sein, denn »der Segen ruht auf den Einfältigen«. Je ein Mönch und je ein Prophet sollten auf jedes Kriegsschiff und in jede Division der auf dem Kriegsschauplätze befindlichen Armee kommandiert werden, um in schwierigen Fällen durch Weissagungen geheime Ratschläge zu erteilen. Kammerherr Jelenskij selbst sollte sich mit zwölf weiteren Propheten beim Hauptstabe, und »unser Lehrer und das Gefäß des heiligen Geistes« (Kondratij Sseliwanow) bei der Person des Kaisers aufhalten. Wenn dies alles geschehe, »so wird der Herr auch ohne große Streitkräfte alle Feinde besiegen und sein geliebtes Rußland beschützen, damit die ganze Welt erfährt, daß Er mit uns ist«.

Kammerherr Jelenskij wurde in die Festung von Susdal verbannt; sein Plan ging aber nach zehn Jahren in Erfüllung: die Göttliche Kanzlei wurde unter, dem Titel »Heilige Allianz« ins Leben gerufen.

Den 7. August. Ich sah heute auf der Straße Rylejew.

Wie lange ist das her, wie ferne liegt mir das alles! Es ist wie eine andere Welt!

Ich ging auf die andere Straßenseite hinüber, als ob ich mich vor ihm fürchtete oder schämte. Warum sollte ich mich aber schämen? Habe ich sie denn nicht endgültig verlassen, oder habe ich etwas gegen sie verbrochen?

Wie notwendig sollten sie doch all das wissen, was ich jetzt weiß ... Wenn sie es doch begreifen könnten! Sie werden es aber nie begreifen.

Den 8. August. von 6 Uhr abends bis 6 Uhr früh war ich bei einer gottesdienstlichen Versammlung der Skopzen. Ich wanke jetzt wie ein Betrunkener. Ich glaube, es ist der Anfang einer schweren Krankheit. Gott sei Dank! Die Sache muß doch irgendwie ein Ende nehmen.

Das höchste Zion ist das einstöckige Haus des Kaufmanns Solodownikow in der Chlebnyj-Gasse bei der Ligowka; das einstöckige, aus Holz erbaute Haus liegt mitten in einem Garten; oben ist eine Kammer, in der der Erlöser selbst gewohnt haben soll. Über der Türe zu dieser Kammer ist eine goldene Inschrift angebracht: »Heiliger Tempel.« Die Wände in der Kammer sind himmelblau gestrichen. Auf der Decke sind Cherubime gemalt. Den Fußboden bedeckt ein Teppich, in den Engel und Erzengel gewirkt sind, hier steht auch ein hohes Bett mit einer Decke aus Tüll mit goldenen Quasten. Auf diesem Bette soll einst der Zar und Herr Zebaoth in eigener Person wie auf himmlischen Wolken geruht haben. Da hängt auch sein Bild: er ist ein uralter Greis mit weibischen Gesichtszügen und spärlichen Kopf- und Barthaaren, die einen Stich ins Gelbliche haben. Er ist nach Bauernart geschoren und mit einem teuren morgenländischen Schlafrock bekleidet. Auf seinem Schoße liegt ein weißes, rot und blau geblümtes Tuch, die sogenannte »Decke Gottes«. Die Skopzen küssen das Bild wie ein Heiligenbild, bekreuzigen sich und sprechen: »Gegrüßt seist du, unser Herr und Vater, unsere liebe Sonne!« Viele behaupten, dabei eine Wärme, wie bei der Berührung mit einem Lebenden, und himmlischen Wohlgeruch zu spüren.

Der Gottesdienst findet unten in zwei großen Zimmern statt; die Fußböden sind hier aus Lindenbrettern und glatt gehobelt; das eine Zimmer ist für die Männer und das andere für die Frauen bestimmt. Die beiden Zimmer trennt ein schmaler Durchgang mit zwei breiten und niederen, dicht am Fußboden einander gegenüber gelegenen Fenstern; hier stand einst ein hoher Sessel, auf dem der Vater thronte und die Betenden segnete.

Männer und Frauen saßen in würdiger Haltung auf Bänken; sie waren alle mit langen weißen Hemden bekleidet. In der linken Hand hielt jeder ein weißes Tuch und in der rechten eine brennende Wachskerze; die Füße waren bloß.

Unter den Frauen befand sich die Muttergottes aus Lebedjanj, die Dirne Akulina Iwanowna Katassanowa, in die Aljoscha verliebt war. Sie ist außergewöhnlich schön; wenn man ihr Gesicht sieht, kann man leicht allen Gerüchten glauben, die über sie verbreitet werden; so soll sie u. a. einer gewissen Fjokla aus Eifersucht die Brüste mit glühendem Eisen »bis auf die Knochen« verstümmelt haben.

Sie begannen mit lang gedehnten dumpfen Stimmen den Gesang, mit dem jeder Gottesdienst eröffnet wird:

»Königreich, o Königreich, geistliches Königreich! ...«

In der Männerabteilung trat in die Mitte des Zimmers ein wohlgestalteter, gar nicht wie ein Skopze aussehender Greis; es war der ehemalige Soldat Iwan Plochoj, ein Bote des in Susdal eingekerkerten Väterchens. Alle erhoben sich, bekreuzten sich mit beiden Händen (denn das Gebet ist der Flug der weißen Taube, und der Vogel kann nicht mit nur einem Flügel fliegen) und verneigten sich dreimal vor ihm. Er begrüßte die Anwesenden, indem er sich bis zum Boden verneigte, und begann Geschenke des Väterchens zu verteilen: es waren Brotrinden und Reste vom kaiserlichen Tisch, kleine Heiligenbilder aus Emaille und Reliquien, d. h. Amulette mit abgeschnittenen Haaren und Nägeln, kleine Fläschchen mit Wasser, in dem sich Väterchen die Füße gewaschen hatte, und Fetzen von seinen alten Hosen. Diese Geschenke wurden von allen mit solcher Andacht entgegengenommen, daß es offensichtlich war, daß sie ihn wirklich für den Herrn Zebaoth »samt Händen und Füßen« hielten.

Dann sprach der Bote, so laut, daß man ihn in den beiden Abteilungen hören konnte, die Worte, die er von Väterchen zu bestellen hatte:

»Ich bin wohl und lustig, spricht der Vater, und schmachte nur mit meinem Körper in der Gefangenschaft; mein Geist ist aber immer bei euch, meine Kinder. Ich werde euch nie verlassen; ihr seid meine geliebtesten Waisenkinder! ...«

Der Alte kam vor Rührung nicht weiter und begann zu weinen. Auch die Versammelten brachen in Tränen aus. Das Weinen wurde zum Heulen, Schluchzen und ging allmählich in einen wilden und traurigen Gesang über, wie man sie im Dorfe bei Beerdigungen hört:

Unser Licht und heller Sonnenschein,
Unser Herr und teures Väterchen!
Hast verlassen deine Kinderchen,
Bist entschwunden in ein fernes Land.

Ich weiß nicht, ob es nur meine Nervosität, oder die Wirkung dieser herzerweichenden Töne war, – auch ich konnte mich kaum der Tränen enthalten. Wie man auch in der Lüge ein wahres Wort vernehmen kann, so hörte ich in dieser Raserei das Gebet: adveniat regnum tuum; es klang gleichsam aus der Hölle herauf.

Endlich hörte das Schluchzen auf, und alle flüsterten einander die frohe Botschaft zu:

»Unser liebes Väterchen ist nicht mehr fern. Er ist schon aus dem Kerker befreit und wird bald erscheinen!«

»Er wird erscheinen! Er wird erscheinen!« ging durch die versammelten ein freudiges Geflüster, und es klang wie das Rauschen des Frühlingswindes im Walde.

Die Gesichter wurden heiter, und plötzlich dröhnte das ausgelassene Tanzlied:

Bei uns am Don in jedem Hause
Ist Herr Heiland selbst zu Hause!

Sie sangen und klatschten mit den Händen und schlugen sich auf die Knie und Schenkel: sie stampften im Takt mit den Füßen und atmeten schwer und abgerissen wie aus einer Brust.

Bei uns am Don in jedem Hause
Ist Herr Heiland selbst zu Hause,
Mit den Engeln
Und Erzengeln.

Plötzlich verstummten alle, und in der Stille erklang eine einzelne Frauenstimme. Es war Katassanowa; sie sang so schön, daß selbst die berühmte Catalani sie um ihre Stimme beneidet hätte:

Dieser Saft der süßen Reben
Ist mir lieber als das Leben.
Stürzt ein Falke aus den Wolken,
Muß der Geist im Leib erbeben!

Es überlief mich kalt: ich hörte in dieser Stimme das Zischen des glühenden Eisens, mit dem sie der Fjokla die Brüste verstümmelt hat.

Und wieder vereinigten sich alle Stimmen zu einem feierlichen Chor, und er klang wild und drohend wie ein nahender Sturm:

Große Wunder haben wir gesehen:
Hat der siebte Himmel sich eröffnet,
Rollten goldne Räder auf uns nieder,
Viele rote, goldne Feuerräder.

Plötzlich rollte und kreiste durch den Raum etwas Weißes. Ich konnte kaum glauben, daß es ein Mensch war: man sah weder ein Gesicht, noch Arme und Beine; es war eine weiße sich drehende Säule wie ein Schneewirbel im Wintersturme. Dann erschien eine zweite Säule, eine dritte, und bald füllte sich das ganze Zimmer mit solchen weißen rasenden und kreisenden Erscheinungen. Es waren die weißen Hemden, die sich bei der raschen Umdrehung aufblähten und diese Säulen bildeten. Sie drehten sich ohne Ende, und ich hörte ein Heulen, Pfeifen und Winseln wie bei einem Schneesturme in der Steppe.

Vom Zusehen schwindelte mir der Kopf. Zuweilen verlor ich das Bewußtsein, und dann war es mir, als ob ich mit den anderen flöge. So oft ich wieder zum Bewußtsein kam, sah ich, wie die Tänzer ermattet stehen blieben, die schweißdurchtränkten Hemden auswanden und mit Handtüchern die Schweißpfützen auf dem Fußboden abwischten. Der durchdringende Bisamgeruch nahm mir den Atem. Doch ich verlor sofort wieder die Besinnung.

Ich hatte ein unbeschreibliches Gefühl: bei all dem Grauen empfand ich ein Entzücken, wie ich es schon einmal vor vielen Jahren auf dem Schlachtfelde von Leipzig erfahren hatte: als unmittelbar vor der Schlacht an unserer Division der Kaiser vorbeiritt, schrie ich mit dem ganzen fünfzigtausend Mann starken Heere »Hurra!« und war bereit, auch im Sterben meinem Kaiser, meinem Gott zuzurufen: »Heil dir, mein Vater und Herr, mein Sonnenlicht!«

Damals war alles rot, jetzt ist alles weiß. Im weißen Schneesturm fliege ich einer weißen Sonne entgegen ...

* * *

Den 9. September. Ich setze diese Aufzeichnungen nach einem Monat fort. Ich befinde mich jetzt in Zarskoje Ssjelo, im Chinesischen Häuschen, wohin mich mein Onkel verbracht hat.

Ich war krank, lag zehn Tage lang ohne Besinnung und bin mit knapper Not dem Tode entronnen. Ich erhole mich allmählich, bin aber noch sehr schwach.

Die Tage sind still und warm wie im Frühjahr. Gelbe Blätter schwirren in der Luft wie goldene Schmetterlinge. In der kristallreinen Luft schweben Herbstfäden. Es blühen blasse schmachtende Astern und dunkle traurige Georginen, vom blauen Himmel herab lassen sich die Schreie unsichtbarer Kraniche vernehmen; sie rufen mich in jenes Land, aus dem der Wanderer nie zurückkehrt.

Den 10. September. In Zarskoje Ssjelo ist es ganz still. Der Kaiser ist am 16. August in die östlichen Provinzen abgereist. Die Kaiserin Jelisaweta Alexejewna wohnt ganz allein im Schloß, und man sieht sie fast nie.

Der Kaiser hat sich vor seiner Abreise beim Onkel nach mir erkundigt und mich sprechen wollen; als er erfuhr, daß ich krank sei, schickte er mir seinen Leibarzt Stoffregen, der, wie man sagt, mir das Leben gerettet hat. Kossowitsch hätte mich noch zu Tode kuriert. Daher war auch der Onkel so besorgt um mich; nicht ihm, sondern dem Kaiser habe ich meine Rettung zu verdanken.

Stoffregen sagte: »Sie werden bald gänzlich genesen, Fürst!« Ja, mein Körper ist gesund, und ich lebe, doch habe ich nichts, womit ich mein Leben füllen könnte.

Den 12. September. Nikolai Michailowitsch Karamsin wohnt neben mir im Chinesischen Häuschen. Wir sind alte Bekannte; wir haben uns vor Jahren bei den Olenins und den Wjasemskijs gesehen. Onkelchen hat mich der Obhut der Katerina Andrejewna Karamsin anvertraut. Sie ist sehr gut zu mir. Auch Nikolai Michailowitsch ist sehr freundlich: er weiß sicher von dem Interesse, das der Kaiser für mich gezeigt hat. Er läßt durchblicken, daß ich in der allernächsten Zeit zum Kammerherrn befördert werde.

Er ist ein lieber stiller Greis; in seiner Nähe spüre ich eine stille abendliche oder herbstliche Stimmung. Er ist groß gewachsen; das stark ergraute Haar ist über die Glatze gekämmt; sein Gesicht ist länglich, fein und blaß; am Munde liegen zwei tiefe Furchen: sie sprechen von der »Armen Lisa«, von seiner Melancholie und Empfindsamkeit. Er kann gar nicht lachen: sein Lachen klingt wie das Weinen eines kleinen Kindes. Dafür lächelt er immer; es ist ein bescheidenes altväterliches Lächeln; heutzutage lächelt niemand mehr so. Er trägt immer einen altmodischen langschößigen Oberrock, auf dem ein Ordensstern baumelt. Er riecht auch altväterlich nach Schnupftabak und Teeblüte. Seine leise Stimme klingt wie das Rascheln herbstlichen Laubes.

Wir spazieren zusammen im Parke. Stoffregen hat mir kurze Spaziergänge erlaubt. Wir wandeln langsam und gemessen nebeneinander und stützen uns auf unsere Stöcke, wie zwei Greise.

Der Park von Zarskoje Ssjelo strahlt im Rot und Gold des Herbstes; die blassen Marmorstatuen gleichen bleichen Gespenstern; unter unseren Schritten raschelt gelbes Laub; in der Dämmerung hört man von den nebeligen Teichen her die Schreie von Schwänen; alles ist von jener süßen Melancholie erfüllt, deren bezaubernder Sänger Karamsin einst war.

Wenn ich in den Abendstunden die Kaiserin wie einen Schatten dahinwandeln sehe, kommt es mir vor, daß wir alle drei Schatten sind, die in den stillen Elysischen Gefilden wandeln.

Den 18. September. Das Leben Karamsins ist so eintönig, wie das Ticken des Pendels in einer alten englischen Uhr. In den Morgenstunden arbeitet er am 12. Band seiner »Geschichte des russischen Reiches«. Er pflegt zu sagen: »In meinen schönsten Stunden beschreibe ich die Greueltaten Johann des Grausamen.« Nach der Arbeit geht oder reitet er, selbst bei schlechtem Wetter, etwas aus. »Nach einem solchen Spaziergang,« sagt er, »kann man die Behaglichkeit eines warmen Zimmers besser würdigen.« Zu Mittag gibt es immer seine Leibspeise aus gekochtem Reis. Er raucht Pfeife, aber nie mehr als eine im Tage. Er gebraucht immer die gleiche Sorte französischen Schnupftabaks, der stets im gleichen Laden von Daser eingekauft wird, und die gleiche Sorte Tee, die er sich von der Nischnij-Nowgoroder Messe, und zwar immer eine Kiste im Jahre, verschreibt. Zum Nachtmahl nimmt er zwei gebackene Äpfel und ein Glas alten Portwein.

Katerina Andrejewna ist noch nicht alt; sie ist schön, kalt und weiß wie eine Schneestatue; sie ist die richtige Muse für den würdigen Historiographen. Abends versammeln sich die wohlerzogenen Kinder um ihr Mütterchen am runden, von einer gemütlichen Lampe erleuchteten Teetische; sie bekreuzigt sie vor dem Schlafengehen, und die Kinder sagen: »Bonne nuit, papa! Bonne nuit, maman!«; diese Szene ist schön, wie ein Bild von Greuze. Wenn die Kinder gegangen sind, liest die ältere Tochter, oder auch die Mutter irgendeinen einschläfernden Roman von Frau Susa vor. Nikolai Michailowitsch sitzt, um die Augen zu schonen, mit dem Rücken gegen die Lampe und weint bei den empfindsamen Stellen. Punkt zehn Uhr, beim letzten Glockenschlage gehen sie alle zu Bett.

»Mein Alter und mein Charakter,« pflegt er zu sagen, »ziehen mich zum stillen Familienleben hin. Ein Tag gleicht dem andern, morgen wird alles wie heute und gestern sein. Für jeden ruhigen Tag danke ich inbrünstig Gott.«

»Eure Exzellenz,« sage ich darauf, »sind ein großer Lebenskünstler!«

Er erwidert mit stillem Lächeln:

»Das Glück ist nichts anderes als die Abwesenheit von Leid, und die größte Lebensweisheit lautet: freue dich täglich dessen, was dir Gott gibt. In den stillen Freuden des einförmigen und ruhigen Lebens will ich oft der Sonne zurufen: Stehe still! Mein größter Wunsch ist, nichts mehr zu wünschen. Ich bete zu Gott, daß Er alles, ohne etwas hinzuzufügen, belassen möchte, wie es ist.« Vielleicht hat er auch recht. Ich habe aber den Eindruck, daß wir beide schon längst tot sind und im Reiche der Toten vom Leben sprechen.

Den 19. September. Der goldene Herbst ist zu Ende. Es ist regnerisch, kalt und feucht. In den nackten Baumkronen braust der herbstliche Boreas; er reißt die letzten gelben Blätter von den Zweigen und trägt sie fort.

Katerina Andrejewna hat eine geschwollene Backe; Andrjuscha hat Halsschmerzen; die Kleine hustet, vielleicht ist es gar Keuchhusten. Nikolai Michailowitsch klagt über rheumatische Schmerzen und brummt:

»Heutzutage kann man keinen guten Koch kaufen; alle, die zum Verkauf stehen, sind Trunkenbolde und Diebe. Erst neulich mußte ich den Timoschka zur Polizei schicken, um ihn mit Ruten züchtigen zu lassen, und ihn dann unter die Rekruten stecken ...«

Ich schweige. Er weiß, daß ich beschlossen habe, meine Bauern zu befreien. Er mißbilligt es und versucht mich zur Vernunft zu bringen.

»Ich weiß nicht,« sagt er, »ob die Menschen je die bürgerlichen Freiheiten erreichen, ich weiß aber, daß dieser Weg weit und schwierig ist ...«

Ich schweige immer. Er blickt mich mürrisch an, nimmt dann eine Prise, seufzt und sagt:

»Gott sei mein Zeuge, daß ich wirklich die Menschheit und das russische Volk liebe; das größte Glück für die Bauern sehe ich aber nur darin, daß sie gutmütige Gutsherren und Bildungsmöglichkeiten haben.«

Er stand auf, ging zu seinem Arbeitstisch und suchte einen Brief hervor, den er an die Bauern auf seinem Gute Bortnoje im Nischnij-Nowgoroder Gouvernement geschrieben hatte; unter dem Vorwande, sich mit Katerina Andrejewna beraten zu wollen, in der Tat aber um mich zu belehren, las er die Stelle vor:

»Ich bin euer Vater und Richter; ich liebe euch wie meine Kinder und trage die Verantwortung für euch vor Gott. Ich allein weiß, was nützlich und was gerecht ist. Belästigt mich nicht mit Bagatellen, lebt friedlich, gehorcht dem Vogt und zahlt eure Abgaben; wenn ihr aber widerspenstig seid, werde ich mich an den Generalgouverneur wenden, damit er euch mit strengen Maßregeln zur pünktlichen Zahlung eurer Abgaben zwingt.«

Die Ermahnung schloß mit dem Befehl, »die Widerspenstigen ordentlich mit Ruten zu züchtigen«.

Abends wird er aber wieder über dem Roman von Frau Susa Tränen vergießen.

Den 20. September. Er lobt Araktschejew:

»Er ist ein hervorragender Staatsmann; es wäre unmöglich, ihn durch einen andern zu ersetzen. Es gibt mehr Gesichter als Köpfe und mehr Köpfe als Seelen.«

Auf Puschkin schimpft er:

»Sein Talent ist wirklich groß und schön; doch es ist schade, daß in seiner Seele kein Friede und in seinem Kopfe keine Vernunft wohnt, wenn er sich nicht bessert, wird er noch vor seiner Abfahrt zur Hölle ein Teufel werden.«

Den 10. Oktober. Das Chinesische Häuschen ist mir zuwider. Oft habe ich das Verlangen, wegzulaufen und alles, was mich hier umgibt, zu fliehen: den lieben Alten, sein freundliches Lächeln, seine glattgekämmten Schläfen, die schneeweiße Katerina Andrejewna, die wohlerzogenen Kinder, die Pfeife aus Weichselrohr (»nicht mehr als eine Pfeife am Tage«), die von der Nowgoroder Messe verschriebenen Teekisten, die gefühlvollen Romane von Frau Susa, die Briefe an den Bauernvogt, die von Ruten handeln, Md die zwölf Bände seiner Geschichte, in der er

Beweist ganz ohne Euphemismus
Den Segen des Absolutismus
wie auch der Knute Reiz.

Ich glaube, Nikolai Michailowitsch weiß wohl, daß ich ein Mitglied der Geheimen Gesellschaft bin; er quält mich mit seinen Gesprächen über Politik zu Tode.

»Die Gründe einer bürgerlichen Gesellschaft sind unveränderlich: man kann wohl das Unterste zu oberst und das Oberste zu unterst wenden, es wird aber immer ein Oben und ein Unten, Freiheit und Knechtung, Reichtum und Armut, Freude und Leid geben, habe ich denn nicht recht?«

Ich stimme ihm zu, und er fährt fort:

»Ich lobe die Autokratie und nicht die liberalen Ideen, d.h. ich lobe mir die Öfen im Winter und im nördlichen Klima. Weder der Kaiser, noch ein Parlament kann uns Freiheiten verleihen; ein jeder erkämpft sie sich selbst mit Gottes Hilfe. Ich verachte die heutigen Liberalen und liebe nur jene Freiheit, die mir kein Tyrann nehmen kann ...«

Ich stimme ihm wieder zu, und er fährt fort:

»Die Jugend soll nur rasen; wir, alte Männer, lächeln aber, denn wir wissen: es wird nur das geschehen, was geschehen muß, und alles ist zum besten, solange es einen Gott gibt. Meine Politik ist Religion. Ich kann nicht sagen, warum, aber ich weiß, daß alles so bleiben muß, wie es ist ...«

Ich schweige geduldig, mir ist alles gleich, und ich habe nur den einen Wunsch, daß er mich in Ruhe läßt.

Zuweilen scheint mir aber, daß dieser liebe, kluge, gute und ehrliche Greis gefährlicher ist, als alle offenbaren Schurken und Räuber. Rußland wird nicht an Hungersnot, Erdbeben oder Pestilenz zugrunde gehen, sondern an dieser ruhigen Weisheit: »Alles muß so bleiben, wie es ist.«

Den 13. Oktober. Nikolai Michailowitsch pflegt auf dem Lande bis zum ersten Schnee auszuharren. Nun haben wir ihn erlebt: heute schwirrten schon einzelne weiße stille Fliegen durch die Luft, gegen Abend aber schneite es große Flocken, die die schwarze Erde schnell mit einem Leichentuch bedeckten. Alle Laute sind verstummt, wie unter einem weißen weichen Kissen; aus weiter Ferne klingt dumpfes Glockengeläute; es klingt wie eine Sterbeglocke.

Ich sitze am Kamin, blicke in die erkaltende Asche und denke an meine Erlebnisse wohl so, wie ein Toter an sein Leben zurückdenkt.

Ich habe früher gewußt, daß alles nicht so bleiben darf, wie es ist, ich weiß auch jetzt, daß die Leute, von denen ich mich abgewendet habe, die Mitglieder der Geheimen Gesellschaft, vor der Menschheit und vor Gott ewig im Rechte sind. Ich mußte selbst an jenem Delirium erkranken, an dem heute ganz Rußland krankt, um dies zu erfahren. Dafür bin ich jetzt fester als je von ihrem Rechte überzeugt, vielleicht ist auch alles, was sie tun, wahnsinnig, lächerlich, blutig und schmutzig, doch was sie anstreben, ist Wahrheit. Heute gibt es aber für Rußland keine andere Wahrheit, keine andere Rettung vom Delirium und von jener ruhigen Weisheit: »Alles muß so bleiben, wie es ist,« als ihre Wahrheit. Vielleicht ist ihr Unternehmen auch keine Vollendung, sondern nur eine Weissagung und eine Vorahnung,' doch wenn sie nicht erhört wird, muß Rußland untergehen.

Ja, ich weiß dies alles mit dem Wissen eines Toten. Ich bin ihnen untreu geworden, bin vom Blut und vom Schmutz zurückgetreten. Nun bin ich rein, – rein und tot.

Die schwarze Erde ruht unter einem weißen Bahrtuche, in der Grabesstille klingt die Sterbeglocke. Alles ist zu Ende: »Ich kann nicht sagen, warum, aber ich weiß, daß alles so bleiben muß, wie es ist.«

Den 14. Oktober.

O frage nicht, wohin ich mich gewendet,
In welche Welt ich von dir bin entschwebt.
Ich habe alles Irdische vollendet,
Ich hab geliebt, gelitten und gelebt.

Ob das, was ich erwartet, mir geschehen?
Die Seele lügt nicht, Freund, vertraue mir.
Ich bin im Land, wo ewig wir uns sehen,
Wie schön ist eure Welt, das weiß ich hier!

Was groß auf Erden war, war nicht vergebens.
Sei stark, denn hier erfüllt sich das Geschick:
Hier findet Antwort jeder Schrei des Lebens,
Ein jeder Seufzer und ein jeder Blick.

Es ist ein Gedicht von Schukowskij aus der neuen Auflage seiner Werke vom Jahre 1824.

Warum habe ich es herausgeschrieben?

Ich habe geglaubt, Sophie wünsche, daß ich aus der Geheimen Gesellschaft austrete; wenn ich austrete, werde sie zu mir zurückkehren. Sie ist aber nicht zurückgekehrt. Und jetzt scheint es mir, daß, indem ich die Gesellschaft verlassen habe, ich auch sie verlassen habe.

Den 15. Oktober. Was war es? Ein Traum? Ein Gespenst? Ein Gesicht? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, daß etwas war. Sie hat ihr letztes Versprechen eingelöst: »Ich werde immer bei dir sein und dich auch von dort aus besuchen.«

Als ich erwachte, mußte ich vor Freude weinen. Woher diese Freude kam, weiß ich nicht mehr; ich weiß nur, daß Sophie mir befohlen hat, zu ihnen zurückzukehren, und mir meine eigenen Worte in Erinnerung brachte: »Sie werden nichts erreichen, niemanden erretten und sich zugrunde richten, und doch wohnt die göttliche Wahrheit bei ihnen. Wenn ich auch unwürdig bin, und es über meine Kräfte geht, werde ich sie doch nie verlassen.«

Ich habe erst jetzt begriffen, was diese Worte bedeuten. Wenn auch alles grauenvoll, lächerlich, öde, wahnsinnig, blutig und schmutzig sein wird, ich werde doch nie das, was ich einmal begriffen, vergessen.

Was groß auf Erden war, war nicht vergebens.
Sei stark, denn hier erfüllt sich das Geschick.
Hier findet Antwort jeder Schrei des Lebens,
Ein jeder Seufzer und ein jeder Blick

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Ich kann wieder weinen, ich kann wieder beten, wie ich heute nacht mit ihr gebetet habe:

»Beschütze uns, Herr, hilf uns und sei uns gnädig! Errette uns, Allerreinste Mutter!«

Den 16. Oktober. Ich bin nach Petersburg zu Odojewskij gezogen. Ich habe Puschtschin gesagt, daß ich wieder in die Geheime Gesellschaft eintreten will; werden sie mich aufnehmen? Werden sie mich nicht für einen Verräter halten? Er umarmte und küßte mich wie ein Bruder und sagte nichts.

Den 17. Oktober. Ich habe sie alle gesehen. Sie freuten sich alle. Rylejew fiel mir um den Hals und weinte. Küchel fuchtelte mit den Händen, wobei er eine Flasche umwarf und ein Glas zerschlug. Batenkow nahm das Gespräch von der monarchischen und republikanischen Regierungsform, das wir vor sechs Monaten begonnen, wieder auf, als ob nichts geschehen wäre. Kachowskij stand wieder in napoleonischer Pose mit gekreuzten Armen am Ofen und lächelte verächtlich.

Die Lieben, Guten! Sie lieben mich mit allen meinen Fehlern; wenn ich keine Fehler hätte, so wäre an dieser Liebe auch nichts besonders. Ob sie nun gut oder schlecht sind, jedenfalls sind sie meine einzigen Freunde, und andere Freunde werde ich nie haben.

Den 24. Oktober. Sie schlagen mir vor, die Verhandlungen mit dem Südbunde zu führen und nach Wassilkow zu Ssergej Murawjow und nach Tultschin zu Pestel zu gehen. Ich bin bereit, sofort abzureisen.

Den 26. Oktober. Nein, jetzt gleich kann ich nicht reisen. Gestern ist der Kaiser zurückgekehrt, und Onkel sagt, daß er nach mir gefragt hätte. Ich will eine Zusammenkunft mit dem Kaiser abwarten. So will es Sophie.

Den 5. November. Puschtschin zeigte mir den von Ssergej Murawjow verfaßten »Orthodoxen Katechismus«, mit dem man die Armee und das gemeine Volk aufwiegeln will. Im Katechismus heißt es:

»Warum sind das russische Volk und das russische Heer so unglücklich?«

»Weil die Zaren dem Volk die Freiheit geraubt haben.«

»Was befiehlt unser heiliges Gesetz dem russischen Volke und dem russischen Heere?«

»Seinen Sklavensinn zu bereuen, sich gegen die Tyrannei und Unterdrückung zu empören und den Eid zu leisten, daß es fortan nur einen König im Himmel wie auf Erden – Jesum Christum – geben solle.«

Deutlicher und genauer kann es gar nicht ausgedrückt werden. So lange nicht das ganze Volk diese Worte spricht, kann es in Rußland keine Freiheit geben.

Ich dachte, daß ich allein im Besitz dieser Wahrheit sei; nun sehe ich, daß sie auch schon von anderen ausgesprochen wird. Vielleicht werden wir das, was wir wissen, nur an die anderen weitergeben und selbst nichts erreichen; wenn es aber die anderen erreichen, so werden sie auch unser gedenken.


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