Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Fünfundzwanzigstes Kapitel

Lucile Desmoulins (April 1794)

Die konstituierende Versammlung hatte befohlen, daß in jeder Gemeinde in dem Amtszimmer, wo die Ehen geschlossen und die Anmeldungen der Geburten und Todesfälle abgegeben wurden, ein Altar stehen sollte.

Die drei pathetischen Momente des menschlichen Geschicks wurden so am Altar der Gemeinde geweiht, und wäre die Religion der Familie mit der des Vaterlandes eins geworden, so würde dieser Altar bald der einzige geworden sein, und das Stadthaus wäre der Tempel gewesen.

Man hätte den Rat Mirabeaus befolgt: »Ihr könnt nichts ausrichten, wenn ihr nicht die Revolution entchristlicht.«

Mehrere Arbeiter aus dem Faubourg Saint-Antoine erklärten im Jahre 1793, daß sie ihre Ehe nicht für rechtmäßig hielten, wenn sie nicht vor der Gemeinde durch die Behörde geweiht würde.

Camille Desmoulins heiratete im Jahre 1791 in Saint-Sulpice nach katholischem Ritus; die Familie seiner Frau verlangte es so. Aber als im Jahre 1792 sein Sohn Horatius geboren wurde, trug er ihn selbst zum Rathaus und berief sich auf das Gesetz der konstituierenden Versammlung. Es war das erste Beispiel der republikanischen Taufe.

Die rührendste Erinnerung aus der ganzen Revolution ist die an ihren großen Schriftsteller, den guten und beredten Camille, an seine reizende Lucile und die Tat, die ihnen beiden den Tod brachte (zu der sie ganz unmittelbar beitrug), der angesichts der allmächtigen Schreckensherrschaft so verwegene Vorschlag eines »Ausschusses der Gnade«.

Obwohl Camille im Jahre 1789 arm oder, besser gesagt, bedürftig, obwohl er von der Natur äußerlich wenig begünstigt war und zudem beinahe stotterte, hatte er durch sein anziehendes Herz, durch den Reiz eines außerordentlich scharfen Geistes seine hübsche, anmutige, untadelige und verhältnismäßig reiche Lucile erobert. Es war ein Bild von ihr vorhanden, vielleicht das einzige, eine kostbare Miniatur (Sammlung des Obersten Maurin). Was ist jetzt daraus geworden? In welche Hände ist es übergegangen? Dieses Kleinod ist Frankreichs Eigentum. Ich bitte den Erwerber, wer er auch sein mag, daran zu denken und es uns wiederzugeben. Es möge im Museum aufbewahrt werden, so lange, bis das Museum der Revolution, das man früher oder später gründen wird, fertig ist. [ * ] Das Bild von Lucile Desmoulins ist heute im Musée Carnavalet in Paris. R. K.

Lucile war die Tochter eines früheren Finanzbeamten und einer sehr schönen und hervorragenden Frau, von der man behauptete, sie sei die Geliebte des Finanzministers Terray gewesen. Ihr Bild zeigt eine hübsche Frau aus ziemlich niedrigem Stande, wie ihn auch ihr Name beweist; Lucile Duplessis Laridon. Hübsch, aber vor allem eigensinnig, ein kleiner Desmoulins in Weibgestalt. Ihr reizendes, kleines, bewegtes, launisches, wetterwendisches Gesicht hat einen Hauch vom »freien Frankreich« (so heißt die schöne Flugschrift ihres Gatten). Das Genie ist darüber hingegangen, das fühlt man, die Liebe eines genialen Mannes [ * ] Sie liebte ihn so, daß sie mit ihm sterben wollte. – Und dennoch! Besaß er dieses opferfreudige Herz völlig und ohne Vorbehalt? – Wer kann es beweisen? Sie wurde von einem sehr minderwertigen Manne (dem allzu berühmten Fréron) heiß geliebt. Sie sieht verstört aus auf diesem Bilde, als trage ihr Leben an einer Wunde; die Gesichtsfarbe ist fahl und wenig schön. Arme Lucile! ich fürchte, du hast zuviel von diesem Kelch getrunken, die Revolution ist in dir. Ich meine zu fühlen, daß du in eine unentwirrbare Verstrickung geraten bist. Aber wie ruhmvoll hast du dich daraus gelöst durch den Tod! .

Ich kann mir das Vergnügen nicht versagen, das naive Blatt abzuschreiben, auf dem diese junge Frau von zwanzig Jahren ihre Erregung in der Nacht vom 10. August schildert:

»Am 8. August bin ich vom Lande zurückgekehrt; alle Geister waren schon in lebhaftester Gärung; ich hatte Marseillaiser zu Tisch, wir waren ziemlich vergnügt. Nach dem Essen waren wir bei Herrn Danton. Die Mutter weinte, trauriger als sie konnte man nicht sein; ihr Kleiner sah stumpfsinnig aus. Danton war entschlossen; ich selbst lachte wie verrückt. Sie fürchteten, daß die Sache nicht stattfinden würde; obgleich ich dessen nicht ganz sicher war, sagte ich ihnen, als ob ich es genau wüßte, daß sie doch stattfinden würde. ›Aber wie kann man so lachen?‹ fragte mich Madame Danton. ›Ach!‹ erwiderte ich. ›Das zeigt mir an, daß ich heute abend viele Tränen vergießen werde.‹ – Es war schönes Wetter; wir bummelten ein wenig auf der Straße; ziemlich viele Leute waren auf den Beinen. Einige Sansculotten gingen vorbei und schrien: ›Es lebe die Nation!‹ Dann kamen Truppen zu Pferde; schließlich ungeheure Mengen Truppen. Die Angst packte mich. Ich sagte zu Madame Danton: ›Wir wollen heimgehen.‹ Sie lachte über meine Furcht; aber da ich davon sprach, so hatte sie auch Furcht. Ich sagte zu ihrer Mutter: ›Adieu, Sie werden bald die Sturmglocke läuten hören.‹ Als wir bei ihr ankamen, sah ich, daß jeder sich bewaffnete. Camille, mein lieber Camille, kam mit einem Gewehr. O Gott! ich flüchtete in den Alkoven; ich legte den Kopf in beide Hände und begann zu weinen. Da ich indessen mich nicht so schwach zeigen und ganz laut zu Camille sagen wollte, ich wünsche nicht, daß er sich in all das hineinmische, so paßte ich den Augenblick ab, wo ich ohne Ohrenzeugen mit ihm sprechen konnte, und sagte ihm alle meine Befürchtungen. Er beruhigte mich und versicherte mir, daß er Danton nicht verlassen würde. Ich habe seither erfahren, daß er sich in Gefahr begeben hat. Fréron hatte ein zum Sterben bereites Aussehen. ›Ich bin lebensmüde,‹ sagte er, ›ich suche nur den Tod.‹ Bei jeder kommenden Patrouille glaubte ich, sie zum letztenmal zu sehen. Ich versteckte mich in den Salon, der ohne Licht war, um alle die Zurüstungen nicht zu sehen. Unsere Patrioten zogen ab; ich setzte mich neben einem Bett nieder, gedrückt, vernichtet, und schlummerte bisweilen ein; wenn ich sprechen wollte, redete ich dummes Zeug. Danton kam, um sich schlafen zu legen, er schien nicht sehr eifrig zu sein und ging fast gar nicht hinaus. Mitternacht kam heran, mehrere Male suchte man ihn, endlich ging er zur Kommune. Die Sturmglocke der Cordeliers läutete, sie läutete lang. Allein, in Tränen gebadet, am Fenster knieend, das Gesicht ins Taschentuch vergraben, hörte ich den Klang dieser fatalen Glocke. Danton kam zurück. Mehrere Male brachte man uns gute und schlechte Nachrichten; ich glaubte zu bemerken, daß man zu den Tuilerien zu ziehen beabsichtigte; schluchzend sagte ich es. Ich fürchtete, ohnmächtig zu werden. Madame Robert fragte bei jedermann nach ihrem Gatten: ›Wenn er umkommt‹, sagte sie zu mir, ›werde ich ihn nicht überleben. Dieser Danton, nach dem sie alle schreien! Wenn mein Gatte umkommt, dann habe ich Weibesmut genug, Danton zu erdolchen.‹ Camille kam um ein Uhr zurück; er schlief auf meiner Schulter ein. Madame Danton schien auf den Tod ihres Gatten gefaßt zu sein. Morgens feuerte man Geschütze ab. Sie hört es, erblaßt, wankt und fällt in Ohnmacht.

Was soll aus uns werden, mein armer Camille? ich kann kaum mehr atmen. Mein Gott! wenn du wirklich noch lebst, so rette doch Menschen, die deiner würdig sind. Wir wollen frei sein; o Gott! wie teuer wird das bezahlt!«

Lucile, die sich so naiv zeigt in ihrer weiblichen Schwachheit, wurde im Tode ein Held.

Man muß ihr Verhalten in dem entscheidenden Augenblick beobachten, wo zwischen Desmoulins und seinen Freunden darüber beraten wurde, ob er den entscheidenden und wahrscheinlich tödlichen Schritt tun und für Preß- und Redefreiheit eintreten solle, die durch die Verhaftung seines Freundes Fabre d'Églantine [ * ] Fabre d'Églantine gehörte der Partei Dantons an und betrieb besonders eifrig den Kampf gegen den Wohlfahrtsausschuß. Er versuchte sogar, den Konvent gegen den Ausschuß zur Empörung zu bringen. Der Ausschuß ließ ihn daher unter dem Vorwande, er habe zugunsten der Indischen Handelskompagnie, mit deren Angelegenheiten er betraut war, eine Fälschung begangen, verhaften. Man behauptete, eine große royalistische Verschwörung stecke hinter der Sache. (Woran so viel wahr ist, daß der berühmte Baron von Batz, ein royalistischer Agent, welcher der Revolution sehr viel zu schaffen machte, in die Sache verstrickt war.) So wurde Fabre als Fälscher hingerichtet, obwohl der Wohlfahrtsausschuß in Wirklichkeit nur einen gefährlichen Gegner los werden wollte. Der äußerst verwickelte Prozeß Fabre ist einer der interessantesten von den vielen Sensationsprozessen der Revolution. R. K. unterdrückt worden waren, ob er es wagen solle, sich dem reißenden Strom der Schreckensherrschaft entgegenzuwerfen.

Wer sah da nicht die Gefahr, die dem armen Künstler drohte? Betreten wir das niedrige, ruhmvolle Haus (in der Rue de l'Ancienne-Comédie, nahe der Rue Dauphine). Im ersten Stockwerk wohnte Fréron. Im zweiten Camille Desmoulins und seine reizende Lucile. Ihre erschreckten Freunde kamen und baten sie, drangen in sie, suchten sie zurückzuhalten und zeigten ihnen den Abgrund. Ein durchaus nicht furchtsamer Mann, der General Brune, ein vertrauter Freund des Hauses, kam eines Morgens zu ihnen und riet zur Vorsicht. Camille lud Brune zum Frühstück ein und versuchte, ohne zu leugnen, daß er recht habe, ihm eine andere Meinung beizubringen. » Edamus et bibamus«, sagte er auf lateinisch zu Brune, damit Lucile ihn nicht verstünde, » cras enim moriemur.« Gleichwohl sprach er so rührend von seinem Entschluß, sich zu opfern, daß Lucile zu ihm eilte und ihn umarmte. »Laßt ihn in Frieden!« rief sie. »Laßt ihn, damit er seine Sendung erfülle: er wird Frankreich retten. Die, welche anderer Ansicht sind, bekommen nicht einmal von meiner Schokolade.«

Fréron, Camilles Freund und ein leidenschaftlicher Bewunderer seiner Frau, hatte gerade von seinem Anteil an der Einnahme Toulons berichtet, und wie er mit dem Degen in der Faust auf die Batterien gestiegen sei. Ich bin sehr geneigt, anzunehmen, daß Camille um so eher in den Augen seiner Frau zu gewinnen wünschte. Er war nur ein großer Schriftsteller, er wollte ein Held sein.

Die siebente Nummer des »Alten Cordeliers«, die sich so verwegen gegen die beiden regierenden Ausschüsse wandte, und die achte gegen Robespierre (veröffentlicht im Jahre 1836) brachten Camille den Untergang und verwickelten ihn in den Prozeß gegen Danton.

Die lebhafte Erregung, die der Prozeß hervorrief, und die ungeheuere Menge, die in einer den Angeklagten günstigen Stimmung den Justizpalast umwogte, weckten die Meinung, daß, wenn es den Gefangenen im Luxembourg gelänge, hinauszukommen, sie das Volk mit fortreißen könnten. Aber das Gefängnis zerbricht den Mann; keiner hatte Waffen und fast keiner Mut.

Eine Frau sprang ihnen bei. Die junge Frau Desmoulins irrte, außer sich vor Schmerz, rings um das Luxembourg. Camille stand da, an die Gitter gepreßt, folgte ihr mit den Augen und schrieb die erschütterndsten Dinge, die je ein Menschenherz getroffen haben. Auch sie erkannte in diesem furchtbaren Augenblick, daß sie ihren Gatten heiß liebte. Jung und strahlend wie sie war, hatten die Huldigungen der Militärs ihr Vergnügen gemacht, des Generals Dillon, Frérons. Fréron war in Paris, wagte jedoch nicht, etwas für sie zu tun. Dillon war im Luxembourg, zechte als echter Irländer und spielte mit jedem ersten besten Karten.

Camille hatte sich für Frankreich und für Lucile ins Verderben gestürzt.

Und sie stürzte sich für ihn ins Verderben. Am ersten Tage hatte sie Robespierres Herz zu rühren gesucht. Man hatte früher geglaubt, daß Robespierre sie heiraten würde. Sie erinnerte in ihrem Briefe daran, daß er ihr Trauzeuge, ihr erster Freund gewesen war, daß Camille nur für seinen Ruhm gearbeitet hatte, und sie fügte dieses Wort – das Wort einer Frau, die sich jung, reizend und bedauernswert weiß, die ihr Leben als etwas Kostbares fühlt – hinzu: »Du wirst uns alle beide töten; ihn treffen, das heißt auch mich töten.«

Keine Antwort.

Sie schrieb an ihren Bewunderer Dillon: »Man spricht davon, einen neuen September zu veranstalten. Wäre es eines mutigen Mannes würdig, sich nicht, wenigstens solange er lebt, zu verteidigen?«

Die Gefangenen erröteten über diese Mahnung einer Frau und entschlossen sich zu handeln. Es scheint jedoch, daß sie erst beginnen wollten, wenn Lucile sich unter das Volk geworfen und die Menge aufgewiegelt hätte.

Der brave Dillon, der ein indiskreter Schwätzer war, spielte gerade Karten mit einem gewissen Laflotte und erzählte dem bei einem Glase Wein die ganze Geschichte. Laflotte ließ ihn reden und hörte zu. Laflotte war zwar Republikaner; aber er geriet – gefangen, ohne Ausweg, ohne Hoffnung – in eine furchtbare Versuchung. Am Abend (3. April) verriet er nichts und wartete die ganze Nacht, da er vielleicht noch schwankte. Am Morgen gab er seine Seele preis zum Tausch für sein Leben, verkaufte seine Ehre und sagte alles. Mit solch unwürdigem Mittel erwürgte man Danton, Camille Desmoulins und einige Tage später Lucile und mehrere andere Gefangene aus dem Luxembourg, die alle der Sache fern standen und sich nicht einmal kannten.

Die einzige unter den Angeklagten, die großen Mut bewies, war Lucile Desmoulins. Sie zeigte sich unerschrocken und ihres großen Namens würdig. Sie gab zu, Dillon und den Gefangenen gesagt zu haben, wenn man einen neuen September veranstalte, so sei es ihre Pflicht, ihr Leben zu verteidigen.

Jedermann, welcher Richtung er auch angehören mochte, zerriß dieser Tod das Herz. Sie war keine Politikerin, keine Corday, keine Roland; sie war einfach Frau, sie sah auf den ersten Blick wie ein junges Mädchen, beinahe wie ein Kind aus. Was hatte sie denn getan? Etwa einen Liebhaber retten wollen? Nein, sondern ihren Gatten, den guten Camille, den Anwalt der Menschheit. Sie starb um ihrer Tugend willen, die unerschrockene, reizende Frau, um der Erfüllung der heiligsten Pflicht willen.

Ihre Mutter, die schöne, gute Madame Duplessis, war entsetzt über diese Sache, die sie niemals hatte vermuten können, und schrieb an Robespierre, der nicht antworten konnte oder es nicht wagte. Er hatte Lucile geliebt, erzählte man, hatte sie heiraten wollen. Wenn er geantwortet hätte, so hätte man geglaubt, er liebe sie noch. Er hätte sich damit eine Blöße gegeben und sich sehr kompromittiert.

Jedermann verwünschte diese Vorsicht. Man fing an nachzudenken. Man litt und fühlte sich gedrückt. Eine Stimme herrschte im ganzen Volke ohne Unterschied der Partei (eine von den Stimmen, die Unglück bringen): »Nein, das ist zuviel!«

Was hatte man angerichtet, als man das Menschenherz so sehr quälte? Man hatte einen grausamen Krieg gegen die Ideen heraufbeschworen, eine fürchterliche, tierische, blinde und entsetzliche Macht geweckt, die wilde Sinnenwut, die gegen die Grundsätze aufmarschiert, die, um Blut zu rächen, Ströme von Blut vergießt, die Nationen töten würde, um Menschen zu retten.

Fußnote, aus technischen Gründen im Text wiedergegeben. Re. Gefängnis Luxembourg, 2. Germinal, 5 Uhr morgens.

»Der wohltuende Schlummer hat mein Leid gemildert. Man ist frei, wenn man schläft; man hat nicht mehr das Gefühl, gefangen zu sein; der Himmel hat Mitleid mit mir gehabt. Nur ein Augenblick ist mir gegenwärtig, ich sah Dich im Traum, ich umarmte Euch nacheinander, Dich, Horatius und Durousse, der im Hause war; aber unser Kleiner hatte ein Auge verloren durch böse Säfte, die hineingedrungen waren; und der Schmerz über dieses Unglück hat mich aufgeweckt. Ich fand mich in meiner Zelle wieder. Es dämmerte ein wenig. Da ich Dich nicht mehr sehen und Deine Antworten nicht mehr hören konnte – denn Du und Deine Mutter, ihr spracht mit mir –, bin ich wenigstens aufgestanden, um mit Dir zu sprechen und Dir zu schreiben. Aber als ich die Fenster öffnete, besiegte der Gedanke an meine Einsamkeit, an die schrecklichen Gitter, an die Riegel, die mich von Dir trennen, alle meine Standhaftigkeit. Ich zerschmolz in Tränen, oder vielmehr: ich habe unter Schluchzen in meinem Grabe gerufen: Lucile! Lucile! O meine liebe Lucile, wo bist du? (Hier bemerkt man die Spur einer Träne.) Gestern Abend habe ich einen ähnlichen Zustand gehabt, und das Herz ist mir fast gebrochen, als ich im Garten Deine Mutter sah. Unwillkürlich warf ich mich auf die Knie vor das Gitter; ich habe die Hände gefaltet, wie um sie um Mitleid anzuflehen, sie, die, dessen bin ich sicher, ihren Kummer an Deinem Busen barg. Ich habe gestern ihren Schmerz ermessen können (hier ist wieder eine Tränenspur) an ihrem Taschentuch und an ihrem Schleier, den sie herabgezogen hatte, da sie den Anblick nicht ertragen konnte. Wenn Ihr kommt, dann soll sie sich mit Dir ein wenig näher setzen, damit ich Euch besser sehen kann. Das ist, glaube ich, ungefährlich. Meine Brille ist nicht ganz scharf; ich möchte, daß Du mir eine Brille kaufst, wie ich vor sechs Monaten eine hatte, nicht aus Silber, sondern aus Stahl, mit zwei Haltern, die man hinter die Ohren legt. Du mußt Nummer 15 verlangen; der Kaufmann weiß, was das bedeutet; aber vor allem, Lolotte, beschwöre ich Dich bei meiner ewigen Liebe: schicke mir Dein Bild; möge Dein Maler Mitleid mit mir haben, da ich nur leide, weil ich mit andern zuviel Mitleid gehabt habe; er soll Dir zwei Sitzungen täglich gewähren. Im Grauen meines Gefängnisses wird es mir ein Fest sein, ein Tag der Trunkenheit und des Entzückens, wenn ich dies Bild bekomme. Inzwischen schicke mir eine Locke von Deinen Haaren, damit ich sie an meinem Herzen trage. Meine liebe Lucile! nun bin ich wieder soweit wie in den Zeiten unserer ersten Liebe, wo jeder, der aus Deinem Hause kam, mir nur gerade darum interessant war. Als gestern der Bürger, der Dir meinen Brief brachte, zurückkam, fragte ich ihn: ›Nun, haben Sie sie gesehen?‹ wie ich früher den Abbé Landreville zu fragen pflegte; und ich überraschte mich dabei, wie ich ihn betrachtete, als wenn auf seinen Kleidern, auf seiner ganzen Person etwas von Deiner Gegenwart, etwas von Dir geblieben sei. Er hat eine barmherzige Seele, da er Dir meinen Brief unverzüglich brachte. Ich werde ihn, glaube ich, zweimal täglich sehen, morgens und abends. Dieser Bote unserer Leiden wird mir ebenso teuer, wie es früher der Bote unserer Freuden war. Ich habe in meiner Zelle einen Spalt entdeckt; ich habe mein Ohr daran gehalten und seufzen gehört; ich wagte ein paar Worte und vernahm die Stimme eines Kranken, der Schmerzen hatte. Er fragte mich nach meinem Namen, und ich nannte ihn. ›O mein Gott!‹ rief er aus, als er ihn hörte, und sank auf sein Bett zurück, von dem er sich erhoben hatte; und ich habe deutlich die Stimme Fabre d'Églantines erkannt. ›Ja, ich bin Fabre,‹ sagte er, ›und Du bist auch hier! Die Gegenrevolution ist also im Gang?‹ Wir wagen indessen nicht, miteinander zu sprechen, aus Furcht, der Haß könne uns diesen schwachen Trost neiden, und wir könnten, wenn man uns hörte, getrennt und enger gefesselt werden; denn er hat ein geheiztes Zimmer, und das meinige würde ganz schön sein, wenn man das von einer Gefängniszelle sagen könnte. Ja, liebe Freundin! Du kannst Dir nicht denken, was es heißt, in Einzelhaft zu sitzen, ohne zu wissen warum, ohne verhört worden zu sein, ohne eine einzige Zeitung zu bekommen; das heißt, lebend und tot sein zugleich; das heißt, nur existieren, um zu fühlen, daß man in einem Sarge liegt! Man sagt, daß die Unschuld ruhig und mutig ist. Ach liebe Lucile! Du Heißgeliebte! Sehr oft ist meine Unschuld schwach wie die eines Gatten, eines Vaters, eines Sohnes! Wenn es noch Pitt oder Coburg wäre, die mich so hart behandelten! Aber meine Kollegen! Aber Robespierre, der meinen Haftbefehl unterzeichnet hat! Aber die Republik, nach allem, was ich für sie getan habe! Das ist der Dank, den ich für so viel Tugenden und Opfer empfange! Als ich hierher kam, sah ich Hérault-Séchelles, Simon, Ferroux, Chaumette und Antonelle; sie sind nicht so unglücklich, denn keiner ist in Einzelhaft. Mich, der ich mich seit fünf Jahren so großem Haß und so vielen Gefahren für die Republik aussetzte, der ich meine Reinheit inmitten der Revolution bewahrt habe, mich, der ich niemanden auf der Welt um Verzeihung zu bitten habe als Dich allein, meine liebe Lolotte – und Du hast sie mir ja gewährt, weil Du weißt, daß mein Herz trotz seiner Schwächen Deiner nicht unwürdig ist –, mich werfen Männer, die sich meine Freunde nannten, die sich Republikaner nennen, ins Gefängnis, in Einzelhaft, wie einen Verschwörer! Sokrates trank den Giftbecher; aber er durfte wenigstens seine Freunde und seine Frau im Gefängnis sehen. Wieviel härter ist es, von Dir getrennt zu sein! Der größte Verbrecher wäre zu hart gestraft, wenn er einer Lucile anders entrissen wurde als durch den Tod, der wenigstens den Schmerz einer solchen Trennung nur einen Augenblick lang fühlen läßt; aber ein Schuldiger wäre Dein Gatte nicht gewesen, und Du hast mich darum geliebt, weil ich für das Glück meiner Mitbürger allein atmete. Man ruft mich. Soeben haben mich die Kommissare des Revolutionsgerichtes verhört. Es wurde mir nur die Frage vorgelegt, ob ich an einer Verschwörung gegen die Republik teilgenommen habe. Welcher Hohn! Kann man den reinsten Republikanismus so schmähen! Ich sehe, welches Schicksal mich erwartet. Leb wohl, meine Lucile! meine liebe Lolotte, mein gutes Wölfchen! Bringe dem Vater meinen Abschiedsgruß. Du siehst in mir ein Opfer der Barbarei und des Undankes der Menschen. Meine letzten Augenblicke werden Dir keine Schande machen. Du siehst, daß meine Furcht begründet war, daß unsere Vorahnungen immer richtig waren. Ich habe eine in ihrer Tugend himmlische Frau geheiratet; ich bin ein guter Gatte und ein guter Sohn gewesen; ich wäre ein guter Vater geworden. Ich nehme die Achtung und das Bedauern aller wahren Republikaner, aller Menschen, ich nehme die Tugend und die Freiheit mit mir. Ich sterbe mit vierunddreißig Jahren; aber es ist ein Wunder, daß ich seit fünf Jahren an so vielen Abgründen der Revolution vorbeigewandelt bin, ohne hineinzustürzen, daß ich noch lebe, daß ich meinen Kopf noch ruhig auf das Kopfkissen aus meinen allzu zahlreichen Schriften stütze, die alle die selbe Menschenliebe atmen, denselben Wunsch, meine Mitbürger glücklich und frei zu machen, die das Beil der Tyrannen nicht treffen wird. Ich sehe wohl, daß die Macht fast alle Menschen berauscht, daß alle mit Dionys von Syrakus sagen: ›Die Tyrannei ist eine schöne Grabschrift.‹ Aber tröste Dich, untröstliche Witwe! Die Grabschrift Deines armen Camille ist ruhmvoller: sie ist die der Brutus und Cato, der Tyrannenmörder! O meine liebe Lucile! ich war geboren, zu dichten, die Unglücklichen zu verteidigen, Dich glücklich zu machen und mit Deiner Mutter, meinem Vater und ein paar Leuten nach unserem Herzen ein Otaïti zu bilden. Ich hatte eine Republik erträumt, die jedermann begeistert hätte. Ich konnte nicht daran glauben, daß die Menschen so grausam und ungerecht wären. Wie hätte man denken sollen, daß einige Scherze in meinen Schriften gegen die Kollegen, die mich gereizt hatten, die Erinnerung an meine Dienste verwischen würden. Ich verhehle mir nicht, daß ich als Opfer meines Witzes und meiner Freundschaft für Danton sterbe. Ich danke meinen Mördern, daß sie mich mit ihm und Philippeaux sterben lassen; und da unsere Kollegen feige genug sind, uns im Stich zu lassen und ihr Ohr Verleumdungen zu leihen, die ich nicht kenne, die aber sicher gröbster Art sind, so sehe ich, daß wir sterben müssen als Opfer des Mutes, mit dem wir Verräter anzeigten, und unserer Wahrheitsliebe. Dieses stolze Zeugnis können wir mit uns hinabnehmen, daß wir als die letzten Republikaner zugrunde gehen. Verzeihung, liebe Freundin, Du mein wahres Leben, daß ich einen Augenblick lang unsere Trennung vergessen konnte und mich mit meinem Nachruf beschäftige. Ich sollte mich viel eher damit beschäftigen, Dich ihn vergessen zu machen, meine Lucile! mein gutes Herz! mein Hühnchen! Ich beschwöre Dich, quäle Dich nicht zu sehr damit und rufe mich nicht durch Deine Schreie: sie würden mir das Herz zerreißen, wenn ich im Grabe liege; lebe für meinen Horatius, erzähl ihm von mir. Du sollst ihm sagen, was ich ihm nicht mehr sagen kann. Wie ich ihn geliebt habe! Trotz meiner Qual glaube ich, daß es einen Gott gibt. Mein Blut wird meine Fehler, meine menschlichen Schwachheiten auslöschen; und was Gutes in mir war, meine Tugenden, meine Liebe zur Freiheit, das wird Gott lohnen. Ich werde Euch eines Tages wiedersehen, o Lucile! o Anette! Ist der Tod, der mich von dem Anblick so vieler Verbrechen befreit, für mich, der ich so empfindsam war, ein großes Unglück? Leb' wohl, mein Herz; leb' wohl, mein Leben, meine Seele, Du meine Gottheit auf dieser Erde! Ich hinterlasse Dir gute Freunde, alle tugendhaften und empfindsamen Menschen. Leb' wohl, Lucile, meine liebe Lucile! Lebt wohl, Horatius, Anette! Leb' wohl, lieber Vater! Ich sehe das Ufer des Lebens vor mir entschwinden. Noch sehe ich Lucile! Ich sehe sie –! Meine gefesselten Arme pressen Dich an mich! Meine gebundenen Hände umarmen Dich, und mein Dir fernes Haupt ruht an Deiner Brust. Nun gehe ich in den Tod!«


 << zurück weiter >>