Eduard Mörike
Maler Nolten
Eduard Mörike

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Am 17. Mai trat ich von G. aus eine kleine Exkursion an, und zwar allein, weil mein Freund verhindert war. Ich fand etwas Reizendes in dem Gedanken, so wie zuweilen im Vaterland, jetzt auch auf böhmischem Boden einmal ohne bestimmtes Ziel und besondere Absicht auszufliegen, nur dachte ich an das schöne Gebirge gegen *** zu, das ich vom Fenster aus als dunkelblauen Streif gesehen hatte. Ich schlug also ungefähr diese Richtung ein und ließ mich nach Bequemlichkeit vom nächsten besten Wege fortziehen, verweilte bei allem, was mir neu und merkwürdig war, machte meine Beobachtungen an Menschen und Natur, zog mein Skizzenbuch hervor, zeichnete oder las wie mir's einkam, und ließ es mir mitunter in den dürftigsten Dorfschenken aufs beste gefallen. Am zweiten Abend meiner Wanderung befand ich mich bereits in einer anziehenden Gebirgsgegend und der darauf folgende Mittag sah mich schon tief in den herrlichsten Waldungen herumschwärmen, wo ich nach Herzenslust den wilden Atem der Natur kostete, die Schauer der Einsamkeit empfand, mich hundert Zerstreuungen überließ. Unvermerkt sank die Dämmerung herein, da es mir denn erst einfiel, den Fußsteig wieder aufzusuchen, der, wie man mir gesagt hatte, nach einer guten, mitten im Walde gelegenen Herberge führen mußte. Das ging aber nicht so leicht; eine volle halbe Stunde quälte ich mich ab, ohne eine Spur zu entdecken. Jetzt war es fast Nacht. Meine Wahl ging nahe zusammen. Auf gut Glück lief ich noch eine Zeitlang vorwärts, bis das dicker werdende Gesträuch und eine große Müdigkeit mich verdrossen stille stehen machte. Ungeduld und Ärger über meine Unvorsichtigkeit waren aufs äußerste gestiegen, da überraschte mich mit einemmal der Gedanke, daß ich mir ehedem oft eine solche Situation gewünscht, und daß dieser scheinbar widerwärtige Zufall recht eigentlich im Charakter meiner Reise sei. Hiemit gab ich mich denn auch wirklich zufrieden. Unbequem genug lagerte ich mich unter einer hohen Eiche, murmelte etwas von der Lieblichkeit der warmen Sommernacht, vom baldigen Aufgang des Mondes und konnte doch nicht verhüten, daß meine Gedanken einigemal in dem verfehlten Wirtshaus einkehrten, wo ein ordentliches Abendbrot und ein leidlicheres Bette auf mich gewartet haben würden. Mit solchen Bildern beschäftigt, bemerkte ich jetzt in einiger Entfernung durch das Gezweige hindurch den Glanz eines Feuers. Meine ganze Einbildungskraft entzündete sich in diesem Anblick unter tausend mehr oder weniger angenehmen Vermutungen; aber bald entschloß ich mich zu einer genauern Untersuchung. Nach einer mühsam zurückgelegten Strecke von etwa fünfzehn Schritten unterschied ich eine bunte Gesellschaft von Männern, Weibern und Kindern auf einem etwas freien Platz um ein Feuer herumsitzend und zum Teil von einer Art unordentlichen Gezeltes bedeckt; sie führten, soviel ich hörte, ein zufriedenes aber lebhaftes Gespräch.

Das Herz hüpfte mir vor Freuden, hier einen Trupp von Zigeunern anzutreffen, denn ein altes Vorurteil für dies eigentümliche Volk wurde selbst durch das Bewußtsein meiner gänzlichen Schutzlosigkeit nicht eingeschreckt. Ich weiß nicht, welches rasche zuversichtliche Gefühl mich überredete, daß wenigstens bei dieser Versammlung durch eine offene Ansprache nichts zu wagen sei. Mein kleiner Tubus trug in keinem Fall etwas dazu bei, denn bei einer physiognomischen Untersuchung der vom roten Schein der Flamme beleuchteten Köpfe hätte mein Urteil unentschieden bleiben müssen, trotz der frappantesten Deutlichkeit, womit jeder Zug sich vor mein Auge stellte. Ich trat hervor, ich grüßte treuherzig und erfuhr ganz die gehoffte Aufnahme, nachdem ich mich durch das erste barsche Wort des Häuptlings nicht hatte irremachen lassen. Meine unbefangene Keckheit schien ihm plötzlich zu gefallen, auch meinen Anzug musterte er jetzt mit sichtbarem Respekt. Man lud mich ein, auf einen Teppich niederzusitzen, und bot mir zu essen an. Ich gab mir ein mehr und mehr treuherziges und redseliges Wesen, dessen gute Wirkung sich gar bald an meinen Leuten zeigte, die mit Aufmerksamkeit meinen Schilderungen aus fremden Ländern zuhörten, während ich mich nebenher an den merkwürdigen Gesichtern und köstlichen Gruppen in die Runde erquicken konnte.

Dies dauerte ungestört eine ganze Zeit. Jetzt ließ sich ein ferner Donner vernehmen und man machte sich auf ein Gewitter gefaßt, das auch wirklich unvermutet schnell herbeikam. Jedes schützte sich so gut wie möglich.

Bei dieser allgemeinen Bewegung, indes der Regen unter heftigen Donnerschlägen stromweise niedergoß und eines der seitwärts stehenden Pferde scheu wurde, war mir mein Portefeuille entfallen. Ich suchte es in der dicksten Finsternis am Boden und hatte es soeben glücklich aufgehoben, als ich plötzlich beim jähen Licht eines starken Blitzes hart an meiner Seite ein weibliches Gesicht erblickte, das freilich derselbe Moment, welcher es mir gezeigt, wieder in die vorige Nacht verschlang. Aber noch stand ich geblendet wie in einem Meere von Feuer und vor meinem innern Sinne blieb jenes Gesicht mit bestimmter Zeichnung wie eine feste Maske hingebannt, in grünflammender Umgebung des nassen glänzenden Gezweigs. Nichts in meinem Leben hat einen solchen Eindruck auf mich gemacht, als die Erscheinung dieses Nu. Unwillkürlich streckte sich mein Arm aus, um mich zu überzeugen, aber es rauschte schon an mir vorüber und eine längere Zeit, als meine Ungeduld wollte, verging, bis ich ins klare kommen sollte. Doch das blieb nicht aus.

Ein Mädchen, das anfangs in dem Zelt verborgen gewesen sein mochte, und das man mit dem Namen Loskine rief, zeigte sich jetzt auch unter den andern, als man bei nachlassendem Regen wieder Feuer anmachte und sich unter wechselnden Scherz- und Scheltworten auf den störenden Überfall wieder in Ordnung brachte. Das Mädchen ist die Nichte des Hauptmanns. – Loskine – wie soll ich sie beschreiben? Sind doch seit jener Nacht vier volle Tage hingegangen, in denen ich dies Gebilde der eigensten Schönheit stündlich Aug in Auge vor mir hatte, ohne daß dem Maler in mir eingefallen wäre, sich ihrer durch das elende Medium von Linien und Strichen zu bemächtigen! O diese wenigen Tage, wie reich an Entdeckungen, wie unermeßlich in ihren Folgen für meine ganze Art zu existieren!

Ich bin seither der freiwillige Begleiter dieser streifenden Gesellschaft. Ja, das bin ich und ich erröte keineswegs über diesen Einfall, den mir auch kein Professor ordinarius der schönen Künste beachselzucken soll, weil ich ihn einem Professori ordinario sicherlich nicht erzählen werde. Oder schändet es in der Tat einen vernünftigen Mann, den sein Beruf selber auf Entdeckung originaler Formen hinweiset, eine Zeitlang der Beobachter von wilden Leuten zu sein, wenn er unter ihnen unerschöpflichen Stoff, die überraschendsten Züge, den Menschen in seiner gesundesten physischen Entwicklung findet, und dabei die übrige Natur wie mit neuen Augen, mit doppelter Empfänglichkeit anschaut? Ich lerne mit jeder Stunde und die Leute sind die Gefälligkeit selbst gegen mich. Einiger Eigennutz ist freilich immer dabei; meine Freigebigkeit behagt ihnen, aber mich wird sie nie gereuen.

 

Einen Tag später

Ich muß lächeln, wenn ich mein gestriges Räsonnement von Malerstudium und Kunstgewinn wieder lese. Es mag seine Richtigkeit damit haben, aber wie käme diese hochtrabende Selbstrechtfertigung hieher, wenn nicht noch etwas anderes dahinterstäke, um was ich mir mit guter Art einen Lappen hängen wollte? Doch ich gestehe ja, daß Loskine schon an und für sich allein die Mühe verlohnen könnte, sich eine Woche lang mit dem Zug herumzutreiben. Ich kann dies Geschöpf nicht ansehen, ohne die Bewunderung immer neuer geistiger, wie körperlicher Reize. Sie fesselt mich unwiderstehlich, und wäre es auch nur durch das Interesse an der ungewöhnlichen Mischung dieses Charakters.

Äußerungen eines feinen Verstandes und einer kindischen Unschuld, trockener Ernst und plötzliche Anwandlung ausgelassener Munterkeit wechseln in einem durchaus ungesuchten und höchst anmutigen Kontraste miteinander ab und machen das bezauberndste Farbenspiel. Das Unbegreifliche dieser Komposition und dieser Übergänge ist auch bloß scheinbar; für mich hat das alles bereits die notwendige Ordnung einer schönen Harmonie angenommen. Erstaunlich ist zuweilen die Behendigkeit ihrer äußern Bewegungen und herrlich das Lächeln der Überlegenheit, wenn es ihr mitunter gefällt, die Gefahr gleichsam zu necken. Mit Zittern seh ich zu, wie sie einen jähen Abhang hinunterrennt und so von Baum zu Baum stürzend sich nur einen kurzen Anhalt gibt; oder wenn sie sich auf den Rücken eines am Boden ruhenden Pferdes wirft und es durch Schläge zum plötzlichen Aufstehen zwingt. Unter den übrigen bildet sie indessen eine ziemlich isolierte Figur; man läßt sie auch gehen, weil man ihre Art schon kennt, und doch hängen alle mit einer gewissen Vorliebe an ihr. Besonders scheint der Sohn des Anführers, ein gescheiter männlich schöner Kerl, größere Aufmerksamkeit für sie zu haben, als ich leiden mag, wobei mich zwar einesteils ihre Kälte freut, auf der andern Seite aber sein heimlicher Verdruß doch wieder herzlich rührt. Mich mag sie gerne um sich dulden, allein ich scheue mich fast vor Marwin, so heißt jener Mensch, und bin schon daran gewöhnt, vorzüglich nur die Gelegenheit zu benützen, wann er eben auf Rekognoszierung oder sonst in einem Geschäft ausgeschickt wird, was häufig vorkommt. Ich habe ihr schon manche kleine Geschenke gekauft, deren Absichtlichkeit ich durch ähnliche Gaben an die andern zu bemänteln weiß. – Aber, mein Gott! was will ich denn eigentlich? Noch treffe ich nicht die Spur eines Gedankens an die Umkehr bei mir an. Vorgestern schrieb ich, unter einem nicht sehr wahrscheinlichen Vorwand und ohne das geringste von meinem jetzigen Leben verlauten zu lassen, an Freund S., er möchte mir meine ganze Barschaft nach dem Städtchen G*** senden, wo wir, wie der Hauptmann sagt, in vier Tagen zur Marktzeit eintreffen werden. Dieser Marsch bringt mich dem Orte, von dem ich ausgegangen, wieder um fünf Meilen näher. Aber doch welche Entfernungen immer noch! Gut, daß ich in diesen Gegenden nicht fürchten muß, auf irgendein bekanntes Gesicht zu stoßen, wofern ich anders in meinem gegenwärtigen Zustand noch kenntlich wäre. Ich habe meinem Anzug durch einige geborgte Kleidungsstücke ein etwas freieres Wesen gegeben, um mich meinen Gesellen einigermaßen zu konformieren. Eine violett und rote Zipfelmütze auf dem Kopf, ein breiter Gürtel um den Leib tun wahrlich schon viel.

 

26. Mai

Einen artigen Auftritt hat es gegeben. Wir rasteten nach einem ermüdenden Strich mittags in einem Tannengehölze. Marwin war abwesend und sonst überließ sich fast alles dem Schlafe. Loskine suchte ihre Lieblingsspeise, das durstlöschende, angenehme Blatt des Sauerklees, der dort in großer Menge wächst. Ich begleitete sie und wir setzten uns endlich hinter einem Hügel an einer schattigen Stelle auf den von abgefallenen Nadeln ganz übersäeten Moosboden. Ich weiß nicht, wie wir auf allerlei Märchen und wunderbare Dinge zu sprechen kamen, woran sie bei weitem reicher war als ich. Unter anderem wußte sie von der spinnenden Waldfrau zu sagen, die im Frühen, wenn der herbstliche Wald von der Morgenröte glühet, unter den Bäumen hergehe und das Laub, wie vom Rocken, in grün und goldnen Fäden abspinne, indes die Spindel neben ihr hertanze. Auch vertraute sie mir vieles von der heimlichen Kraft der Kräuter und Wurzeln, was nicht wiederholt werden kann, ohne zugleich ihre eigenen Worte zu haben. Dazwischen arbeitete sie mit dem Schnitzmesser sehr fertig an einem niedlichen Geräte, dergleichen die Zigeuner aus einem gelben Holze zum Verkauf machen. Ich hatte zuletzt beinahe kein Ohr mehr für ihre Erzählungen ob der Aufmerksamkeit auf die Bewegung der Lippen, auf das Spiel ihrer Miene, und endlich von stille glühenden Wünschen innerlich bestürmt und aufgeregt, wandte ich mich von ihr ab, so daß ich etwas tiefer sitzend ihr Gesicht im Rücken und ihren nackten Fuß – denn so geht sie gar häufig – dicht vor meinen Augen hatte. Wie trunken an allen Sinnen und meiner nicht mehr mächtig ergriff ich den Fuß und drückte meinen Mund fest auf die feine braune Haut. In diesem Augenblick gab Loskine mir lachend einen derben Stoß, wir standen beide auf und ich bemerkte eine hohe Röte auf ihrer Wange, eine Verwirrung, die ich schnell zu deuten wußte. Dadurch kühn gemacht, schlang ich ohne Besinnen die Arme um die treffliche Gestalt, und sie widerstand mir nicht. Heiß brannten ihre Lippen und ihr Blick sprühte in den meinigen sein schwarzes Feuer. Aber kurz nur, denn jetzt kehrte er sich verworren ab, und der nächste Gegenstand, auf den er zugleich mit dem meinigen fällt, ist – Marwin, welcher ruhig an einen unfernen Baum gelehnt ein Zeuge dieser Szene war. Loskine stand wie vom Schlage gerührt. Ich suchte, ohne Marwin bemerken zu wollen, ihn über den Vorfall zu täuschen, indem ich laut und scherzhaft mich über Sprödigkeit beklagte und daß sie mir das Gesicht schändlich zerkratzt hätte. Bei dieser Komödie leistete mir das Mädchen nicht die geringste Unterstützung. Sie starrte schweigend vor sich hin und unter stille hervorstürzenden Tränen entfernte sie sich langsam. Nun erst grüßte ich ganz verwundert meinen Nebenbuhler, ging auf ihn zu und wollte in meiner Rolle fortfahren, allein er sah mich ein paar Sekunden lang verächtlich an, dann ließ er mich stehen und ging.

Es sind seitdem sechzehn Stunden verflossen, ohne daß sich bisher die mindeste Folge gezeigt hätte, außer daß Loskine mir überall ausweicht.

 

In einer Bauernhütte zu ***

Ich bin getrennt von meiner Bande, aber um welchen Preis getrennt!

An demselben Morgen, da ich das letzte schrieb, nahm der Hauptmann mich beiseite und erklärte mir mit Mäßigung, aber mit finsterm Unmut, daß ich ihn verlassen müßte oder mich ganz so verhalten, als ob Loskine gar nicht vorhanden wäre. Sein Sohn wünscht sie als Weib zu besitzen, er selber habe sie ihm versprochen, sie werde sich auch jetzt nicht länger weigern. Ich möchte überhaupt auf meiner Hut sein, Marwin wolle mir sehr übel, nur die Furcht vor ihm, seinem Vater, habe ihn im Zaum gehalten, daß er sich nicht an mir vergriffen. Ich erwiderte, wenn mein argloses Wohlgefallen an dem Mädchen Verdruß errege, so wäre es mir ein leichtes, künftig behutsam zu sein; wenn aber Marwin überhaupt durch meine Gegenwart beunruhigt werde, so würde ich auch diese aufheben. Der Hauptmann, im Bewußtsein der nicht unbeträchtlichen Vorteile, die ihm meine Gesellschaft brachte, lenkte ein. Ich antwortete darauf wieder in unbestimmten Ausdrücken und so beruhte die Sache auf sich. Aber bald kam ich zu einer herzzerschneidenden Szene, woran ich sogleich selber teilnehmen sollte. Loskine, mit dem Strickzeug auf dem Schoße, saß an der Erde, das Gesicht mit beiden Händen bedeckend, indes ihr Liebhaber unter gräßlichen Verwünschungen und im heftigsten Schmerz ihr ein offenes Geständnis über jenen Vorfall auszupressen suchte. Wie er mich gewahr wurde, sprang er gleich einem Wütenden auf mich los, faßte mich an der Brust und forderte von mir, was jene ihm vorenthalte. Er zog das Messer und drohte mir noch immer, als wir schon von fünf bis sechs Personen, die herbeieilten, umringt waren. Der Vater entwaffnete ihn auf der Stelle. Aber erst Loskine, welche sich jetzt mit einem mir unvergeßlichen Ausdruck von würdevoller Ruhe aufhob, machte dem Lärmen ein Ende; sie faßte, ohne ein Wort zu sprechen, Marwin mit einem vielsagenden Blicke bei der Hand und er, der von der Bedeutung ihrer feierlichen Gebärde so mächtig ergriffen zu sein schien, wie ich, folgte wie ein Lamm, als sie ihn tief mit sich in das Gebüsche führte.


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