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Alle Begeisterungen und alle Beschaulichkeiten sind Folgeerscheinungen, die auf die primäre Ursache der Erschütterung zurückgehen. Aber hier öffnet sich uns ein Tiefblick von so schwindelerregender Abgründigkeit, daß wir unser Herz in beide Hände nehmen müssen, um nicht zurückzuprallen. Wir befinden uns auf dem schmalen Grat zwischen Physik und Kunst. Die Physik sagt uns, daß alles, was dem Ohr und dem Auge wahrnehmbar wird, im letzten Grunde auf Schwingungen zurückzuführen ist. Die Schwingungszahlen von 32 bis 32 000 in der Sekunde bezeichnen das Reich der Töne. Von hier aus bis zu den Erscheinungen des Lichts klafft eine ungeheure Lücke, denn die am langsamsten schwingende Farbe, das Rot, beginnt bei 400 Billionen. Was dazwischen liegt ist uns mit einer Ausnahme physikalisch unbekannt und kommt in ganzer Ausdehnung als Schwingungserscheinung für unsere Empfindungsorgane nicht in Betracht. Wir haben keine Sinne, die imstande wären, in dem ungeheuren Gebiet zwischen Tonschwingung und Farbenschwingung irgendetwas aufzunehmen, zu verstehen, geschweige denn künstlerisch zu empfinden und auszudeuten. Aber vielleicht liegen gerade hier Schwingungen vor, die beim Aufprall auf empfangsfähige Organe die höchsten Sensationen zu erzeugen fähig wären; Sensationen, die weit über die Musik hinausgingen, da sie sich nicht in so untergeordnetem Zahlenbereich bewegten wie die ärmlichen, schon bei 32 000 schließenden der Tonkunst; Sensationen, die alle Farbenkünste überflügelten, da sie von Stufe zu Stufe gemessen 20 Oktaven zur Verfügung fänden, während das Licht zwischen rund 500 und 1000 Billionen sich mit einer einzigen Oktave behelfen muß. Wir haben diese Organe nicht; aber ist es denn in alle Ewigkeit ausgeschlossen, daß wir sie einmal besitzen werden? Sind nicht vielleicht dunkle Andeutungen solcher Organe im menschlichen Organismus heute schon vorhanden? Nehmen wir einmal die elektrischen Schwingungen, die sich uns nur experimentell, auf Umwegen, in der Verkleidung des Lichtes oder in anderen Phänomenen maskiert offenbaren, die wir nur errechnen, aber nicht lebendig erfassen können. Und daneben haben wir eine Reihe okkulter Erscheinungen, wie den Somnambulismus, die Traumvision, die Gedankenübertragung, mit denen wir noch nichts Rechtes anzufangen wissen, bei denen aber ernste Vertreter exakter Wissenschaft an erforschbare Tatsachen wie an die Telegraphie ohne Draht zu denken wagen. Es erscheint also nicht gänzlich undenkbar, daß in vagen, verdämmernden Ansätzen ein Sinn vorhanden ist, der sich den Botschaften der Elektrizität gegenüber, wenn auch nicht mit Verständnis, so doch mit irgendwelchen geheimnisvollen Kundgebungen anmeldet; vielleicht so ähnlich, wie der erste Ansatz eines animalischen Auges sich in einem Komplex von Zellen manifestierte, die der unendlichen Welt des Sichtbaren nichts anderes entgegenzustellen hatten als eine Spur von Lichtempfindlichkeit. Ursprünglich war das Auge nichts als ein kleiner farbiger Fleck. Jahrmillionen verstrichen, ehe es die Qualität des Sehens, weitere Jahrmillionen, ehe es die Fähigkeit künstlerischer Bildaufnahme gewann. Aber all diese ungeheuren Zeiträume stellen insgesamt doch nur eine Endlichkeit dar, und in dieser Endlichkeit erkennen wir weitere Möglichkeiten. Vielleicht ist der elektrische Fleck, der sich dereinst zum elektrischen Auge auswachsen soll, schon gegeben; vielleicht empfinden wir in gewissen wundervollen Träumen, die eine sehnsuchtsvolle Erinnerung als an etwas unsagbar Schönes hinterlassen, die Vorahnung der künstlerischen Empfänglichkeit und Sensation, der dieses rudimentäre elektrische Auge entgegenstrebt. Aber lange bevor diese Möglichkeit in allerfernsten Zeiten sich der Wirklichkeit nähern kann, wird sich ein anderer Vorgang abgespielt haben, der sich schon heute als physikalisch und künstlerisch erkennbar ankündigt.
Es handelt sich hier um eine neue Grenzregulierung zwischen Ton und Farbe, die vermutlich in historisch absehbarer Zeit, sagen wir in wenigen Jahrhunderten, zum Aufbau einer neuen Kunst führen wird. Wir sprechen von Tongemälden, Klangfarben, Farbtönen, musikalischen Schattierungen und chromatischen, das ist farbigen Tonleitern. Leicht und willig öffnet sich das ganze Register der Malbegriffe, um das Vokabularium der Tonsprache zu unterstützen, und umgekehrt. Selbst diejenigen, die von der gemeinsamen physikalischen Grundlage beider Erscheinungen, von der Schwingung, nur eine oberflächliche Vorstellung besitzen, führt der angeborene ästhetische Instinkt dahin, in der Wirkung die gemeinsamen Merkmale aufzusuchen.
Bis in unvordenkliche Zeiten hinein reicht das Bestreben der Menschen, sinnfällige Beziehungen zwischen Farben und Klängen herauszufinden, oder zum mindesten die aus den Eindrücken herausgefühlten Verwandtschaften symbolisch darzustellen. Bei den altasiatischen Völkern bestanden »Musikkreise«, in deren einzelnen Abschnitten Musikalisches und Optisches auf die merkwürdigste Art vermengt wurden. So bedeutete in persischen Musikkreisen: Grün den Ton a, Rosa h, Blauschwarz c, Violett d, Gelb e, Schwarz f und Hellblau g; eine zunächst willkürliche Zusammenstellung, da die Schwingungsverhältnisse in der Farbenreihe von denen in der Tonreihe erheblich abweichen. In Europa finden wir ähnliche Anordnungen bei den ersten Notenbuntdrucken und handschriftlichen Aufzeichnungen aus der Zeit vor Palestrina. Sie bilden das optische Gegenbild zu den kontrapunktischen Künsteleien der Niederländer und Italiener und erklären sich durch das Bestreben, den Kompositionen einen begrifflichen Charakter aufzuprägen. Die Noten erscheinen auf dem Papier rot, grün oder schwarz, je nachdem die Tonstücke etwas Schreckliches, Pastorales oder Melancholisches ausdrücken sollten; eine Nachhilfe für die Sinne des Empfangenden, die noch heute einigen stümpernden Programmkomponisten zu empfehlen wären: wo sie sich in der Wahl ihrer Ausdrucksmittel vergreifen, würde uns ein Blick auf ihre Tinte über ihre wahren Absichten aufklären.
Der Begriff des Farbenakkords und der Farbenharmonie ist neueren Datums. Goethe, einer der geistigen Väter dieses Begriffs, wäre wohl berufen gewesen, den künstlerischen Beziehungen von Ton- zu Farbenwirkungen tiefer nachzuspüren; allein es bleibt beim vorläufigen Anlauf. In seiner großen Abhandlung zur Farbenlehre finden wir zwar ein Kapitel: »Verhältnis zur Tonlehre«, in diesem indes nur einen schöngeistigen Ausblick in die Akustik der Zukunft ohne tiefere Konsequenzen.
Wie in allen Kunstangelegenheiten ist auch in der Darstellung der Farbenakkorde die Praxis der Theorie vorangeeilt. Schon im Jahre 1725 verfertigte der Pariser Jesuit Castel eine »Augen-Orgel«, auf der kombinierte Farben durch einen Tastenmechanismus angeschlagen wurden. Der Effekt blieb leider vollständig aus. Auch dem verbesserten Farbenklavier von Rueta ist es nicht gelungen, die farbigen Akkorde im Raume zu einer sinnlich faßbaren, in der Zeit fortschreitenden Melodie umzubilden. Es mehrt sich indes die Zahl der Beurteiler, die hierfür nur die mangelhafte Konstruktion des Apparates verantwortlich machen wollen. Besäßen wir ein System der Farbenschrift – so etwa äußert sich ein englischer Theoretiker – das imstande wäre, vor dem geistigen Auge die Farben so schlüssig zu vereinigen, wie eine Seite Noten die Töne vor dem geistigen Auge verbindet, besäßen wir Instrumente, um solche Farbenschrift in wirkliche Farbenwogen vor das körperliche Auge zu bringen, dann hätten wir tatsächlich eine neue Kunst verwirklicht, deren Entwicklung und Bedeutung wir kaum zu ahnen vermögen.
Diese Wenn- und Abertheorie vermengt Richtiges mit Falschem. Sie ahnt richtig eine neue Kunst, und sie vermutet fälschlich, daß diese neue Kunst mit den Organen auf heutiger Stufe zu erfassen wäre. Freilich haben wir vorläufig auch nicht den leisesten Anhalt dafür, warum eigentlich unser Auge sich so spröde gegen die Aufnahme einer Farbensymphonie verhält. In der Tatsache, daß die Schwingungen aller wahrnehmbaren Farben im Raume einer einzigen Oktave liegen, kann der Grund keineswegs gefunden werden. Denn im Umfange einer Tonoktave lassen sich doch alle erdenklichen sinnreichen Melodien zusammenstellen, wobei noch zu erwägen, daß die deutlich erkennbaren Nuancen im gleichen Farbenintervall weit zahlreicher und individueller schattiert auftreten, als in der Klangoktave. Es bleibt also nichts übrig, als anzunehmen, daß das Auge auf heutiger Entwicklungsstufe den ästhetischen Genuß nur im Nebeneinander kennt, wie ihn das Ohr nur im Nacheinander herausfindet.