Eduard Mörike
Maler Nolten
Eduard Mörike

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Erschöpft kam sie nach Hause und legte sich sogleich mit einem starken Froste; der Alte befürchtete einen Rückfall in das kürzlich erst besiegte Übel, allein vom wahren Grunde ihres Zustandes kam keine Silbe über ihre Lippen. Sie ließ sich ältere und neuere Briefe Theobalds aufs Bette bringen, aber statt des gehofften Trostes fand sie beinahe das Gegenteil; das liebevollste Wort, die zärtlichsten Versicherungen, schon gleichsam angeweht vom vergiftenden Hauche der Zukunft, betrachtete sie mit Wehmut, wie man getrocknete Blumen betrachtet, die wir als Zeichen vergangener schöner Augenblicke aufbewahrten: ihr Wohlgeruch ist weg und bald wird jede Farbenspur daran verbleichen.

Dergleichen traurige Ahnungen erfüllten sie mit desto ungeduldigerem Schmerz, je mehr sie Theobalden noch in dem vollen Irrtum seiner Liebe befangen denken mußte – in einem Irrtum, den sie nicht länger mit ihm teilen durfte noch wollte, der ihr abscheulich und beneidenswert zugleich vorkam.

Jener Fieberanfall ging indes vorüber und außer einer gewissen Überspannung hielt man das Mädchen für gesund. Die Ungewißheit ihres Schicksals beschäftigte sie Tag und Nacht. Suchte sie auch einen Augenblick jene drohenden Aussprüche mit ruhigem Verstande zu bestreiten, schalt sie sich abergläubisch, töricht, schwach, sie fand doch immer zwanzig Gründe gegen einen, und selbst im Fall die unerhörteste Täuschung des Weibes mit im Spiele war, so schien dieser seltsame Zufall ihr wenigstens eine früher gefühlte Wahrheit aufs wunderbarste zu bestätigen. Denn freilich hatte sie bei dem Gespräch im Walde nicht bemerkt, wieviel ihr die Zigeunerin, nachdem das erste aufs Ungefähr keck hingeworfene Wort einmal gezündet, mit leisem Tasten abzulauschen wußte, noch weniger ließ sie sich träumen, daß ebendiese Person auf sehr natürlichem Wege von der äußeren Lage der Dinge im allgemeinen unterrichtet, mit Theobald nicht unbekannt, und, wie sich späterhin entdecken wird, überhaupt gar sehr bei der Sache interessiert war. Was aber immer die geheime Absicht dabei sein mochte, genug, das arme Kind war schon geneigt, einen höheren Wink in jenem Auftritte zu erblicken.

Indessen, es gehen zuweilen Veränderungen in unserer Seele vor, von welchen wir uns eigentlich keine Rechenschaft geben und denen wir nicht widerstehen können, wir machen den Übergang vom Wachen zum Schlaf ohne Bewußtsein und sind nachher ihn zu bezeichnen nicht imstande: so ward in Agnes nach und nach die Überzeugung von der Unvereinbarkeit ihres Schicksals und Noltens befestigt, ohne daß sie genau wußte, wann und wodurch dieser Gedanke eine unwiderstehliche Gewalt bei ihr gewonnen. Ihre Grundempfindung war Mitleid mit einem geliebten und verehrten Manne, hinter dessen Geist sie sich weit zurückstellte, den sie durch ihre Hand nur unglücklich zu machen fürchtete, weil es in der Folge doch auch ihm selbst nicht mehr verborgen bleiben könne, wie wenig sie ihm als Gattin genüge. Allein wenn dies Gefühl, das unstreitig aus dem reinsten Grunde uneigennütziger Liebe hervorging, das gute Geschöpf allmählich einer frommen und in sich selber trostvollen Resignation entgegendrängte, so wurde der Entschluß freiwilliger Trennung auf der andern Seite wieder durch eine Idee verkümmert, welche sich sehr natürlich aufdrang: ein künftiges Mißverhältnis war ja nur in dem Falle gedenkbar, wenn Nolten überhaupt seine ursprüngliche Gesinnung verleugnete, wenn er dem ersten reinen Zuge seines Herzens untreu würde; und so betrachtete sich nun Agnes schon zum voraus aufs tiefste gekränkt von dem Verlobten, sie war versucht, ihm dasjenige bereits als Schuld anzurechnen, wovon er selbst noch keine Ahnung hatte, was aber unvermeidlich kommen müsse. So sonderbar es klingen mag, so ist es doch gewiß, es traten Augenblicke ein, wo ihre Empfindung gegen Theobald nicht fern von Widerwillen, ja von Abscheu war, allein dergleichen feindliche Regungen widerstrebten dergestalt ihrer innersten Natur, sie selbst kam sich dabei als ein so hassenswürdiges, entstelltes Wesen vor, daß sie mit Absicht alles und jedes vorkehrte, was den Bräutigam, auch im äußersten Falle, rechtfertigen könnte. Es kam eine tödliche Angst über sie, wenn ihr zuweilen die Möglichkeit erschien, daß sie von dem, der ihr noch jüngst das Teuerste der Welt gewesen, jemals geringer denken oder daß er ihr gar sollte gleichgültig werden können, es war ihr, wenn es dahin kommen sollte, als zerstöre sie ihr eigen Selbst, als sei die innerste Wurzel ihres Lebens angegriffen, als müßte sie jedem schönen Glauben, allem, was würdig, hoch und heilig sei, für immerdar entsagen. Sie nahm in dieser äußersten Not ihre Zuflucht zum Gebet, und flehte mit Inbrunst, Gott möge die Liebe zu Nolten stets frisch bei ihr erhalten, er möge ihr nur helfen, alles, was leidenschaftlich an dieser Neigung sei, aus ihrem Herzen wegzuscheiden.

Bemerkenswert ist es, daß das treffliche Mädchen, von einem richtigen Takte geleitet, sich mitunter alle Gewalt antat, ganz unabhängig von jener verdächtigen Prophetenstimme zu denken und zu handeln, so wie sie sich auch leicht beredete, die Verzichtleistung auf den Verlobten sei in Betracht der ersten Gründe doch immer aus ihr selbst hervorgegangen. Vielleicht sie unterschied hierin nicht scharf genug, und jene dunkle Stimme behielt auf Agnesens Tun und Lassen den mächtigsten Einfluß; nur verscheuchte sie jede Erinnerung an den verhaßten Fingerzeig des Weibes, der so entschieden auf ein neues Bündnis hindeutete; nicht ohne heimliches Schaudern konnte sie in diesem Sinne an den Vetter denken, ja sie vermied seinen Anblick eine Zeitlang geflissentlich, nur um dieser unerträglichen Vorstellung loszuwerden.

Wie sehr das Mädchen unter solchen Umständen litt, von wieviel Seiten ihr Gemüt im stillen zerrissen und gepeinigt war, läßt sich wohl besser fühlen als beschreiben. Unglaublich erscheint bei diesem allen der Wechsel ihrer Stimmung; denn während sie jede Hoffnung auf Theobald verbannte und in den nüchternsten Stunden sogar die Fähigkeit bei sich entdeckte, ihn seinem bessern Schicksale freizugeben, fehlte es mitunter nicht an Augenblicken, wo alle jene düstern Bilder gleich Gespenstern vor der aufgehenden Sonne zurückflohen, wo ihre Liebe mit einemmal wieder in dem heitersten Lichte vor ihr stand und eine Vereinigung mit Nolten ihr, allen Orakeln der Welt zum Trotze, notwendiger, natürlicher, harmloser deuchte, als jemals. Mit Entzücken ergriff sie dann eilig die Feder, dem teuren Freund ein liebevolles Wort zu senden, und sich im Schreiben gleichsam selbst des überglücklichen Bewußtseins zu versichern, daß sie und Nolten ewig unzertrennlich seien.

In solchen Stimmungen mochte sie auch Ottos Gegenwart nicht ungern leiden, sie behandelte ihn noch immer mit einiger Zurückhaltung und hatte auch diese schon halb überwunden; nur als der Vater gelegentlich dem Vetter, der die Mandoline fertig spielte, den Vorschlag machte, das Bäschen in die Lehre zu nehmen, ward sie einigermaßen verlegen und zauderte, wiewohl sie den Wunsch früher selbst geäußert hatte und noch jetzt in gewisser Hinsicht Lust dazu empfand. Auf das freundlichste Zureden Ottos entschloß sie sich wirklich, und sogleich wurde die Probe gemacht, die denn auch ganz munter vonstatten ging; Agnes bewies den größten Eifer, denn es galt, den Geliebten später mit diesem neuen Talent zu überraschen, und das kleine Geheimnis machte sie glückselig.

Aber dergleichen lichte Zwischenräume waren vorübergehend; jene schwermütigen Zweifel kehrten nur um desto angstvoller zurück, und ein solcher alle Kraft der Seele anspannender Wechsel diente nur, eine Epoche vorzubereiten, worin die geistige Natur der Armen unter der Last einer schrecklichen Einbildung und eines unseligen Geheimnisses unterlag.

Noch immer beobachtete Agnes das tiefste Stillschweigen über die Begebenheit im Walde, bloß im allgemeinen gab sich ihr Gram in lauten Klagen zu erkennen, wovon wir gleich anfangs ein Beispiel gegeben.

Die musikalischen Lektionen wurden ausgesetzt und fingen wieder an, weil es der Vater verlangte, der in solchen Unterhaltungen eine willkommene Zerstreuung für seine Tochter sah. Diese zeigte nunmehr eine sonderbare stille Gleichgültigkeit, ließ mit sich anfangen, was man wollte, oder ging ihr lebloses träumerisches Wesen sprungweise in jene zweideutige Munterkeit über, wovon wir oben gesprochen. Der Alte sah es gern, wenn sie mit Otto sich lustig machte, nur stutzte er oft über die Ausgelassenheit, ja Keckheit seines Mädchens, wenn es nach beendigter Lektion an ein Spaßen, Lachen und Necken zwischen den jungen Leuten ging, wenn die Schülerin dem Lehrmeister blitzschnell in die Locken fuhr und auch wohl einen lebhaften Kuß auf die Stirne drückte, so daß Freund Otto selbst etwas verlegen ward und mit all seiner sonstigen Gewandtheit sich zum erstenmal ein wenig linkisch der reizenden Kusine gegenüber ausnahm. »Bist doch mein lieber Vetter«, lachte sie dann, »was zierst du dich so närrisch? Aber fürwahr, ich wollte, wir wären Brautleute! mit dir könnt ich leben, du bist ganz darnach gemacht, daß man dich nicht zuviel und nicht zuwenig lieben kann!«

Diese und ähnliche Reden, so arglos sie auch hingeworfen waren, klangen dem Alten bedenklich, und vollends finden wir sein Erstaunen gerecht, als er einmal beim Weggehen Ottos, welcher Agnesen wie sonst auf der Schwelle die Hand gab, eine Träne in ihrem klaren Auge bemerkte. »Was soll doch das, mein Kind?« fragte der Vater, nachdem sie allein waren, betroffen. »Nichts«, erwiderte sie mit einigem Erröten und drehte sich zur Seite; »sein Anblick rührt mich oft, er gefällt mir nun einmal.« Dann ging sie sorglos, wie es schien, und singend in der Stube auf und nieder.

Vorübergehende Auftritte der Art brachten den Förster auf mancherlei Gedanken, und es ist zu begreifen, wenn er es endlich mehr als wahrscheinlich fand, daß hinter diesem unnatürlichen Zustande eine aufkeimende Leidenschaft für Otto sich verstecke, die er nur einer krankhaften Reizbarkeit des Mädchens schuld geben konnte. Der Zeit nach, worein die ersten Besuche des Vetters und jene ersten grillenhaften Äußerungen Agnesens fielen, widersprach jener Vermutung nichts. Der Leser aber kann über den wahren Zusammenhang des wunderlichen Gewebes wohl nimmer im Zweifel sein.

Der Verstand des guten Wesens hatte das Gleichgewicht verloren, und der traurige Riß war kaum geschehen, als die Schatten des Aberglaubens mit verstärkter Wut aus ihrem Hinterhalte brachen, um sich der wehrlosen Seele völlig zu bemächtigen. Jene Idee von Otto fixierte sich gleichsam künstlich im Gemüte der Armen, und die eingebildete Notwendigkeit fing an, den Widerwillen gegen ihn zu überbieten.

Die Art jedoch, wie sich Agnes äußerlich betrug, ließ in der Tat nicht auf eine so bedeutende Störung ihres Innern schließen, und der Vater glaubte nicht an eigentlichen Wahnsinn. Der sonderbare Hang zur Lustigkeit verlor sich ganz und machte einer gesetzten Ruhe, einem liebenswürdigen Gleichmute Platz, der dem Gespräche sowie dem ordentlichen Gange der häuslichen Geschäfte gleich günstig war, man bemerkte nichts Verkehrtes in ihrem Tun und Reden, nichts Schwärmerisches in Miene und Gebärde; aber an Theobald wollte sie nicht erinnert sein, selbst Ottos Namen berührte sie kaum, solange er abwesend war, nur wenn er kam, sah man sie ihre ganze Aufmerksamkeit, alle Anmut und Freundlichkeit an ihn verschwenden.

Wenn nun der Alte, durch ein so unerhörtes Benehmen zur Verzweiflung gebracht, sie zur Rede stellte, sie bald mit Sanftmut, bald mit drohenden Vorwürfen an ihre Pflicht, an ihr Gewissen mahnte, so zeigte sie entweder eine stumme Gelassenheit, oder sie lief weinend aus dem Zimmer und schloß sich ein.

Der Vater hatte indessen auf die Entfernung des jungen Menschen gedacht und ihm bereits einige leise Winke gegeben, die aber bis jetzt ganz ohne Wirkung blieben; er war in der peinlichsten Not, zumal er Ursache hatte, zu befürchten, daß die Reize des Mädchens auch nicht ohne Eindruck auf Otto geblieben sein möchten. Und wirklich, wie erstaunte nicht der gute Mann, als er eines Tages dem Vetter unter vier Augen seine Bitte so schonend als möglich vortrug, und dieser mit dem unumwundenen Geständnisse hervortrat: er sei von der Neigung Agnesens für ihn vollkommen überzeugt und nichts halte ihn ab, sie offen zu erwidern, wenn er vom Vater die Zustimmung erhalten würde, die er ohnehin in diesen Tagen zu erbitten entschlossen gewesen sei; es komme nun freilich auf ihn an, ob er dem innigsten Wunsche seiner Tochter Gehör schenken oder auf Kosten ihrer Ruhe und ihrer Gesundheit eine Verbindung erzwingen wolle, welche man, alle Vorzüge Noltens in Ehren gehalten, nun einmal durchaus für den gröbsten Mißgriff halten müsse.

Der Förster, über eine so kühne Sprache wie billig empört, unterdrückte dennoch seinen Unmut und wies den vorschnellen Freier mit Mäßigung zurecht, indem er ihn vorderhand zur Geduld ermahnte und wenigstens für die nächste Zeit das Haus zu meiden bat, worauf denn jener willig zusagte und nicht ohne geheime Hoffnung wegging.

Nun überlegte der Alte, was zu tun sei. Bald ward er mit sich einig, daß unter so mißlichen Umständen Veränderung des Orts, eine starke Distraktion, das Rätlichste sein dürfte. Zwar dachte er anfangs daran, ob nicht gerade eine Reise zu dem Bräutigam das kürzeste Mittel zur Ausgleichung des Ganzen wäre, allein die geringste Erwähnung des Planes bei Agnesen versetzte diese in den größten Jammer, sie beschwor den Vater auf den Knien, von dem Vorhaben abzusehen, das ihr gewiß den Tod bringen würde. Da nun überhaupt von einer Reise, gleichviel wohin, die Rede war, schien sie viel mehr erfreut als abgeneigt, und gerne ließ der Förster sich's gefallen, bei dieser Gelegenheit einen ziemlich entfernten Freund, den er seit vielen Jahren nicht gesehen, heimzusuchen.

In kurzem befanden Vater und Tochter sich unterwegs in einem wohlgepackten Gefährt. Das Wetter war das schönste, nach wenig Stationen sah man schon völlig neue Gegenden. Das Mädchen war zufrieden, ohne gerade lebhafter zu sein.

Mit dem Aufenthalte in dem kleinen Städtchen Wiedecke, wo der vieljährige Bekannte des Försters, ein jovialer behaglicher Sechziger, als Verwalter eines edelmännischen Guts wohlhabend wie ein kleiner Fürst lebte, begann für Agnes bald eine ganz andere Art den Tag hinzubringen, als sie es bisher gewohnt war. Der lebensfrohe Mann machte sich's zur Pflicht, seine Gäste auf die mannigfaltigste Weise zu vergnügen, und im eigentlichen Sinne des Worts keine Stunde ruhen zu lassen. Sie mußte die Güter der gräflichen Herrschaft, Gärten, Waldungen, Parks und Fischplätze mustern, gelegentlich die Ordnung des Verwalters und seine Einsichten bewundern, man durfte mit keinem seiner Freunde im Städtchen und der Umgegend unbekannt bleiben, eine ländliche Partie verdrängte die andere, kurz der Förster sah seine Wünsche, die im stillen hauptsächlich nur auf Zerstreuung der Tochter gingen, beinahe über alles Maß und mehr als sie ertragen konnte, erfüllt; eigentlich gab sie sich mehr nur aus Gutmütigkeit zu all der geräuschvollen Lustbarkeit her, als daß sie mit ganzem Herzen teilgenommen hätte.


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