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Die Vermählung von Sophie Naryschkin mit dem Grafen Schuwalow sollte im Sommer stattfinden. Das kostbare Brautkleid war durch einen eigenen Kurier aus Paris gebracht worden, die Braut weigerte sich aber, wie sehr sie auch die Mutter darum bat, es anzuprobieren; später konnte sie es auch nicht mehr tun, denn sie wurde wieder krank. Die Besserung in ihrem Zustande, über die sich Fürst Valerian so sehr gefreut hatte, erwies sich als trügerisch. In den Tagen des Eisganges wurde ihr Zustand wieder ernst, und der Bluthusten stellte sich wieder ein. Die Ärzte wagten nicht, dem Kaiser zu melden, was sie selbst sicher wußten: daß die Tage der Kranken gezählt waren.
Sophie war zu schwach, um eine Reise ins Ausland oder nach Südrußland überstehen zu können. Die Ärzte rieten, sie aufs Land in die Nähe Petersburgs zu bringen.
Der Frühling war früher als sonst angebrochen, die Tage waren strahlend und heiter. Im Schatten der Wälder und Gräben lag noch Schnee, die sonnenbeschienenen Straßen waren aber bereits staubig wie im Sommer. Der Himmel blieb tagelang wolkenlos und blau wie blaues von innen erleuchtetes Lampenglas; sah man ihn aber lange an, so erschien er dunkel, wie das Spiegelbild des Himmels in der Tiefe eines Brunnens. In dieser unendlichen Heiterkeit lag eine finstere Leere.
Das Naryschkinsche Landhaus, das an der nach Peterhof führenden Landstraße lag, erinnerte an ein kleines Palais; vom Belvedere hatte man Aussicht auf den Finnischen Meerbusen, Petersburg und Kronstadt; die Villa war von einer flachen grünen Kuppel gekrönt und von weißen römischen Säulen flankiert. An das Haus stieß ein Garten im französischen Geschmack mit gestutzten Hecken, Labyrinthen und sorgfältig mit gelbem Sand bestreuten Wegen; es gab nur eine einzige alte Allee von großen Trauerbirken.
In den Gemächern herrschte der schwere Prunk des Paulschen Zeitalters: Deckengemälde, Stofftapeten, Goldmöbel, trübe Spiegel, in denen lebende Menschen wie Leichen aussahen. Maria Antonowna ließ aber einige Zimmer im neuen lustigen französischen Geschmack ausstatten, besonders das Zimmer der Kranken, das sich im zweiten Stock befand und dessen Fenster auf das Meer hinausgingen. Die silberweißen Atlastapeten mit hellroten Nelken ließ man eigens aus Paris kommen; die leichten Möbel waren aus lackiertem hellen Pappelholz; auf dem Balkon standen blühende Orangenbäume in Treibhauskübeln. »Es ist ein richtiges Liebesnest – nid d'amour – für mein armes, armes Mädchen,« sagte Maria Antonowna in jenem weinerlich-zärtlichen Tone, in dem sie immer von ihrer Tochter sprach. Die leichten lustigen Möbel waren aber so gebaut, daß die Kranke auf ihnen weder liegen, noch sitzen konnte. »Meine alten Knochen tun mir weh!« scherzte sie wehmütig. Der weiße Atlas erinnerte sie an das verhaßte Brautkleid, das sie nun gleichsam ewig anprobierte; das rote Nelkenmuster ermüdete die Augen wie ein flimmerndes Fieberbild.
Sophie ertrug ihre Krankheit mit wahrem Heldenmut. Sobald sie die geringste Erleichterung fühlte, stand sie auf, ging durch die Zimmer und erklärte, daß sie beinahe ganz wiederhergestellt sei. Doch schien es dem Fürsten Valerian, der mit ihr wieder ganze Tage verbrachte, daß sie sich ihrer Krankheit freue und sogar krank bleiben wolle. Sie nahm keine Arzneien ein und gehorchte den Ärzten nicht.
Eines Morgens, bald nach ihrem Umzuge aufs Land, fühlte sie sich etwas wohler – oder bildete es sich nur ein; sie verließ das Bett und setzte sich in einen uralten Lehnsessel, dessen Lederbezug überall zerrissen war und die Roßhaarfüllung sehen ließ: dieser Sessel, den sie aus der Stadtwohnung bringen ließ, weil sie nur auf ihm bequem sitzen konnte, war hier der einzige ihr vertraute Gegenstand unter all den fremden Möbeln.
Der Morgen war heiter wie alle diese Tage; der Himmel war blau, wie eine blaue Glasampel. Es herrschte jene Stille, die nur im Frühjahr in entlegenen Landsitzen vorkommt; irgendwo zwitscherte ein Vogel, ein Rechen scharrte im Sande, in der Ferne hörte man Axthiebe: ein Fischer besserte wohl am Strande sein Boot aus – und alle diese Geräusche ließen die Stille noch grenzenloser erscheinen. Die Balkontüre stand offen, und der Duft des Frühlingsmorgens und der Birkenknospen vermengte sich im Krankenzimmer mit dem schweren Geruch der Arzneien.
Golitzin kniete vor ihr und reichte ihr wie einem kleinen Kind löffelweise den von den Ärzten verordneten Haferbrei mit Milch. Sophie hatte schon seit langer Zeit fast nichts zu sich genommen; sie nahm den Brei nur aus seinen Händen, wie eine Medizin. Die alte Kinderfrau Wassilissa Prokofjewna lehnte an der Türe und beobachtete diese »Tierfütterung«, wie die Kranke ihr Frühstück nannte.
Sophie machte zwischen zwei Löffeln eine Pause und beugte sich über Golitzin. Sie betrachtete sein Gesicht lächelnd und aufmerksam.
»Machen Sie doch ein ernsteres Gesicht. Nein, noch viel ernster. Können Sie nicht noch ernster aussehen?«
»Nein, das kann ich nicht.«
»Die eine Falte blieb aber noch zurück.«
»Was für eine Falte?«
»Hier am Mund. Sie macht es, daß man glaubt, daß Sie ewig spöttisch lächeln. Können Sie sich noch an die Marmorbüste des Großvaters Voltaire in unserer Bibliothek erinnern? Vielleicht werden Sie im Alter das gleiche Lächeln haben. Worüber lächeln Sie, Durchlaucht?«
»Ich weiß nicht, meine Liebe ... vielleicht über mich selbst?«
»Die Brille steht Ihnen nicht. Bilden Sie sich ja nicht ein, daß Sie wie ein Karbonaro aussehen: sie gleichen viel eher einem emeritierten deutschen Professor. Warum tragen Sie überhaupt diese Brille? Aus Trotz? Der Kaiser hat recht, wenn er keine Brillen sehen mag ... Genug, ich will nicht mehr,« sie stieß den Löffel zurück. »Der wievielte ist es?«
»Der Achte. Sie haben mir zwölf versprochen.«
»Nein, ich kann nicht mehr ... Kinderfrau, liebe Kinderfrau, erlaube doch, daß ich aufhöre. Man kann doch nicht einen Menschen wie einen Kapaunen mästen!«
»Was ist das nun wieder, Fräulein?! Sie sind ja kein Kind!« brummte die Alte. »Von mir aus können Sie auch gar nicht essen. Darum sind Sie ja auch krank, weil Sie den Ärzten nicht gehorchen und so trotzig sind ...«
Prokofjewna wandte sich ab, als ob sie weinen wolle, blieb aber immer noch in Erwartung an der Türe stehen.
»So wird sie hier stehen, bis ich sie hinausjage,« flüsterte Sophie Golitzin französisch zu. »Wie sie mich quält! Wenn sie nur wüßte, wie sie mich quält! Und doch nur darum, weil sie mich liebt. Die ärgsten Feinde sind die, die uns lieben. Ist es denn nicht so?«
»Vielleicht ist es auch so ... die Bemerkung ist aber boshaft, vielleicht noch boshafter, als das Voltairesche Lächeln.«
»Ich habe jetzt immer so boshafte, stechende Gedanken. Sie tun so weh, als ob man einem eine weißglühende Nadel ins Fleisch hineinbohrt. Jetzt bohre ich die Nadel in Sie, Sie Armer ... Ich sehe ja, wie Sie leiden.«
»Das macht nichts, wenn es nur Ihnen besser geht!« Er küßte ihre durchsichtige Hand mit den blau hervortretenden Adern. Die Hand schien so tot, so kindlich.
»Wollen wir den Haferbrei fertig essen, sonst geht die Alte nie fort,« sagte Sophie mit einem Blick auf Prokofjewna. »Ohne Pausen. Der neunte ... der zehnte ... der elfte ... der zwölfte ... Fertig! Tragen Sie schnell diesen Fraß fort. Siehst du, Kinderfrau, ich habe doch fertiggegessen. Zürne jetzt nicht mehr, weine nicht, du Liebe, Dumme! Ich fühle mich wieder besser. Mir ist ganz wohl. Jetzt kannst du gehen. Der Fürst wird mir etwas vorlesen, ich werde dabei ausruhen ...«
Golitzin las die ersten Verse aus Schukowskijs »Swjetlana«.
»Nein, nicht diese Stelle, lieber die andere!« unterbrach ihn Sophie, »weißt du noch, am Teiche hinter den Treibhäusern in Pokrowskoje? ...
Arme Braut, wo ist dein Liebster?
In der Erde kalt und fahl
Dich erwartet dein Gemahl ...
Weißt du noch, wie ich dann erschrak und wie du mich trösten wolltest:
Denke nicht an diesen Traum,
Du bist mein, Swjetlana ...
Und doch habe ich an den Traum denken müssen! ... Was sind es doch für schreckliche, böse Träume, Valetschka! Mein Gott, wie lange ist es her! Wir sind so alt, uralt! Nicht siebzehn Jahre, sondern siebzig ... Hier ist es so dumpf und es riecht nach den Arzneien. Wir wollen auf den Balkon gehen.«
Er nahm sie auf seine Arme: jedesmal, wenn er sie so trug, fühlte er, wie die Last leichter wurde, – sie schwand gleichsam in seinen Armen dahin. Er brachte sie auf den Balkon und setzte sie in einen Lehnsessel.
Ein Sonnenstrahl glitt über ihr goldenes Haar und die kraftlos herabhängende Hand. Die blassen Hände erschienen in der Sonne noch blasser, die blauen Adern noch blauer.
Sophie schmiegte ihr Gesicht an das seinige und schloß die Augen vor dem grellen Sonnenlicht.
»Wie schön ist das Meer! Und die Schiffe! Wohin segeln sie? Vielleicht in weite, weite Fernen. Und wenn sie am Ziele sind ...«
Er erriet: »wenn sie am Ziele sind, bin ich nicht mehr ...« Er erriet alle ihre Gedanken.
»Man sagt, die Seele sei unsterblich ... glaubst du daran?« fragte sie.
»Ja, ich glaube.«
»Ich weiß nicht ... Wenn die Seele allein unsterblich ist, wozu die Unsterblichkeit? Ich will, daß auch dort alles so sein soll wie hier. Daß es auch dort nach den aufgewühlten Blumenbeeten und Birkenknospen duften soll. Da summt eine Mücke. Sie soll auch dort summen. Siehst du, da kriecht eine kleine rote Spinne. Ich will sie auch dort sehen. Auch die Warze auf der Oberlippe bei der Kinderfrau. Alles soll dort wie hier sein. Alles will ich auch dort um mich haben.«
»Auch mich mit der Brille? ...«
»Nein, die Brille nicht. Ich mag sie nicht. Auch die spöttische Falte am Munde nicht. Wo ist sie? Ist sie verschwunden? Nein, da ist sie ja ... Sie hat sich nur verändert, sieht jetzt eher leidend aus. So kann sie bleiben, auch dort. Alles, was ich liebe, soll dort genau so wie hier sein ... Wenn aber die Seele allein unsterblich ist, dann will ich keine Unsterblichkeit, dann will ich gar nichts! Man muß doch sterben. So oder so ... Ich fühle mich so müde. Es ist kalt. Wollen wir wieder ins Zimmer.«
Er trug sie ins Zimmer zurück, setzte sie in den Ledersessel, hüllte sie in warme Tücher und umlegte sie mit Kissen, denn es begann ein neuer Fieberanfall. Er glaubte, daß sie bald einschlummern würde, und wollte sich entfernen. Sie rief ihn aber zu sich heran.
»Was gibt es bei euch Neues? Wie stehen die Sachen? Du hast mir schon lange nichts davon erzählt.«
Er begriff, daß sie die Geheime Gesellschaft meinte.
Er hatte ihr lange Zeit nichts von der Gesellschaft erzählt, denn er fürchtete, daß sie es zufällig dem Kaiser ausplaudern könnte. Und doch erzählte er ihr schließlich alles, ohne aber die Namen zu nennen. Er konnte es vor ihr gar nicht verheimlichen: durch eine eigene hellseherische Kraft wußte sie alles, was ihn betraf, so wie er auch alles, was sie betraf, wußte. Hier im Krankenzimmer, am Lager der Sterbenden, erschienen ihm die Geheime Gesellschaft, die Revolution und Republik als Spielsachen, mit denen er das todkranke Kind zerstreuen könnte. Zuweilen erschrak er aber: es schien ihm, daß sie viel mehr verstand, als er ihr erzählte, und daß diese »Spielsachen« eigentlich sehr gefährlich seien: war nicht unter ihnen jenes scharfe Messer verborgen, mit dem er sie tödlich verwundet hatte?
Er begann ihr irgend etwas zu erzählen und hatte nur das eine Bestreben: sie zu zerstreuen und das gefährliche Messer möglichst weit von ihr zu verbergen.
»Warum sagst du mir nicht alles?« unterbrach sie ihn plötzlich, ihn starr anblickend. »Du sprichst von der Revolution wie von einem Kindermärchen: der böse Wolf ist der Tyrann, und die Freiheit ist das Rotkäppchen. In der Tat ist es aber gar nicht so! So war es nie, und so wird es auch nie sein. Ich weiß ja alles:
O Schmach und Schande unsrer Zeit!
Sie brachen ein zum Zarenmorde
Wie eine Janitscharenhorde,
So fiel das Tier im Purpurkleid!
So heißt es bei Puschkin. Das ist etwas ganz anderes, als das Märchen vom Rotkäppchen ... Kennst du diese Verse?«
»Ja. Wo hast du sie her? Wer hat sie dir mitgeteilt?«
»Onkel Dmitrij Ljwowitsch. Er ist so gutmütig. Ich mache mit ihm alles, was ich will. Er hat mir das Gedicht aufgesagt; nur soll ich es nicht weiter verbreiten, sonst geht es ihm schlecht. Die Rede ist ja hier von der Ermordung Pauls des Ersten. Die Kinderfrau hat mir auch davon erzählt.«
Sie schwieg eine Weile und flüsterte ihm dann ins Ohr:
»Glaubst du, daß er es weiß?«
Sie sah ihn dabei noch unverwandter an.
Golitzin erriet, was sie meinte: ob der Thronfolger Alexander Pawlowitsch wußte, daß die Verschwörer seinen Vater, Kaiser Paul, ermorden wollten.
»Warum schweigst du? Sprich.«
»Laß es, Sophie. Wozu? Wer kann ihn richten außer Gott? ...«
»Nein, ich will alles wissen, was du denkst. Sage mir alles, verheimliche vor mir nichts, belüge mich nicht. Hat er es gewußt?«
»Ich glaube, daß er nicht alles gewußt hat ...« antwortete er mit großer Selbstüberwindung.
»Und wenn er es gewußt hätte,« fuhr sie fort, »wenn er es gewußt hätte, so wäre es trotzdem geschehen? ... Es konnte ja nicht anders sein? Kaiser Paul war ja ein Ungeheuer, ein Unmensch?«
»Nein, kein Ungeheuer. Nur ein armer, kranker Mensch ...«
»Aber jedenfalls ein Wahnsinniger.
Du Schmach der Welt, du Spott der Schöpfung,
Du ew'ger Vorwurf gegen Gott!
Fünfzig Millionen Menschen in der Hand eines Wahnsinnigen – durfte man das dulden? Niemand hat Schuld. Niemand darf richten außer Gott. Gott hat es selbst so eingerichtet, daß das Morden notwendig ist. Das Morden und das Sterben. Es wäre besser, daß es Gott gar nicht gäbe! ... Hättest du auch gemordet, wenn es nötig wäre? ... Du schweigst? Du willst es nicht sagen? ... Es ist ganz gleich, ich weiß ja doch, was du dir denkst ...«
Sie flüsterte ihm plötzlich wieder ins Ohr:
»Weißt du, was mir neulich geträumt hat? ... Daß wir beide in dieses Zimmer traten, und daß auf meinem Bett jemand lag; sein Gesicht war nicht zu sehen, es war wie bei einer Leiche mit einem Tuch bedeckt. Du hattest aber ein Messer in der Hand und schlichst heran, als wolltest du den auf dem Bette Liegenden ermorden. Ich dachte mir: vielleicht ist er tot? – Lebende darf man morden, aber einen Toten? Ich wollte dir etwas sagen, doch meine Stimme versagte. Ich hielt dich an der Hand fest. Du erzürntest, stießest mich zurück und stürztest dich mit dem Messer auf den Liegenden. Das Tuch glitt herab ... Da sahen wir beide, wer es war ... weißt du, wer? weißt du, wer? ...« Sie wiederholte die Frage keuchend, und er hörte, wie ihre Zähne klapperten, »Valetschka, ach Valetschka, weißt du, wer es war? ...«
Er wußte: ihr Vater.
»Laß es, Sophie, laß es!« Er bedeckte sein Gesicht mit den Händen. »Es ist ja nur ein böser Traum, der von deiner Krankheit kommt, wenn du einmal wieder gesund bist, werden alle diese Träume verschwinden ...«
»Du lügst wieder! Du verheimlichst vor mir wieder etwas! Du kannst mir nicht alles sagen? Ich will alles wissen, hörst du, alles! Ich weiß ja, daß das Rotkäppchen vor Blut rot ist. Weißt du, wessen Blut es ist? Weißt du? ... Hast du an dieses Blut gedacht, als du zu ihnen gingst? ... Kann man denn im Namen des Herrn Blut vergießen? ... Was denkt ihr dort alle vom Blut? Was? Sprich ...«
»Laß es! Laß es! Laß es!« wiederholte er verzweifelt und händeringend.
»Töten darf man, doch sprechen darf man nicht? ... Nein, erzähle! Ich kann, ich will nicht mehr! Sage mir alles und lüge nicht! Ich weiß alles, du kannst mich nicht betrügen! ...« Sie zog seine Hände mit Gewalt von seinem Gesicht fort und richtete auf ihn ihren starren Blick. Er empfand diesen Blick wie ein scharfes Messer, das töten konnte. – »Sprich: wollt ihr ihn töten?«
»Was tust du, Sophie! ...«
»Was ich tue? Ich bohre in dich eine glühende Nadel, ich stoße das scharfe Messer in den Lebenden und nicht in einen Toten. Tut es weh? Es macht nichts, du mußt auch leiden, warum soll ich mich allein vor Schmerz in Krämpfen winden? ...«
In ihren Augen flammte wilder Haß auf, und sie tat ihm noch mehr leid.
»Mein Gott, was machst du mit dir, und nicht mit mir? Wozu?! ...«
»Nein, was hast du mit mir gemacht? Ich wußte nichts, war ein dummes Mädchen, ein sorgloses, glückliches Kind. Du bist gekommen und hast alles zerstört, alles getrübt, hast mich geärgert, weißt du noch, was du mir beim Wjelgorski-Konzert erzählt hast? Darum bin ich auch krank und muß sterben. Es heißt aber: Dem wäre besser, daß ein Mühlstein an seinen Hals gehänget und er ersäufet würde ... Ich habe dich ja nicht gefragt. Wenn du einmal angefangen hast, so mußt du auch alles, alles sagen! ... Warum hast du jetzt plötzlich Angst? Fürchtest du, daß ich euch verrate? Vielleicht zeige ich euch wirklich an. Ich weiß alles, du kannst mich nicht betrügen, ich weiß, was ihr wollt! Wofür? Was hat er euch getan? Wie werdet ihr eure Hand gegen ihn erheben können? Und du, Valetschka, mein lieber, guter, mein einziger Freund?! Gegen ihn, gegen meinen Vater! Es wäre besser, Du tötetest mich! ...«
Er erhob sich. Sein Gesicht war leichenblaß, doch entschlossen und ruhig.
»Gott sei dein Richter, Sophie! Denke, wie du willst: vielleicht sind sie Mörder, Ungeheuer, Verbrecher. Vielleicht sind sie aber nur dumme Kinder; ich denke mir zuweilen auch selbst: sie werden nichts erreichen, niemanden erretten und nur sich selbst zugrunde richten. Doch ruht die göttliche Wahrheit bei ihnen. Vielleicht bin ich unwürdig, vielleicht werde ich die Verantwortung nicht tragen können, vielleicht bin ich der Aufgabe nicht gewachsen, – doch werde ich nie von ihnen fortgehen, selbst wenn ich dich, Sophie ...«
Seine Stimme versagte, seine Züge verzerrten sich, er bedeckte sein Gesicht mit den Händen und schluchzte:
»Ich lasse nicht von ihnen, ich lasse nicht von ihnen! Selbst wenn ich dich verlieren sollte, ich lasse nicht von ihnen! ...«
»Wer hält dich denn zurück?« Sie lächelte boshaft und spöttisch wie vorhin. »Also geh' zu ihnen! Geh! Geh! ...«
Sie fiel in die Kissen und zitterte wie ein verwundeter Vogel. Zuerst war es ein herzzerreißendes Schluchzen, dann kam aber der qualvolle Husten. Es schien ihm, daß sie jetzt gleich in seinen Armen sterben würde.
Der Hustenanfall ging vorüber. Ihr Gesicht war weißer als die weißen Kissen; sie lag mit geschlossenen Augen, wie eine Tote. Er wollte schon um Hilfe rufen. Sie rührte sich aber und öffnete die Augen.
»Valja, bist du da? Bist nicht fortgegangen? Es macht nichts. Fürchte nichts. Es ist vorbei. Gib mir Wasser. Wie deine Hände zittern. Fürchte doch nichts. Mir ist wohl. Geh nur nicht fort, bleibe bei mir ...«
Sie neigte sich plötzlich zu seinen Händen und begann sie zu küssen; sie weinte, ihr Gesicht blieb aber heiter und ruhig, sie lächelte mild und still.
»Vergib mir, Valja, mein Lieber! Es war zum letztenmal und kommt nie wieder, vergib mir, geh nicht fort, verlasse mich nicht. Ich kann nicht ohne dich ...«
Er kniete vor ihr nieder. Sie umschlang seinen Kopf mit den Armen, streichelte und küßte seine Haare.
»Laß gut sein, mein armer Junge! weine nicht. Alles wird sich zum besten wenden. Ich weiß es, Gott wird uns helfen. Ich werde mich bald besser fühlen. Es ist mir schon jetzt so wohl, so leicht mit dir. Verspreche mir nur, daß du mich zu dir nehmen wirst. Ich kann hier nicht länger bleiben, ich will nicht! Ich muß mit dir sein. Wo du bist, da muß auch ich sein. Wenn es nötig ist, wollen wir fliehen. Ja? Weit weg von allen. Später wird auch er mit uns sein. Er hat mir ja versprochen, alles zu lassen und mit mir zu leben. So werden wir zu dritt sein: er, du und ich. Dann wollen wir ihm alles sagen. Er wird uns verstehen und alles ändern. Er will ja dasselbe wie ihr? Du hast es ja selbst gesagt, daß er dasselbe will. Und so wird kein Blut vergossen. Es soll kein Blut fließen. Wenn es aber doch fließen muß, so wird auch er sein Blut mit euch hinopfern für die Freiheit und für das Glück Rußlands! So wird es sein, Valja, ja? Sage mir, daß es so sein wird! ...« – Die letzten Worte wiederholte sie wie eine Wahnsinnige.
»Ja, es wird so sein!« antwortete er. Er ahnte in diesem Wahnsinn etwas Prophetisches: irgendwann, irgendwo, vielleicht in einer andern Welt, wird es nach ihrem Worte geschehen.
Plötzlich horchten beide auf. Auf der Brücke vor der Einfahrt erklang Pferdetrab; der Sand auf der Gartenallee knirschte unter den Wagenrädern. Fürst Valerian eilte auf den Balkon.
»Er?« fragte Sophie, als er ins Zimmer zurückkehrte.
»Ja. Lebe wohl.«
»Nein, warte noch. Du hörst ja, daß er zuerst zur Mama geht. Du hast noch Zeit. Warte, ich wollte dir noch etwas sagen ... Ja, vielleicht ist es besser, daß ich sterbe? Im Tode werde ich euch eher versöhnen, als im Leben. Doch tot oder lebendig, – ich bleibe ewig mit dir! Wenn du mich auch von dir jagst, gehe ich nicht von dir. Ich werde dich auch von dort aus besuchen. Denke daran: ich folge dir überall. Und wenn Gott dich verdammt, so soll er auch mich verdammen. Gott wird aber nicht verdammen! Komm her, ich will dich segnen. Herr, behüte und beschütze uns und sei uns gnädig! Errette uns, reine Himmelskönigin! ...«
Sie bekreuzigte und küßte ihn mit dem gleichen milden Lächeln.
»Geh, geh jetzt.«
Er stürzte aus dem Zimmer. Es war aber zu spät: der Kaiser war bereits auf der Treppe. Golitzin konnte ihm nicht ausweichen. Er drückte sich mit einer tiefen Verbeugung an die Wand. Der Kaiser sah ihn so an, als ob er ihm etwas sagen wollte. Er sagte aber nichts, nickte ihm mit finsterer Miene zu und ging an ihm vorbei.
Er hatte Maria Antonowna schon früher gebeten, Golitzin nicht mehr vorzulassen. Sophie benutzte ihre Krankheit als Vorwand, um ihren Bräutigam, den Grafen Schuwalow, nicht zu empfangen, während Golitzin bei ihr ganze Tage verbringen durfte. Der Kaiser hielt es für unpassend. Außerdem machte er die Wahrnehmung, daß der Umgang mit Golitzin sie zu sehr aufregte und nachteilig auf ihr Befinden wirkte. Er beschloß, es ihr selbst zu sagen.
Als er sie aber vor sich sah, vergaß er sein Vorhaben: in den letzten zwei Tagen hatte sie sich so sehr verändert, daß er erschrecken mußte: er sah erst jetzt, daß sie totkrank war.
Sie freute sich über seinen Besuch und war zärtlich wie immer. Doch beide fühlten, daß zwischen ihnen etwas Unüberbrückbares lag. Sie umarmte und küßte ihn; doch der seltsame Widerspruch zwischen dem allzu zärtlichen Lächeln der Lippen und der grausamen Falte auf der Stirne setzte sie wieder in Erstaunen, wie ehemals, als sie die Thorwaldsensche Marmorbüste betrachtete; plötzlich fiel ihr ein, wie sie als Kind diesen Marmor umarmt und geküßt hatte und wie er unter ihren Liebkosungen warm und lebendig geworden war.
Und sie fürchtete, daß der Lebende unter ihren Liebkosungen tot erscheinen könnte.