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VIERTES CAPITEL. FREI!

Fünf lange, mir endlos erscheinende Tage waren verstrichen, und noch immer befand ich mich als Gast bei dem alten Fröhlich; fünf lange Tage, und noch immer schwebte ich zwischen Furcht und Hoffnung, noch immer fehlten mir die Mittel und die Gelegenheit, einer Lage zu entrinnen, welche mit jeder neuen Stunde mir peinlicher und drückender wurde. Hin und wieder erfreute ich mich wohl eines flüchtigen Grußes von der armen Sophie, wenn sie mir neue Lebensmittel zusteckte, wie auch Fröhlich nicht unterließ, sogar durch mathematische Lehrsätze zu beweisen, daß ich bei ihm am sichersten aufgehoben sei und vorläufig noch alle Gensdarmen und Polizisten der Welt die Umgebung der Stadt racheschnaubend nach mir durchstreiften, allein dies Alles war weit entfernt davon, mich zu beruhigen. So oft im Hause eine Thür zufiel, fuhr ich erschrocken zusammen; so oft ich die Schritte des mit uns in demselben Stockwerk schlafenden Splint oder des nach oben polternden Nickel vernahm, meinte ich, daß man komme, um mich auszukundschaften; so oft ich endlich des Antiquars durchdringendes Organ unterschied, fürchtete ich, daß er in der nächsten Minute an die Thür seines Miethers klopfen und herrisch Einlaß begehren würde. Um diesen unausgesetzten Beängstigungen zu entgehen, suchte ich mich zu beschäftigen. Fröhlich, entzückt über den Eindruck, welchen der Inhalt des auf der Bodenkammer eingeschlossenen Buches auf mich ausgeübt hatte, gab mir bereitwillig den zweiten Theil jenes Werkes; doch die Begeisterung, mit welcher ich die wunderbaren Naturschilderungen las, war und blieb eine getrübte. Indem meine Gedanken gern in jene Fernen schweiften, in welchen meine glückseligsten Jugendtage verrauschten, verglich ich mich oft mit einer Drossel, wie ich eine solche einst in dem Dohlenstrich des Försters Wallmuth beobachtete. Sie hatte sich mit dem Flügel in die mörderische Schlinge verwickelt, und als ich, vereint mit den beiden Zwillingen, um ihr Leben bat, da sprach der Förster, auf das ausgerenkte Glied weisend, ernst das Todesurtheil über das gequälte Thier aus.

»Ein Zugvogel mit gelähmten Schwingen kann nicht leben,« erklärte er, »es hieße seine Leiden verlängern. Bei den Thieren ist's anders, als bei den Menschen, die stets Jemand finden, der sich ihrer erbarmt.«

Ja, ich hatte Menschen gefunden, welche sich meiner erbarmten, den alten Fröhlich und das elendiglich zurückgesetzte verwachsene Mädchen; doch wie lange durfte ich bei ihnen weilen? Und wenn ich frei wurde – ich kannte mich selbst ja zu wenig – waren nicht auch meine Schwingen durch den langjährigen heillosen Druck gelähmt, daß ich beim besten Willen nicht mehr über das Dasein einer nur nach den Vorschriften Anderer arbeitenden Maschine mich zu erheben vermochte?

Neue Zweifel, neue Besorgnisse! Nur noch eine Hoffnung regte sich schüchtern und befangen: Es mußte ein Ziel vor mir erstehen, welches zu erreichen mit allen körperlichen und geistigen Kräften ich mich bestrebte; ein Ziel, welches keine Erschlaffung duldete, mir keine Muße gönnte, mich nutzlosen Grübeleien und Betrachtungen hinzugeben. –

Es war in den Nachmittagsstunden des sechsten Tages. Fröhlich hatte mir flüsternd eine Abhandlung vorgelesen, welche so außerordentlich gelehrt, daß ich nicht den zehnten Theil davon verstand, und emsig blätterte er wieder in Folianten und Duodezbänden. Ich selbst saß neben dem Fenster so tief, daß ich von den gegenüberliegenden Häusern aus nicht bemerkt werden konnte.

Auf meinen Knieen lag aufgeschlagen das Buch mit den seltsam bezaubernden Naturschilderungen.

»Im kalten Norden, in der öden Haide kann der einsame Mensch sich aneignen, was in den fernsten Erdstrichen erforscht wird; und so in seinem Innern eine Welt sich schaffen, welche das Werk seines Geistes, frei und unvergänglich wie dieser ist,« wiederholte ich in Gedanken die zuletzt gelesenen Worte. Die Blicke hatte ich zum Himmel erhoben, wo schwere, massige Gewitterwolken sich lavinenartig übereinander thürmten. Vergessen war meine gefährliche Lage; die Erinnerung an dieselbe wurde übertäubt durch ein ahnungsvolles Sehnen nach fernen, fremden Zonen, nach Klarheit des Geistes, nach jener, durch diesen geschaffenen, das Innere erfüllenden Welt.

Poltern auf der Treppe störte mich harsch aus meinen Träumen. Es rührte unverkennbar von Jemand her, welcher mit den unsicheren Stufen nicht vertraut war.

»Er wird zu Hause sein,« unterschied ich des Antiquars sehr höflich gehaltene Stimme, »nur in den Vormittagsstunden entfernt er sich hin und wieder, um Privatunterricht zu ertheilen, und in der Dämmerung, um zu speisen.«

Im nächsten Augenblick stand ich neben dem in seine Bücher vertieften Gelehrten.

»Man kommt zu Ihnen,« flüsterte ich, von Todesangst ergriffen.

Fröhlich erbleichte, in so hohem Grade war er um mich besorgt. Bevor er indessen eine Silbe über seine Lippen brachte, klopfte es.

»Herr Fröhlich,« ertönte wieder des Antiquars Stimme, »ich komme in Begleitung eines Herrn, welcher Sie um eine kurze Unterredung bittet.«

»Ich habe keine Zeit,« antwortete Fröhlich bestürzt, und indem er sich erhob, bemerkte ich, daß seine Kniee schlotterten.

»Nur wenige Minuten,« ersuchte der Antiquar dringender, während mein Beschützer auf das Bett wies, um mir den Raum unter demselben als Versteck zu empfehlen. Ich dagegen zuckte, wie ein dem Tode unabweislich Verfallener, geringschätzig die Achseln. Vor des Antiquars spähenden Blicken wäre ich oben auf dem Bette nicht unsicherer verborgen gewesen. Dann aber, als hätte ein guter Geist es mir gerathen, deutete ich mit einer matten Armbewegung auf die Bretterwand.

Auf dem ehrlichen Antlitz des greisen Gelehrten leuchtete es hell auf.

»Gut, gut,« rief er den draußen Harrenden zu, die in seinem allbekannten wunderlichen Verfahren nichts Verdächtiges sahen, »die Sommerschwüle wurde mir lästig; ich sitze hier in einem Aufzuge, wenig geeignet, Besuch zu empfangen. Gedulden Sie sich fünf Minuten, und ich stehe zu Diensten.«

Zufrieden mit solchem Bescheid, begannen die Einlaß Begehrenden auf dem düsteren Flurgange auf und ab zu wandeln. Es schwand dadurch die Gefahr, daß das Geräusch sie erreichte, mit welchem Fröhlich nach alter Weise Planken und Nägel aus ihren Fugen zwängte, und kaum zwei Minuten später – die Besorgniß machte uns ebenso gewandt, wie vorsichtig – da erhob ich mich in dem Magazinraume auf die Kniee, wogegen Fröhlich, anstatt die lose haftenden Nägel wieder einzuschlagen, diese ganz hervorzog und einige Bücher auf die mit verdächtigen Kalktheilchen bestreute Stelle schob. Damit war auch seine Fassung zurückgekehrt; ich errieth dies wenigstens aus der Bereitwilligkeit, mit welcher er die Thür öffnete und die beiden Herren einlud, näher zu treten.

Ich lag noch immer auf den Knieen. Das Entsetzen hatte mich gelähmt; kaum wagte ich zu athmen. Sobald ich aber die Stimme des Fremden hörte, ergriff mich eine Bestürzung, daß ich gezwungen war, mit den Händen mich auf den Fußboden zu stützen, um nicht gänzlich zusammenzubrechen.

O, diese Stimme! Lange Jahre waren verstrichen, seit ich sie vernahm, und dennoch hätte ich sie unter Tausenden herausgekannt!

»Recht gelehrt sieht es hier aus,« tönte es mit eigenthümlich kalter Ruhe zu mir herein, und ich meinte durch die Bretterwand hindurch den Einfluß des spöttischen Lächelns zu empfinden, durch welches der Candidat aus dem Gespensterschloß mir einst eine unüberwindliche Furcht einflößte.

»Ich beschäftige mich in der That ein wenig mit Wissenschaften,« versetzte Fröhlich überraschend verbindlich, »aber Sie treten mir da auf ein Buch, Herr Doctor – Alles mit unsäglicher Mühe und Sorgfalt geordnet. Jedes Papierschnitzelchen hat seine bestimmte Stelle – ein Buch um die Breite eines Fingers verschoben, führt endlose Verwirrungen herbei.«

»Herr Privatdocent Fröhlich, Herr Intendant Leise,« stellte Sachs vor, trotz des mir fremden Titels meine letzten Zweifel beseitigend, worauf der frühere Candidat sogleich das Wort ergriff.

»Sie waren bekannt mit dem jungen Manne, welcher bis vor acht Tagen in diesem Hause unter der gewissenhaften Obhut des Herrn Doctor Sachs lebte?« hob er an, und die Gewißheit, daß sein Besuch mir allein gelte, machte Alles um mich her im Kreise drehen, »ich beziehe mich auf den Indigo; Sie lebten sogar auf freundschaftlichem Fuße mit ihm?«

»Mit ihm nicht mehr, als mit jedem anderen Menschen,« bestätigte Fröhlich verdrossen, denn es wurde ihm schwer, zu einer Unwahrheit seine Zuflucht zu nehmen; »wir begrüßten uns nachbarlich, und das ist Alles. Ein grämlicher Geschichtsforscher dürfte überhaupt keine sehr gesuchte Gesellschaft für ein solch junges, frisches Blut sein.«

»Und dennoch, Herr Fröhlich, sind diese Begrüßungen nicht ohne Einfluß auf den jungen Mann geblieben. Der Knabe ist nämlich von Leuten, welche ein unbestreitbares Recht dazu haben, für den geistlichen Stand bestimmt worden.«

»Sehr begreiflich,« fiel Fröhlich mürrisch ein, »anderen Falls hätte man ihn zu seiner wissenschaftlichen Ausbildung schwerlich in ein Jesuitenconvict gebracht.«

»Für den geistlichen Stand bestimmt worden,« wiederholte der Candidat, wie des unwirschen Gelehrten Bemerkung überhörend. »Welche, ohne Zweifel sich bald verflüchtigende Laune den leichtsinnigen jungen Mann dazu bewegte, sich heimlich zu entfernen, übergehe ich an dieser Stelle. Er verursachte seinen Gönnern dadurch Schwierigkeiten, ohne zugleich eine Aenderung der über ihn getroffenen Verfügungen zu bewirken, und das wird er zu seiner Zeit einsehen. Wichtiger ist dagegen, den eigentlichen Herd des Uebels, oder vielmehr die Triebfeder zu seinen unüberlegten Handlungen zu entdecken, um demnächst mit um so sichrerer Hand die Zügel wieder zu ergreifen. Sie sind Protestant, wenn die Frage mir gestattet ist?«

»Protestantisch getauft und erzogen,« antwortete Fröhlich befremdet.

»Ich erlaube mir diese Frage mit Rücksicht auf die verworrenen religiösen Anschauungen des Knaben. Ich vermuthe nämlich, daß Sie in Ihren Gesprächen mit ihm die verschiedenen Glaubensrichtungen berührten oder ihm darauf bezügliche Schriften in die Hände gaben.«

»Sie fragen viel,« versetzte Fröhlich ungeduldig, »und ich könnte Alles mit dem bequemen Nein beantworten. Doch zuvor eine Gegenfrage: Ist der dem Knabenalter entwachsene junge Mann katholisch?«

»Seine natürlichen Beschützer haben ihn in der katholischen Religion erziehen lassen, es darf daher vorausgesetzt werden, daß sie dazu berechtigt waren,« wich der Candidat besonnen aus.

»Und in eine strenge Zucht brachten sie ihn,« bemerkte Fröhlich scharf, denn die Zusammenkunft dauerte ihm bereits zu lange.

»Trotzdem fand er leider Gelegenheit – natürlich mit Hülfe Anderer – sich Urtheile anzueignen, welche bei einem Jüngling ebenso widersinnige wie verderblich sind.«

»Bei jungen Leuten seines Alters bestimmen vorzugsweise auf sie einstürmende Ereignisse und Erfahrungen die Form ihrer Gottesverehrung,« warf Fröhlich mit leichtem Spott ein, »ein willenloses Unterwerfen und Fügen in die Anschauungen Anderer liegt wenigstens nicht in der Natur erwachenden männlichen Selbstvertrauens.«

»Es giebt nur eine vollendet schöne und gute Form,« versetzte der Candidat kalt, »und Gott in der Natur allein suchen zu wollen, hieße das Allerheiligste in den Staub ziehen. Bei einem unverständigen Knaben aber, dessen Lebenswandel streng überwacht wurde, streifen derartige ohnmächtige Versuche an Wahnwitz, oder – und das würde ihn einigermaßen entschuldigen – es wurden ihm heimlich Mittel zugesteckt, welche seine Begriffe verwirrten. Zu leicht haschen jugendlich schwankende Gemüther nach bequemen Lösungen von Fragen, über welche nachzudenken schon eine Entweihung des Höchsten.«

Fröhlich lachte herzlich.

»So hat die Natur bei dem jungen Manne mehr geleistet, als seine umsichtigen Lehrer, mithin diese gewissermaßen besiegt?« bemerkte er heiter.

»Nicht die Natur, sondern die Ansichten der Natur,« verbesserte der Candidat schneidend, und aus seinen Bewegungen errieth ich, daß er dem alten Herrn etwas einhändigte, »ja, die Ansichten der Natur, dieser Katechismus eines Naturforschers, aus welchem schwankende Gemüther das Gift saugen, welches, süß im Geschmack, in seiner Wirkung doppelt verheerend. Sie aber, Herr Fröhlich, stehen in dem Verdacht, dem jungen Menschen dieses Buch, welches in seinem Bett gefunden wurde, zugesteckt zu haben.«

»Nicht zugesteckt,« antwortete Fröhlich leidenschaftlicher, »sondern er bat mich um Lectüre, und da händigte ich ihm eine solche ein, wie ich sie am passendsten für seine Jahre und seinen Charakter hielt, und ich wüßte nicht, wer oder was mich hätte hindern sollen.«

»Sie gaben ihm das seinen unselbstständigen Geist gefährdende Werk; wollen Sie jetzt verantwortlich sein für die Folgen Ihrer Handlung?«

»Mit Vergnügen,« hieß es lebhaft zurück.

»Auch für die tollen Erklärungen einzelner Bibelsprüche, durch welche Sie ein für solche Eindrücke nur zu empfängliches Gemüth in endlose Zweifel stürzten?«

»Meine Herren, ich habe keine Veranlassung, mich Ihrem Inquisitionsverfahren länger zu unterwerfen,« fuhr der alte Herr heftig auf, »experimentiren Sie mit Ihren Zöglingen und Pensionären, wie es Ihnen beliebt, mich dagegen stören Sie so wenig wie möglich. Weder Ihnen, noch sonst Jemand in der Welt bin ich Rechenschaft für meine Handlungsweise schuldig. Ihre religiösen Ansichten aber müssen auf morschen Füßen stehen, wenn Bücher, wie dieses« – ich hörte das Klopfen seiner Knöchel auf einen festen Gegenstand – »Gespenster für Sie werden, von welchen Sie eine unheilbare Erschütterung Ihres Gebäudes befürchten.«

Nach diesen Worten begab er sich an seine Hobelbank, um sich auf's Neue in die unterbrochene Arbeit zu vertiefen.

»Herr Fröhlich,« schallte des Antiquars Stimme jetzt scharf zu mir herein, »Sie begreifen, daß ich mich dagegen schützen muß, meine Pflegebefohlenen zu deren Nachtheil von Ihnen beeinflußt zu sehen. Unsere Trennung zur gesetzlichen Zeit ist unvermeidlich geworden.«

»Meinetwegen,« grollte Fröhlich, »ich begrüße es sogar mit Freuden, von Ihren zeitraubenden Correcturen fernerhin verschont zu bleiben.«

»Gehen wir,« wendete Sachs sich höflich an seinen Begleiter, offenbar um weiteren ihm peinlichen Erörterungen auszuweichen, »was zu wissen uns am wichtigsten, haben wir erfahren – entschuldigen Sie die kleine Störung, Herr Fröhlich.«

Dieser ertheilte keine Antwort mehr; die Thür hatte sich indessen kaum hinter den Scheidenden geschlossen, als er mit einem gewissen Trotz den Riegel geräuschvoll vorschob, einige Secunden lauschte, dann aber vor den losen Brettern sich auf die Erde warf.

»Indigo, Knabe,« stöhnte er auf dem Gipfel seiner Besorgniß, »schnell, schnell! Sie haben die Richtung nach dem Magazin eingeschlagen. Stütze Dich gegen die Planken, daß ich sie fasse, und säume nicht!«

Wie betäubt lag ich noch immer auf den Knieen. Indem ich das Gespräch belauschte, hatte ich die Empfindung, als wäre plötzlich ein Vorhang vor meinen getrübten Blicken fortgezogen worden. Ereignisse aus längst vergangenen Tagen tauchten vor meiner Seele auf. Das Erstaunen, mit welchem jeder einzelne Bewohner des Gespensterschlosses mich zum ersten Mal begrüßte; die seltsamen Aeußerungen des für geistesschwach erklärten, auf seine protestantische Abkunft so stolzen Greises; das unheimlich starre Wesen des Burgfräuleins und ihres steten Begleiters und das zur katholischen Kapelle hergerichtete Gemach zwischen den Fundamentmauern. Dann wieder die geheimnißvolle Art, in welcher ich unmittelbar nach der Heimkehr von jenem Ausflüge von meinen alten Beschützern getrennt wurde, und endlich die Klagen der Winkelliese über die Veränderungen im Wesen der Försterfrau und das Erbleichen des einen muntern Haideröschens zur stillen weißen Lilie! Wo lag der Schlüssel zu diesen Verkettungen? Welche Zwecke verfolgte man, indem man sich meiner bemächtigte und mich zu einem Berufe zwang, zu welchem nie die leiseste Neigung in mir erwacht wäre? Ueberall Räthsel, überall Geheimnisse und unbekannte Gefahren. Wo sollte das enden? Wie sollte ich einen Ausweg aus diesen labyrinthisch verschlungenen Netzen finden? Bewußtlosigkeit legte sich um meine Sinne. Nur ein angstvoller Zuruf, wie der des alten Gelehrten, vermochte mich aus meiner Erstarrung aufzurütteln.

»Schnell, schnell,« flüsterte er, als die Planken vor meinen Händen aus ihren Fugen wichen und ich, wegen der Breite meiner Schultern, mich seitwärts durch die Oeffnung schob. »Schnell, schnell!« wiederholte er, als aus dem kleinen Vorflur des Magazins das Klirren herüberdrang, mit welchem der Antiquar den Schlüssel in's Schloß schob. Dann öffnete sich eine Thür, und wir waren noch damit beschäftigt, die stark federnden Bretter in ihre gewohnte, eng begrenzte Lage zurückgleiten zu lassen, als die Schritte meiner beiden Verfolger schon in dem Vorzimmer ertönten, aus welchem ich die Bücher entwendete. Keine Secunde länger hätte ich säumen dürfen. Aber auch meine Kräfte schienen der furchtbaren Spannung nicht mehr gewachsen zu sein. Von meinen Empfindungen überwältigt blieb ich vor den als Pforte benutzten Brettern liegen. Ebenso wagte Fröhlich nicht, sich von der Stelle zu rühren; das leiseste Geräusch konnte die Aufmerksamkeit der nunmehr dicht neben uns befindlichen Genossen auf die losen Bretter hinlenken. Ein fester Druck gegen dieselben, und sie blickten uns vielleicht gerade in die Augen, »– ich wüßte nicht, wie er hier eingedrungen sein sollte,« unterschied ich allmählich die gedämpfte Stimme des Antiquars, »und doch möchte ich behaupten, da alle Nachforschungen in der Umgebung der Stadt erfolglos blieben, daß er nicht weit sein könne. Außerdem fehlten ihm die Mittel –«

»Geld besaß er nicht?« fragte der Candidat lebhafter einfallend.

»Einige Groschen hatte ihm das Weib zugesteckt,« antwortete Sachs mit dem Ausdruck unerschütterlicher Rechtlichkeit, »wohlweislich forderte ich sie ihm ab.«

»Um so früher wird die Noth ihn mürbe machen,« versetzte der Candidat teuflisch ruhig, »und sein starrer Sinn muß gebrochen werden, er muß den Beruf verfolgen, zu welchem er – geboren wurde.«

»Ist Betreffs seiner nächsten Zukunft bereits ein Beschluß gefaßt worden?«

»Bis jetzt noch nicht. Viel hängt von der Gemüthsstimmung ab, in welcher wir ihn wiederfinden. In Ihrem Hause scheint er indessen zu viel Freiheit –«

Langsam und fortgesetzt in gedämpftem Tone sich unterhaltend, entfernten sich die beiden Gesinnungsgenossen. Bald darauf knarrten die Treppen, indem sie niederwärts stiegen.

»In dieser Nacht muß ich fort,« wendete ich mich an den erleichtert aufathmenden Gelehrten, und nach dem Bett hinüberschreitend, setzte ich mich auf dasselbe.

»Aber Geld, Geld,« meinte Fröhlich rathlos, »übereile Dich nicht, Knabe; Du bist jetzt doppelt sicher hier nach dieser Haussuchung.«

»Ich muß fort,« wiederholte ich zähneknirschend in Erinnerung des erlauschten Gespräches; »jede Minute, welche ich in Erwartung elender Geldmittel verbringe, ist ein unersetzlicher Verlust. Was soll mir Geld? Die Sommernächte sind milde, weich das Moos des Waldes, strahlend die gestirnte Himmelsdecke! Zeigen Sie mir ein schöneres, ein freundlicheres Obdach. Und Nahrungsmittel? Noch weiß ich aus den Jahren meiner Kindheit, in welchen Gründen die besten Beeren wachsen, weiß ich das Kraut einer Rübe von dem des Schierlings zu unterscheiden. Aber auch meine Glieder haben unter dem geistigen Druck wohl erst wenig von ihrer ursprünglichen Gelenkigkeit eingebüßt; und die Richtung? Wer zeigt dem Vogel den Weg, wenn die Wanderlust ihn von dannen treibt? Wer anders, als die Sehnsucht nach lieb gewonnenen Stätten? Die aber führt ihn sicher und treu an's Ziel, und geht er unterwegs zu Grunde, dann ist es nicht ein Verirren, was seinen Tod verschuldet, sondern der Kampf gegen die Elemente, der Wille einer höheren Macht. Ja, noch heute begebe ich mich auf den Weg; noch in dieser Stunde würde ich aufbrechen, scheute ich nicht Scenen, in welchen meine aufgestachelten Leidenschaften den Sieg über meine Ruhe, über meine klare Ueberlegung davontragen würden.«

Da legten sich zwei Hände schwer auf meine Schultern. Ich blickte empor und sah in die Augen des gerührt auf mich niederschauenden alten Herrn. Vor mich hinsprechend hatte ich nicht darauf geachtet, daß er sich mir näherte.

»So fliege denn hinaus in die Welt,« sprach er mit feierlichem Ernst, »ja, Knabe, fliege hinaus und möge das Glück sich an Deine Fersen heften, ein treuer Gott die Spannkraft Deiner Schwingen stählen. Was dem befiederten Wanderer der Lüfte die liebgewonnene Brutstätte, das möge Dir die Ehre sein, und wie jener, wirst auch Du nicht von Deiner Bahn abweichen. Ja, fliege hinaus; wer in seiner Brust die Keime zu Grundsätzen und Anschauungen trägt, wie Du sie eben enthusiastisch äußertest, für den giebt es auf dem Erdball keine Entfernungen. Oceanbreiten sind Fliegenschritte, Welttheile nur Rastpunkte Demjenigen, welcher getragen wird von einem ungetrübten, kühn vorwärts strebenden Geiste! O Knabe, Knabe, wenn ich Dich begleiten könnte!«

Das Haupt sank ihm auf die Brust. Wie von schwermüthigem Sehnen erfüllt, kehrte er sich ab; unbekümmert um die seine Füße hindernden Bücher, schritt er nach der Hobelbank hinüber.

Seltsam bewegt durch die innige, ermuthigende Ansprache, blickte ich ihm nach. Wie erhaben erschien mir der hinfällige Greis in der abgetragenen Hülle! Der Vergleich lag zu nahe; gleichsam unbewußt stellte ich ihn im Geiste jenen finsteren Männern gegenüber, von welchen, wie ich meinte, der Engel des Friedens, sein Haupt verschleiernd, sich traurig abkehrte.

Noch vibrirten seine Worte in meiner Seele, noch rang ich, den meine Brust erfüllenden Empfindungen Ausdruck zu verleihen, als es leise klopfte.

»Das Kind,« fuhr Fröhlich aus seinem Brüten empor, meine neu erwachenden Besorgnisse verscheuchend; dann öffnete er hastig.

»Furchtbare Minuten verlebte ich,« flüsterte Sophie kaum verständlich herein, »ich konnte es nicht verhindern –«

»Freundlich waltete das Geschick über uns,« unterbrach Fröhlich sie mit einem gutmüthig verschmitzten Lächeln, »aber Indigo will fort, und ich fürchte, wir dürfen ihn nicht halten –«

»Der Würfel ist gefallen,« bestätigte ich näher tretend, und dankbar ergriff ich des bebenden Mädchens Hand, »noch in dieser Nacht scheide ich, und Du bist es, liebe Sophie, von der ich den letzten Liebesdienst erwarte.«

Einige Secunden blickte Sophie mich starr an; ihre Lippen erhielten eine bläuliche Farbe, während ihr weißes Antlitz noch mehr erbleichte.

»Du mußt fort,« sprach sie leise mit bebenden Lippen, »ich begreife es und rathe Dir nicht zum Gegentheil. Den letzten Liebesdienst aber – Indigo, kein Anderer leistet ihn Dir – ich führe Dich ungefährdet hinaus – denn unter diesem Dache ist Deines Bleibens nicht mehr; die ununterbrochene Spannung würde uns Beide tödten. Halte Dich daher bereit – doch man könnte mich vermissen und mir nachspähen –«

Hastig entzog sie mir ihre Hand, flüchtig nickte sie Fröhlich zu, der uns gerührt betrachtete, dann verschwand sie auf der nach dem Boden hinaufführenden Treppe.

Mitternacht war längst vorüber, als Sophie sich endlich wieder durch das verabredete Klopfen anmeldete. Um reisefertig zu sein, brauchte ich nur mein Haupt zu bedecken. Mein gewöhnlicher Schulanzug, ein Taschenmesser, das Skizzenbuch und ein schwerer, mir von dem greisen Gelehrten zum Andenken überreichter Wanderstab, das war die Ausrüstung, mit welcher ich den ersten selbstständigen Schritt in die Welt hinaus thun sollte.

Der Abschied von dem alten Freunde war kurz und innig. Mit Widerstreben entsagte er seinem ursprünglichen Plan, mich eine Strecke über das Weichbild der Stadt hinaus zu begleiten. Wo Sophie und ich mit jugendlicher Gewandtheit die unsicheren Treppenstufen hinunterschlichen, wäre von den schwerfälligen Bewegungen des hohen Alters Verrath zu befürchten gewesen. Ein letzter warmer Händedruck, und zwischen dem wohlwollenden Freunde und mir lag eine schmale Grenze, von welcher Niemand wußte, ob sie nicht die Ewigkeit bedeutete.

Unentdeckt gelangten wir in's Erdgeschoß hinab, und als hätte unsere Bangigkeit sich dem leblosen Holz und Eisen mitgetheilt gehabt, öffnete sich unhörbar die Hausthür.

Bevor ich hinaustrat, ergriff Sophie noch einmal meine Hände. Ich fühlte, wie sie zitterte, hörte, wie sie tief und schwer athmete.

»Nimm dies,« sprach sie, mir ein Bündelchen über den Arm hängend, »es enthält Erquickungen für den ersten Theil Deiner Reise. Wohin Du Dich wendest, weiß ich nicht; ich vermuthe indessen zu Deinen ersten Wohlthätern. Bis dahin ist aber ein langer, langer Weg; nimm daher dieses Geld,« und sie legte ein kleines Packetchen in meine Hand, »verschmähe es nicht,« bat sie dringender, als ich unwillkürlich mich sträubte, »denn redlicher wurde nie Geld erworben, als dieses, und mit größerer Heimlichkeit theilte nie ein Freund mit dem anderen, als von meinem Ueberfluß ich jetzt an Dich abtrete. Denke, es sei ein Theil dessen, was mein Vater für Dich in Verwahrung nahm. – Und nun laß uns scheiden. Vor Dir liegt eine ungewisse Zukunft, allein mir ist, als zögest Du Deinem Glück entgegen. Doch, welches Loos Dir beschieden sein mag, Du lieber, lieber Indigo, vergiß nicht Deine arme Freundin. Denke ihr zuweilen einen Gedanken und gönne mir, daß ich Dein Bild im Herzen trage, wie eine Schwester das ihres geliebten Bruders.«

»Hör' auf, Sophie, hör' auf,« bat ich, denn der Ausdruck ihrer flüsternden Stimme war so wehevoll, als hätte der Tod seine Fittige über uns ausgebreitet gehabt, »ich ertrage es nicht, Dich so sprechen zu hören; Du erschwerst mir den Abschied, indem Du meinst, ich könnte vergessen, wie Du Dich einst des verlassenen Knaben erbarmtest. Du bist mein einziger Trost gewesen; an Dich klammerte ich mich an, wenn die finsteren Männer immer neues Gift in meine Seele streuten; Dir allein verdanke ich, wenn ich heute nicht alle Menschen hasse und verachte, selbst die holdesten kindlichen Erinnerungen nicht freventlich aus meiner Brust riß und in den Staub trat. Und eine glückliche Zukunft verheißest Du mir? Wollte Gott, Du sprächest wahr, und wie Du Dein Brod bisher mit mir theiltest, solltest Du das meinige mit mir theilen, solltest Du den Aufenthalt in dieser düsteren Gasse mit einem andern vertauschen, wo Blumen und Bäume, Deine Lieblinge, von welchen ich Dir so oft erzählte, Dich umgeben, alle Menschen Dir mit herzlicher Liebe begegnen würden.«

»Wohl sind Bäume und Blumen schön,« schluchzte Sophie leise, »und daß Du mir Solches versprichst, daran will ich mein Lebelang mit wahrhafter Freude denken, ja, mit Freude und ohne jegliche Ueberhebung. Aber nun gehe – die Zeit entflieht und der Himmel röthet sich bereits. Kein Bekannter darf Dir in den Straßen begegnen – ach – daß Du heimlich, wie ein Verbrecher, das Haus meines Vaters verlassen mußt!«

Krampfhaft schlang sie ihre Arme um meinen Hals, und wenn je heilige Thränen flossen, so geschah es in jener Minute, als ich, von Wehmuth überwältigt, die arme theure Freundin an's Herz drückte, sie küßte und ihr mein letztes Lebewohl zuflüsterte.

Sanft drängte sie mich auf die Straße hinaus und hinter mir schloß sich die Hausthür. Erquickend fächelte die kühle Morgenluft mir um die heißen Schläfen. Ich meinte, einem Abgrunde entstiegen zu sein, einem Abgrunde, aus welchem zwei thränenschwere Augen mir sehnsuchtsvoll nachspähten, zwei Hände sich in einander rangen und, Rettung von mir erhoffend, sich mir nachstreckten. Geisterhaft widerhallten meine Schritte in den vereinsamten Straßen. Es klang, als hätten tückische Verfolger sich auf meinen Spuren einherbewegt; mehrfach blieb ich stehen, um mich von der Täuschung zu überzeugen. Außerhalb des Thores erst legte sich meine Furcht und ruhiger klopfte mir das Herz. Als aber die Sonne ihre ersten goldenen Strahlen über Wald und Flur sandte, da vermochte ich kaum noch, von einer Anhöhe rückwärts schauend, die in bläulichem Duft verschwimmenden Thürme der Stadt zu unterscheiden.

»Frei!« sprach es in meinem Herzen freudig und doch so wehevoll, indem ich die beiden hoch hinaufragenden Kuppeln der bekannten Kirche wieder mit gewaltigen, drohend gegen mich erhobenen Fingern verglich.

»Frei!« rief ich laut in den thauigen Morgen hinaus, als ich jenen Thürmen scheu den Rücken zukehrte und mit beschleunigter Eile meinen Weg verfolgte.

Süßer Duft reifenden Getreides und geschnittenen dörrenden Grases lagerte über dem Erdboden; Lerchen, sich badend im Sonnenschein, erfüllten mit ihrem Jubel die Lüfte.


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