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Ein Dorf ist es, ein schönes großes Dorf und eine Chaussee führt in geringer Entfernung an demselben vorüber. Zu ihm gehören Wiesen und Felder, prächtige Forsten, zahlreiche Gärten und ein umfangreicher See.
Die zwei oder drei Straßen werden gebildet von kleineren und größeren Bauergehöften, von Stellmachern, Schmiede, verschiedenen Schänken mit schattigen Vorplätzen und Kegelbahnen, und endlich einer Anzahl sauber und zierlich aufgeführter Landhäuser, den Sommersitzen wohlhabender Leute aus der Stadt.
Die Anwesenheit dieser reichen Leute hat wieder andere Menschen, die von ihnen leben wollen, herbeigezogen, als Fleischer, Bäcker und Materialienhändler, so daß nicht jedesmal um ein Pfund Tabak oder ein Schächtelchen Streichhölzer zur Stadt geschickt zu werden braucht. Aber auch Putzmacherinnen haben sich eingefunden, Plätterinnen und sogar Kellner in wirklichen schwarzen Leibröcken – wenn auch nicht ursprünglich für ihre Schultern angefertigt – welche den großen Vorzug besitzen, in Abwesenheit von Gästen, auch zu andern Beschäftigungen – Holzspalten und Viehfuttern nicht ausgenommen – herangezogen werden zu können.
Ueber dieses namhafte Dorf herrscht zunächst ein Landrath, welcher indessen auf seinem, etwa eine halbe Meile entfernten Gute wohnt. Unter diesem betheiligt sich an der Regierung der Dorfschulze, zugleich Mühlenbesitzer und Landeigner. Zwischen den genannten beiden Größen und der Stadt und andern zum Kreise gehörenden Kirchspielen vermittelt wieder ein reitender Gensdarm. Mit Rücksicht auf die Nähe der Stadt und die Vergnügungssucht von deren Einwohnern, welche vielfach Veranlassung zu sehr geräuschvollen sonntäglichen Zusammenflüssen in den Schänken geben; ferner in Anbetracht, daß auch Gesindel zur nächtlichen Stunde gern kleine Ausflüge und Geschäftsreisen nach solchen glücklich gelegenen Punkten unternimmt, ist der Gensdarm oder Adjutant des Herrn Landrath angewiesen worden, sein Quartier in dem erwähnten Dorfe aufzuschlagen und durch seine gefürchtete Gegenwart die allgemeine Sicherheit zu erhöhen.
Derselbe dichte Nebel, welcher den Riesenschnurrbart des unerschrockenen Hänge-Gensdarm mit den schönsten Perlen schmückte, verschleierte also das eben geschilderte Dorf. In den verödeten Straßen drängten sich die feuchten Dunstschichten sogar noch massiger zusammen, als draußen in den Forsten; denn trotz der verschämten Wirkung des abgesperrten Mondes hatte man seine liebe Noth, von dem einen Gehöft nach dem andern hinüberzusehen, nicht zu gedenken des winderfahrenen Kirchthurmhahns, welcher sich in dieser gesegneten zweifelhaften Mondscheinnacht in ungeahnten Höhen zu ergehen schien.
In den Schänkstuben hatte man bereits Feierabend gemacht, ein untrügliches Zeichen, daß die Mitternachtsstunde der Vergangenheit angehörte. Um so mehr mußte es daher befremden, daß gerade in einem der kleinsten und abgelegensten einstöckigen Häuser noch zwei Fenster stattlich erleuchtet waren.
Dieses Häuschen, durch einen schmalen Vorgarten und eine Gaisblattlaube von der Straße getrennt, hatte überhaupt nur vier Fenster nach vorne heraus: Zwei rechts und zwei links von der Hausthür, deren größere Scheiben die Vermuthung nahe legten, daß man hier etwas Höheres vor sich habe, als erbärmliche Tagelöhnerwohnungen.
Hinter dem Häuschen erhob sich ein kleines, aber festes Stallgebäude; an dieses schloß sich ein mäßig großer Gemüsegarten an, in welchem mehrere Obstbäume stolz über verschiedene Gruppen bescheidener Johannisbeersträucher emporragten. Im Vorgarten stand ein Doppelposten langweiliger Sonnenblumen Schildwache, während einige hoch emporgeschossene Georginenstauden mit melancholisch gesenkten Blüthenköpfen sorgsam darauf achteten, daß die Buchsbaumeinfassung zweier ringförmiger Beete im Wachsthum nicht über ihre Kräfte ging, sondern gute Nachbarschaft mit den auf der Erde umherkriechenden, lieblich duftenden Reseda's hielt.
Oberhalb der Hausthüre auf einem breiten schwarzen Schilde stand in weißer Fracturschrift:
»Frau Winkler, Plätterin für feine Wäsche.«
Zum Frommen derjenigen, welche des Lesens unkundig, hatte der entsprechende Künstler unterhalb der Schrift ein Mannshemde mit ausgebreiteten Aermeln recht verständlich hingemalt. Um aber die Feinheit zu versinnbilden, war auf dessen einer Seite ein in Ringform zusammengeknöpfter Kragen, auf der andern dagegen als Symbol der Stärke, ein tadelloses Plätteisen mit hervorlugendem rothen Bolzen von demselben Material hergestellt worden.
Doch Nacht und Nebel verhüllten Schrift wie Material, sogar das Porzellanschildchen an dem einen Thürpfosten, auf welchem am Tage jeder vorübertrollende zehnjährige Dorfjunge mit heimlichem Grausen das verhängnißvolle ›Hänge, Gensdarm‹, herausbuchstabirte. Zum besseren Verständniß für den weniger aufgeklärten Nachwuchs diente außerdem ein auf der Spitze der Laube angebrachter Ulan von Eisenblech, der, je nachdem der Wind ihn unterstützte, in vollem Jagen bald diesen, bald jenen Vorübergehenden mit der eingelegten Lanze bedrohte. –
Da der gefürchtete Hänge-Gensdarm sich außerhalb befand, konnte das Licht nur in der Wohnung der Frau Winkler, seiner Wirthin, brennen. Und so verhielt es sich in der That. Trotz der späten Stunde saß die ehrenwerthe Plätterin noch hinter einem Berge frisch gewaschenen Linnens, abwechselnd fehlende Hemdenknöpfe ersetzend und schadhafte Stellen ausbessernd. Eine blecherne Schirmlampe spendete ihr ausreichende Helligkeit zu der oft etwas verzweifelten Arbeit und beleuchtete zugleich ein breites, etwa fünfundvierzigjähriges Gesicht mit graugrünen Augen und angehendem Doppelkinn. Nase und Mund, Beides groß genug, um mehr als seinen gewöhnlichen Zweck zu erfüllen, würde der Hänge-Gensdarm bei einer etwanigen Aufnahme des Signalements dennoch als ›gewöhnlich‹ beschrieben, als besondere Kennzeichen dagegen unstreitig angeführt haben: ›Einen erschreckend resoluten Ausdruck in den Zügen.‹
Eine Haube von tadelloser Weiße schmiegte sich an ihr Haupt und einen gewaltigen hörnernen Kamm an, mittelst dessen eine Art Schneckenhaus röthlich-blonden Haars auf dem Hinterkopf zusammengehalten wurde.
Der blendenden Haube entsprach die aus derben Stoffen angefertigte übrige Bekleidung, dem angehenden Doppelkinn dagegen die kurze gedrungene, zur Wohlbeleibtheit hinneigende ganze Gestalt. Es herrschte überhaupt in dem geräumigen Zimmer eine Ordnung, daß man nur ein einziges Mal, gleichviel zu welcher Tagesstunde, einen Blick hineingeworfen zu haben brauchte, um im Leben von keiner andern, als der Hand der Frau Winkler die Chemisets fälteln zu lassen.
Einfach, wie Möbel und gelb getünchte Wände sein mochten: Alles blitzte und leuchtete. Und dann erst das neben dem Ofen rastende Plättbrett und die auf einer Bank in Reihe und Glied aufmarschirten Bügeleisen, Bolzen und Brennscheeren!
Aber auch Kunstsinn besaß Frau Winkler; denn die Bilderbogen an den Wänden waren so symmetrisch geordnet und mittelst guter Stärke festgeklebt worden, daß der schwierigste Architect nichts zu tadeln daran gefunden hätte. Dazwischen hingen verschiedene, vom Glaser kunstvoll eingerahmte Lithographieen; namentlich fesselte die Aufmerksamkeit das colorirte Jahrmarktsportrait eines Mädchens, welches sich durch die Unterschrift ›Hannchen‹ und einen darüber gehangenen Kranz von welken Blumen auszeichnete. Sie hatte es einst von einem Hausirer gekauft, weil derselbe dessen sprechende Aehnlichkeit mit ihrer Nichte Hannnchen heilig beschwor. Sie selbst entdeckte allerdings keine Spur von Aehnlichkeit; weil aber der Name unter dem Bilde stand, fühlte sie sich verpflichtet, demselben so viel Ehre zu erweisen, als ob ihr Hannchen dem berühmtesten Künstler zu dem Portrait gesessen hätte.
Da sie früh Wittwe geworden und selbst keine Kinder besaß, hatte sie jene verwaiste Nichte an Kindesstatt angenommen. Das war aber schon sehr, sehr lange her; denn Hannchen hatte sich, nachdem sie ihr über den Kopf gewachsen war, an einen Förster verheirathet und war mit diesem weit fortgezogen. Gern hätte das junge Ehepaar die getreue Pflegemutter mitgenommen, allein Frau Winkler lachte spöttisch zu allen darauf bezüglichen Vorschlägen. Sie behauptete, bis in ihr hohes Alter hinein sich leidlich ernähren zu können und deshalb nie einem andern Menschen zur Last fallen zu wollen. Außerdem hing sie mit zu großer Vorliebe an ihrem kleinen Grundbesitz, welcher ihr – wie sie ebenfalls resolut behauptete – weit sicherer sei, als das Geld dafür in einem feuerfesten eisernen Kasten. Und wie der Gemüsegarten, trugen Haus und Stall nicht minder einen kleinen Ueberschuß, indem der Gensdarm Hänge sammt seinem Pferde gegen eine mäßige Entschädigung sich bei ihr in Wohnung und Kost befand; regelmäßiger aber konnte dieser selber sein Tractament nicht erhalten, als er, ein Muster peinlicher Gewissenhaftigkeit, sein Kostgeld im Voraus entrichtete. –
Der Hammer der alten schwarzwälder Uhr hatte ausgehoben, um halb Zwei zu schlagen, als Frau Winkler den Hufschlag eines auf der Straße, sich nähernden Pferdes unterschied.
»Das nennt er Pünktlichkeit, dieser Hänge-Gensdarm,« entwand es sich halblaut und verdrossen den spöttisch verzogenen Lippen, ›ein kleiner Dienstausflug, meine liebe Frau Winkler‹, hieß es ausnehmend höflich, und beinah sechs Stunden sind mit dem kleinen Dienstausfluge d'raufgegangen.«
Sie lauschte wieder. Das Pferd war in die kleine, von Hecken eingefaßte Sackgasse eingebogen, welche nach dem Hofraum führte. Es konnte also kein Anderer, als ihr Kostgänger sein. Sie erhob sich, schritt nach dem eisernen Plättofen hinüber, und nachdem sie einige Holzkohlen und Torfstücken auf die auseinander geschürte, noch glimmende Asche gelegt, begann sie sehr eifrig den Blasebalg zu rühren. Bald darauf züngelten die Flammen empor; Frau Winkler schloß die Ofenthür, und was der Blasebalg eingeleitet hatte, führte der natürliche Luftzug weiter. Zwei verdeckte Schüsseln wurden noch auf das sich schnell erwärmende Blech gestellt, dann begab sie sich auf ihren Platz zurück, Nadel und Faden handhabend, als sei ein großes Versäumniß einzuholen gewesen.
Wohl fünf Minuten verrannen, bevor die Hinterthür des Häuschens geöffnet wurde und behutsame Schritte sich auf dem dunkeln Hausflur näherten.
»Der Mann des Gesetzes schleicht selber wie ein Dieb,« sprach sie spöttisch vor sich hin, indem sie einen neuen Faden durch die Nähnadel zog. »Möchte heimlich vorbeischlüpfen mit seinem bösen Gewissen, um mich zu täuschen. Wäre ich schlafen gegangen, behauptete er morgen unfehlbar, schon um halb elf Uhr hungrig in seinem Bett gelegen zu haben.«
Erstaunt sah sie empor. Der Hänge-Gensdarm, anstatt, wie gewöhnlich, zuvor in seiner eigenen Wohnung abzulegen, suchte tastend das Schloß ihrer Thüre.
Gleich darauf stand er in vollem Waffenschmuck vor ihr, die linke Hälfte des Mantels weit aufgebauscht und mit dem Unterarm stützend, mit der rechten Hand die Nebeltropfen aus dem Riesenbart streichend. Auf seinem Gesicht ruhte, trotz der blutdürstig gerunzelten Brauen, eine wunderliche Verzweiflung. Kaum aber machte er Miene, zu sprechen, als Frau Winkler sich erhob, die Fäuste ›resolut‹ auf ihre breiten Hüften stemmte und schnell das Wort nahm.
»Geben Sie sich keine vergebliche Mühe, Herr Gensdarm,« hob sie mit düsterer Ruhe an, »wir wissen Alles. Dienst und immer Dienst, heißt es, und im Dienst ist man hier und dort angekehrt – beim Plaudern vergeht die Zeit ja so angenehm – aber daran, daß eine arme Wittwe seit fünf bis sechs Stunden wartet und mindestens einen halben Scheffel Kohlen verbrennt, um einem gewissen Manne des Gesetzes das Essen warm zu halten, daran denkt keine Seele! Wahrlich, ich bin recht unglücklich mit Ihnen dran!«
»Für die Kohlen – liebe Frau Winkler, entschädige ich Sie herzlich gern,« wagte Hänge schüchtern zu bemerken.
»Was?« fuhr die Plätterin heftig empor, »für eine Schwindlerin halten Sie mich? Oh, hätten Sie mich für Alles entschädigen sollen, so besäßen Sie längst keinen eigenen Faden mehr auf Ihrem Gensdarmenkörper –«
»Aber so lassen Sie mich wenigstens zu Worte kommen, liebe Frau Winkler,« nahm Hänge einen neuen Anlauf.
»Wer verbietet Ihnen denn zu sprechen?« fiel die Plätterin wieder ein, »sprechen Sie doch, so viel Ihnen beliebt. Aber ich will's Ihnen erleichtern, Ihnen Alles selber sagen: Anstatt mir genau die Stunde zu vermelden, bis zu welcher ihr Dienst – gewiß ein merkwürdiger Dienst –«
»Frau Winkler, vergesse Sie nicht, vor wem Sie steht,« raffte Hänge nunmehr seinen ganzen Muth zusammen, denn er fühlte unter seinem Mantel ein eigenthümliches Regen und Rühren.
»Und wer ist Er?« gab die zornige Frau die wenig ceremonielle Anrede zurück, »ist Er etwa mehr, als jeder andere Mensch?«
»Versündige Sie sich nicht an der Uniform und den Tressen Seiner Majestät meines Königs!«
»Nicht meine Schürzenbänder gebe ich für Ihre Tressen hin!« schürte die Plätterin das Feuer weiter; »doch ich hab's jetzt satt mit Ihnen! Am nächsten Ersten trennen wir uns, denn Ihre rachsüchtige Natur, die ertrage, wer Lust dazu hat! Und Sie wollen ein Gensdarm, ein Mann des Gesetzes sein? – ein – ein –«
»Mutter, Mutter!« rief eine bange Kinderstimme klagend unter des Hänge-Gensdarm Mantel hervor.
Die Plätterin stand wie vom Donner gerührt.
Hänge legte beide Arme um den verborgenen Knaben, wie um ihn zu beruhigen. Dann flüsterte er von sichtbarer Angst ergriffen:
»Da haben Sie's; ich trage keine Schuld, daß es erwachte;« und den Mantel auseinander schlagend, holte er mit rührender Sorgfalt den Knaben hervor, worauf er mit ungeschickten Griffen die Decke von ihm abzuwickeln begann.
Das Kind, welches leise schluchzte, beruhigte sich wieder, jedoch weniger, weil der bärtige Hänge-Gensdarm und die vor Erstaunen sprachlose Plätterin ihm etwa Vertrauen einflößten, sondern weil das Licht es blendete und die durch die fremde Umgebung und den lauten Wortwechsel erzeugte Angst es gleichsam lähmte.
»Ja, liebe Frau Winkler, da bin ich zu dem Kinde gekommen, und weiß nicht wie,« hob der frühere Ulanenwachtmeister endlich wieder an, das stumme Erstaunen seiner gestrengen Wirthin als eine Regung milderer Gefühle deutend, »es schlief fest, und Schritt für Schritt ließ ich den Gefreiten gehen, um's nicht zu wecken, sonst wäre ich schon vor Stunden hier gewesen. Aber wenn Sie mir gütigst etwas helfen wollten –«
Ein spöttisches Lachen unterbrach ihn und erschreckte das Kind in so hohem Grade, daß es sich bebend an die breite Gensdarmenbrust anschmiegte und sein Gesichtchen in die Falten des feuchten Mantels vergrub.
»Ich? Helfen?« fragte Frau Winkler und sittliche Entrüstung färbte ihr volles Antlitz, als hätte sie eben versucht gehabt, mit einem glühenden Plätteisen die entstehenden Falten in demselben auszubügeln; »Ihnen helfen? Da müßte es weit mit mir gekommen sein! Nein, Herr Gensdarm, Sie mögen wohl Ihre guten Gründe haben, väterliche Gefühle für das Kind zu hegen, verlangen Sie indessen nicht, daß ich mit Ihnen mich darin theile! Ich bin eine Frau, sogar eine Wittwe von Ehre und Reputation, und nicht das kleinste Spinngewebe haftet an meinem Ruf!«
»Sie meinen –« begann der unglückselige Hänge-Gensdarm, der seit seinem Eintritt sich noch nicht von der Stelle zu rühren gewagt hatte.
»Ich meine,« fiel die zürnende Frau mit einem unnachahmlichen Ausdruck tiefer Verachtung ein, »ich meine, daß es mir jetzt kein Räthsel mehr, warum den Herrn Gensdarm, so lange ich ihn kenne, der Dienst alle Augenblick über Land führt. Schöner Dienst! Ein Militär soll pünktlich sein; so viel verstehe ich sogar von der Armee. Allein der Herr Gensdarm waren noch nie pünktlicher – wenigstens nicht seiner gequälten Wirthin gegenüber – als der Sonnenschein im Aprilmonat. O, ich durchschaue Alles! Dienst und nichts als Dienst, und jetzt, da dem Herrn Gensdarm der Dienst über den Kopf gewachsen, bringt er mir die Frucht seines Dienstes und möchte selbst den Barmherzigen heucheln. Still! Reden Sie nicht, denn ich habe, Gott sei Dank, meine gesunden Augen im Kopfe. Ein Mann, welcher Kinder nie anders, als zähneknirschend ansah, drückt nicht zum Vergnügen solch kleinen Wurm an sein väterliches Herz.«
»Verlieren wir keine Worte mehr darüber,« versetzte nunmehr der zum Aeußersten getriebene Gensdarm in dem Tone, mit welchem er gelegentlich Uebertreter des Gesetzes anzureden pflegte, »bei Ihnen helfen weder gute Worte noch Erklärungen. Prrohl-Dannehr! Mögen Sie von mir denken, was Ihnen beliebt, ich habe das letzte Stück Brod unter Ihrem Dach gegessen. Wer solchen Verdacht gegen mich hegt, dem entziehe ich meine Freundschaft. Morgen ziehe ich aus, werde aber die Miethe bis zum Ersten bezahlen –«
»Sie müssen Kapitalien und Hypotheken besitzen, wenn Sie auf solche Art das Geld aus dem Fenster werfen,« fiel die Plätterin geringschätzig ein; »haben Sie aber so viel Geld übrig, so geben Sie's lieber der Mutter des Kindes und nicht mir; denn ich bin eine ehrliche Frau und Wittwe, und bis jetzt hat noch nie ein Mensch mir vorgeworfen, daß ich darauf ausginge, Jemand zu übervortheilen. Ja, Herr Gensdarm, ziehen Sie – schon zu lange wohnten Sie unter meinem Dach – meinetwegen noch in dieser Nacht – gleich auf der Stelle – meine Hausehre geht mir über Alles, und anderer Leute Kinder –«
»Ja, anderer Leute Kind,« versetzte der Gensdarm mit einer Würde, welche nicht ohne Wirkung auf die entrüstete Frau blieb; denn ihre Fäuste sanken von den Hüften nieder, und statt mit Zorn, richteten ihre Blicke sich neugierig auf den Knaben, der laut schluchzte und zitternd vor Entsetzen das feuchte Manteltuch über sich hinzuziehen suchte. »Ja, anderer Leute Kind,« wiederholte er freier, »aber geben Sie mir gefälligst Licht, Frau Winkler, ich will ohne Säumen meine Sachen packen und mit Tagesanbruch gehe ich. 's giebt ja Wirthshäuser im Dorf.«
Grollend erfüllte die Plätterin seine Bitte. Indem sie ihm aber das brennende Licht darreichte, begann sie von neuem mürrisch: »So gehen Sie und packen Sie schnell, damit's nicht zu spät wird, und weß Geistes Kind der Junge sein mag, geben Sie ihn her, damit er Sie bei der Arbeit nicht hindert; ich werde so lange auf ihn achten.«
Diesen Worten folgte die That. Mit festem Griff und trotz seines Zitterns, Sträubens und ängstlichen Hinneigens zu seinem bisherigen Beschützer nahm sie das Kind auf ihren Arm, worauf sie, um es zu beruhigen, dessen braune Locken schmeichelnd durcheinander rieb.
»So,« fuhr sie zu ihrem Miether gewendet fort, »nun beeilen Sie sich, und wenn Sie abgelegt und den Gefreiten besorgt haben, kommen Sie zum Essen – da steht's auf dem Ofen – und um den Leuten keinen Grund zum Reden zu geben, mögen Sie bis zum Ersten wohnen bleiben, aber keine Stunde länger, denn meine Reputation geht mir über Alles.«
»Keine Minute länger,« bestätigte der grimmige Hänge-Gensdarm, indem er auf den schmalen Flur hinaus trat; und wäre zufällig gerade der Erste gewesen, so hätte die zwölfjährige Hausgenossenschaft zuverlässig ihr Ende erreicht. Doch bis zum Ersten dauerte es noch mindestens vierzehn Tage, und es gewann ganz den Anschein, als ob es auch dieses Mal so kommen würde, wie vielleicht schon hundert Mal, wenn man sich gegenseitig die Freundschaft kündigte und den Ersten stillschweigend über die verharschte Wunde hinziehen ließ.
Die Thür hatte sich kaum hinter dem Scheidenden geschlossen, da begann der Knabe zu weinen, als ob sein kleines Herzchen nunmehr gänzlich gebrochen wäre.
»Du armes, armes Kind,« tröstete Frau Winkler, des Kleinen Haupt auf ihre Schulter legend und ihn fest an sich drückend, »weine nicht so sehr, denn hier thut Dir Niemand etwas zu Leide; nein, weine nicht; sage mir lieber, wo Deine Mutter ist.«
»Sie schläft,« stammelte das Kind beruhigter, indem es, wie im Gefühl seiner Verlassenheit, die Arme um der Plätterin Nacken schlang.
»Und Dein Vater?« fuhr Frau Winkler im sanftesten Tone fort.
»Der Vater weint und will sie nicht wecken,« hieß es schluchzend und kaum verständlich zurück.
Die graugrünen Augen des breiten Gesichts starrten einige Secunden in's Leere. Plötzlich umflorten sie sich, und als habe man einen verborgenen Krahnen geöffnet, entstürzten ihnen mehrere so gewaltige Wassertropfen, daß mindestens ein Paar Manschetten damit bequem hätte eingesprengt werden können.
»Jetzt begreife ich, wie die Angelegenheit steht,« sprach Frau Winkler endlich, und der Rücken ihrer rothen Hand fuhr kräftig über die nicht minder rothen Wangen; »die Mutter schläft und der Vater ist betrübt, und da haben sie ihr Kind mir geschickt, damit ich ihm warme Milch gebe und es in ein weiches Bett lege. Gut, gut, kleiner Schelm, das wird Alles geschehen, auf daß Deine Eltern, wenn sie kommen, Dich recht frisch und munter finden.«
»Wo ist Mutter?« stammelte der Kleine schluchzend.
»Die wird kommen, sage ich Dir, und sich freuen,« antwortete die Plätterin, einen Stuhl vor den Ofen schiebend und das Kind auf denselben setzend. »Nun aber verhalte Dich hübsch ruhig und wärme Deine Füße – mein Hannchen hatte vor zwanzig Jahren eben solche niedliche Füßchen – ich wärme unterdessen Deine Milch, und nachher rufe ich den guten Mann mit dem schönen großen Bart und dann eßt Ihr zusammen an dem prächtigen Tisch dort. Aber trösten mußt Du Dich; sobald Alles bereit ist, nehme ich Dich wieder auf den Schooß,« und eilfertig zwischen Vorrathsspinde, Tisch und Ofen hin und her schlüpfend, schien sie die beste Lust zu hegen, Alles auf einmal zu ordnen.
Sie hatte ein Näpfchen Milch auf die Ofenplatte gestellt und war im Begriff, den Tisch für den Hänge-Gensdarm zu decken, als dieser selber erschien und seine Frau Wirthin mit steifer Zurückhaltung bat, ihm die verknoteten Chemisetbänder zu öffnen.
Frau Winkler war alsbald bereit.
»Wer wohl später Ihnen alle diese kleinen Dienste leistet,« sprach sie bedauernd, indem sie hinter den sich Bückenden trat und die auf seinem Nacken eng verschlungenen Bänder mühsam entwirrte.
»Es wird's doch Jemand lernen müssen,« versetzte Hänge melancholisch.
»Hm. Dergleichen lernt sich nicht leicht. Ich bemitleide ernstlich Ihre schöne Wäsche. Heute noch musterhaft, wird sie nach drei Monaten nicht wieder zu kennen sein.«
»Ich könnte sie Ihnen regelmäßig zuschicken?«
»Nun – ja; Sie kümmern mich freilich nichts mehr, allein aus Menschlichkeit und Christenpflicht soll's mir auch darauf nicht ankommen. Kleidet doch der Herr die unschuldigen Lilien auf dem Felde.«
Der Knoten war gelöst; der Gensdarm warf einen freundlichen Blick auf das ihn erstaunt betrachtende Kind und wollte sich mit einem aufmunternden Nicken entfernen, als Frau Winkler ihn zurückrief. Sie trat ihm mit einer viereckigen Flasche und einem Spitzgläschen entgegen, und Letzteres bis an den Rand füllend reichte sie es ihm dar.
»'ne recht feuchte kalte Nacht,« meinte sie sehr ceremoniell.
»Zu kalt für 'nen Wurm, wie der da, im Freien,« bestätigte Hänge ebenso geschäftsmäßig. »Ihre geehrte Gesundheit,« fügte er mit einer leichten militärischen Verbeugung hinzu.
Das Gläschen verschwand auf eine Secunde zwischen den beiden Schnurrbarthälften, und leer gab er es an die Plätterin zurück.
»Säumen Sie nicht zu lange!« rief diese dem Scheidenden nach; dann beendigte sie das Decken des Tisches, wobei sie fortgesetzt tröstliche Worte an ihren kleinen Schützling richtete, bis sie diesen endlich wieder auf ihren Schooß nahm, und vor allen Dingen Schuh und Strümpfe von seinen Füßen entfernte.
»Alles kalt und feucht,« sprach sie dabei, und die graugrünen Augen drohten wieder mit einem Regenschauer, »wenn das Deine schlafende Mutter wüßte, oder Dein weinender Vater erführe es! Doch das soll nicht lange dauern,« und in jede Hand eins der kleinen Füßchen nehmend und in angemessener Entfernung von der Ofenthüre haltend, begann sie dieselben sanft zu reiben.
Wo treue Elternliebe Kindern im zartesten Aller durch ein grausames Geschick entzogen wurde, da tritt ein holder Schutzengel für die Hülflosen ein, ihre Blicke, ihre Bewegungen lenkend, gleichsam Liebe und Theilnahme – wenn auch oft genug unverstanden – erflehend für die verlassenen Waisen.
So auch hier. Der behagliche Sitz auf dem Schooße der alten Plätterin; deren treuherzige Worte und der Ton, in welchem sie gesprochen wurden; die Nähe des warmen Ofens und das dumpfe Poltern der hinter der geöffneten winzigen Zugthüre sichtbaren Flamme, dieses Alles wirkte beruhigend, gewissermaßen einschläfernd auf den kleinen Fremdling. Zutraulich schmiegte er sich an seine kundige Beschützerin. Die großen blauen Augen richtete er bald auf das Thürchen, welches ihm murmelnd lange, lange Geschichten zu erzählen schien, bald auf das Näpfchen und die beiden dampfenden Schüsseln, bald seitwärts auf die Wand, wo der Schatten der mit einem mächtigen Höcker versehenen Haube der Frau Winkler an die wunderbaren Thiere in Bilderbüchern erinnerte. Seine Thränen waren versiegt; aber krampfhaft und tief heraus aus der kleinen Brust, wie aus einem unergründlichen See des Kummers, schluchzte er noch zuweilen, daß es in Frau Winklers Seele ein Gefühl erweckte, als ob ein spitzer glühender Bolzen ihr mitten durch das rechtschaffene Herz gestoßen worden wäre.
»Gerade so hat auch Hännchen auf meinen Knieen gesessen,« erzählte sie fast im Tone der polternden Flammen, »aber das ist schon weit über zwanzig Jahre her. Ihre Mutter war ebenfalls schlafen gegangen, wie ihr Vater, und sie hatte eben solche kleine hübschen Füße, wie Du – ei, wie sie warm werden – 's ist ja eine wahre Freude. Kannst Du mir wohl sagen, wie Du heißt?«
Das Kind blickte in das breite, rothe Gesicht und schien ernst nachzusinnen.
»Indigo,« antwortete es nach einem Weilchen schüchtern.
»Ein schöner Name, aber etwas wunderlich. Gewiß heißt Dein Vater so?«
»Nein, er heißt Vater,« stammelte das Kind.
»So hast Du vielleicht einen zweiten Namen?«
»Ja: Bald.«
»Bald? Bald? Noch wunderlicher. Also: Bald Indigo? Oder gar: Indigoblau?«
»Nein, Indigobald.«
»Nun, das kannst Du nicht so genau wissen; aber ich will Dir die Sache erklären; passe nur hübsch auf. Ich selbst heiße eigentlich Lisette Winkler; man nennt mich indessen allgemein Winkelliese und ich bin nicht böse darüber, weil 'ne Art Liebe drinnen liegt. So hieß mein Hannchen nie anders, als Winkelhanne – sonst kein schlechter Name. Auf die nämliche Weise bist Du der Indigobald geworden, während Du unstreitig als Bald Indigo in's Kirchenbuch eingeschrieben wurdest. Da aber Bald kein christlicher Name und wirklich gar nichts ist, so liegt auf der Hand, daß Du Baldrian getauft bist und das ›jan‹, der Zeitersparniß wegen, einfach fortgelassen wurde. Baldrian ist aber ein vorzügliches, heilsames Kraut und deshalb auch als Name nicht zu verachten. Nun besinne Dich recht genau, ob Du nicht Baldrian Indigo heißt.«
Der Knabe, förmlich verwirrt durch so viele ihm unverständliche Weisheitssprüche, sah erstaunt in das ihm zugeneigte Antlitz, welches vor lauter Wohlwollen wie ein mit Hefen versetzter Teig auseinander zu gehen schien, dann antwortete er, wie sein Schutzengel ihm aus Gefälligkeit für die alte Plätterin in's Ohr raunte:
»Ich heiße Baldrian Indigo.«
»Siehst Du, mein lieber, lieber Baldrian,« lachte die Winkelliese triumphirend, daß ihre Schürzenbänder krachten und aus jedem Augenwinkel ein Thränlein in den entsprechenden Mundwinkel hinabrollte, »ich wußte es auf der Stelle, und es gehört wahrhaftig keine große Gelehrsamkeit dazu, das zu errathen. Nun, wir werden ja sehen, ob ich recht habe. Der Mann mit dem großen Bart, welcher Dich brachte, ist furchtbar gescheidt, und der muß das am Besten wissen. Hänge heißt er, gerade kein schöner Name, dafür ist er selber um so angesehener. Er muß freilich etwas kurz gehalten werden, sonst geht er durch, wie sein Gefreiter in der Bremsenzeit, und in häuslichen Dingen ist er so unbeholfen, wie ein Waisenknabe. Doch das verstehst Du nicht, Kind – jedenfalls wirst Du ihn liebgewinnen, wenn Du noch einige Tage bei uns bleibst.«
So plauderte die gute Seele in Einem fort, und dazu rieb sie die kleinen Füße und drückte sie einen Kuß nach dem andern auf den frischen rothen Mund, bis endlich die Thür sich öffnete und der Hänge-Gensdarm mit der ruhigen Würde eines gewissenhaften Mannes des Gesetzes bei ihr eintrat. Ein abgetragener Militärmantel ersetzte ihm den Schlafrock, dunkelgrüne Plüschschuhe vertraten die Stelle der Sporenstiefel; zwischen den beiden Schnurrbarthälften hing eine lange, noch nicht brennende Pfeife, eine Feldmütze neigte sich freundschaftlich nach dem linken Ohr hinüber.
»Baldrian Indigo?« rief die Winkelliese alsbald ihrem Miether fragend entgegen, indem sie mit der Fingerspitze auf des Knaben Brust zielte, als hätte sie es von dem Blech-Ulanen auf der Gaisblattlaube gelernt gehabt.
Hänge zuckte erhaben die Achseln.
»Muß zuvor protokollarisch untersucht werden,« meldete er dienstlich, »allein, wenn Sie meinen, liebe Frau Winkler, und 's wird wohl seine Richtigkeit haben, denn Sie sind eine sehr umsichtige Frau.«
»Siehst Du? Hab' ich's nicht gleich gesagt?« rief die Winkelliese triumphirend aus, und während der Haubenthurm sich lavinenartig über den Knaben hinneigte, drückten sich ihre Lippen zum Ersticken fest auf den kleinen rothen Mund. »Du bist und bleibst der Baldrian, und ich wünsche jetzt nur, daß der Herr Vater Indigo nicht früher kommt, als bis wir recht bekannt mit einander geworden sind.«
Dann erhob sie sich. Der Hänge-Gensdarm mußte ihren Platz einnehmen, worauf sie ihm den Knaben auf's Knie setzte, ihn streng unterweisend, wie er das Kind zu halten habe, um dessen Füße nicht an der glühenden Ofenthür zu verbrennen.
Die letzten Vorbereitungen zu der späten Mahlzeit waren schnell beendigt. Einige Minuten, und die Winkelliese saß, den Knaben auf dem Schooße, am Tische ihrem alten Miether gegenüber, bald diesen einladend, dem erschöpften Körper sein Recht angedeihen zu lassen, bald dem Knaben neue Milch vorsetzend.
Auf einen nicht mißzuverstehenden Wink des Gensdarmen blieben die näheren Umstände seines nächtlichen Rittes bei Tische unberührt. Als der Knabe aber an der Ofenwand auf drei Stühlen und sanft gebettet zwischen weichen Kissen lag und gleich darauf seine Augen sich vor Uebermüdung schlossen, da setzten die beiden Hausgenossen sich zu ihm, um ernstlich zu erwägen und zu berathen, welches fernere Verfahren am Besten zu beobachten sei.
Die allmählich kohlende Lampe warf ein ruhiges, melancholisches Licht auf die seltsame Gruppe. Die lange Pfeife des Hänge-Gensdarm dampfte mäßig. Um so energischer nickte dafür gelegentlich der Haubenthurm und mit ihm nickte auf der Wand der Schatten eines gräßlichen Känguruhs. Gedämpft tönten die tiefen Stimmen durch das stille Gemach, gedämpft und doch so innig, daß der getreue Eckart und sogar eine Anzahl höchst seltener Menageriethiere auf den Bilderbogen an den Wänden andächtig zu lauschen schienen. Selbst ein zottiger Kosak, eben im Begriff, zwei französische Chasseurs auf einmal mit seiner Lanze zu durchbohren, wartete augenscheinlich mit großer Geduld auf das Schlußergebniß der Unterhaltung, um dann erst ein Ende mit seinen unglückseligen Opfern zu machen.
Sprach man doch von dem traurigen Loose elternloser Kinder, und von Waisenhäusern, welche Manches zu wünschen übrig ließen. Mit Entrüstung gedachte man der gewissenlosen Privatleute, welche vielfach ein Gewerbe daraus machen, junge Waisen in Pflege zu nehmen, um sich an der für sie ausgeworfenen sehr kärglichen Pension zu bereichern. Der alte Hänge kannte wenigstens nur eine einzige Frau in der Welt, bei welcher sein Schützling gut untergebracht wäre; er erklärte sich sogar bereit, in einem solchen Falle von seinem eigenen Tractament eine Kleinigkeit zu der von dem Herrn Landrath zu erwirkenden Pension zuzulegen. Die Winkelliese schien diese seltene Frau, ohne daß ihr Name genannt wurde, ebenfalls zu kennen; denn sie meinte, daß eigentlich gar nicht so sehr viel dazu gehöre, solch ein Kind anständig durchzubringen. Auch freute sie sich auf die Zeit, in welcher ihr Pflegekind an kalten Wintertagen vor dem Ofen sitze und ihr über den Stand der sich röthenden Bolzen berichte.
Die sich röthenden Bolzen erinnerten den Hänge-Gensdarm an den Braunen und dessen gesunden Appetit, woran er die Bemerkung schloß, daß ein Kind nie früh genug auf's Pferd gesetzt werden könne, wenn es ein guter Reiter werden solle.
Dazu nickte Frau Winkler wieder mit Kennermiene und so entschieden, daß das Känguruh auf der Wand sich den Kopf an der Decke stieß, und dann betrachteten Beide aufmerksam den Fuß, welcher sich unter dem Deckpfühl hervorgeschoben hatte. Er war so fein und zierlich, daß der unkundige Gensdarm bedenklich den Kopf schüttelte und bezweifelte, ob er wohl stark genug werden würde, einen ausgewachsenen Mann zu tragen, worüber die erfahrene Frau Winkler ihn natürlich mit zwei Worten beruhigte. Es handelte sich eben nur darum, daß sie den kleinen Fremdling in ihrem Schutz behielten – nach ihrer übereinstimmenden Meinung waren sie ja die Nächsten zu ihm – und das Weitere fand sich dann von selbst.
So rechneten die beiden alten zänkischen Hausgenossen munter in die Zukunft hinein, ohne ein einziges Mal des verhängnißvollen Ersten zu gedenken, welchen sie als den äußersten Termin ihres Zusammenlebens festgestellt hatten.
Der Hahn mahnte sie schließlich, daß es Zeit sei, der eigenen Ruhe nicht zu vergessen, obwohl Beide behaupteten, nicht die Probe müde zu sein.
Einen langen, bewundernden Blick schenkte man dem zwischen dunkeln Locken fast verschwindenden Antlitz des schlummernden Knaben. Eine zufällige Andeutung führte vor das geistige Auge Beider das Bild einer in Bangigkeit um ihr Kind gestorbenen Mutter; dann trennte man sich – was sonst nie geschah – mit einem kräftigen Händedruck.
Bald darauf verdunkelten sich alle nur matt erleuchteten Fenster des Häuschens, und viermal stieß der Dorfwächter in sein Horn. Der Nebel war so dicht, daß man Mauersteine aus ihm hätte schmieden können.