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Bei einigen der reizvollsten Elemente können wir den Verwelkungsprozeß direkt beobachten. Wir haben sie noch in Blüte gekannt und sehen sie heute auf dem Siechbett, die Grazientrias: Opera italianissima – Gesangskoloratur – Ballettmusik. Sie sind auf die festen Formen angewiesen und konnten sonach den verflüssigenden Kräften am wenigsten widerstehen. Fragt sie, die Ballerinen, die wenigen, die mit dem vollen Bewußtsein ihrer Kunst noch übriggeblieben sind, mit welchen Empfindungen sie heute an ein modernes Tanzgebilde herangehen; an eine jener Kompositionen, die nicht für, sondern gegen die Beine ersonnen sind. Aber da gibt es »Reform«, angebahnt von Künstlerinnen, die gleichfalls Formen sprengen wollen, die es unternehmen, Chopinsche Nocturnes und Beethovensche Sonatensätze zu tanzen. Schon daß diese Künstlerinnen dem Tanzwalzer gegenüber mit ihrer Rhythmik versagten, mußte bedenklich stimmen. Wer sie aber in ihrer ganzen Unbeholfenheit beobachtet hat, wenn sie sich unterfingen, ihre Glieder für Tonwerke einzurenken, von deren musikalischer Gliederung sie nicht die leiseste Ahnung besitzen, der mußte sich sagen: diese Reform ist der Anfang vom Ende.
Tanzunlust bei den ganz modernen Komponisten, Tanzwidrigkeit bei den Reformerinnen, Tanzfaulheit bei der Jugend – sie sind die komplementären Erscheinungen zu der Tanzimpotenz einer von klarer Rhythmik und Tonalität abgekehrten Tonkunst. Auch hier heißt es: das alte aufbrauchen, solange die verklingenden Takte noch einigen Reiz bewahren, aber keine neue Sensationen mehr erwarten. Wenn die letzte Diva ihre letzte Bravourarie ausgehaucht haben wird, dann ist auch die Tanzdämmerung nicht mehr fern. Und ich brauche mich garnicht auf die Überschrift dieses Buches zu berufen: »in tausend Jahren« – ich kann um mehrere Jahrhunderte kürzer limitieren, um mit meiner Prognose diese Dämmerung zu erreichen.
Untrennbar ist der Tanz vom Nationalen. Ja, in keiner musikalischen Gattung vernehmen wir so deutlich den Pulsschlag, das Temperament und jede Eigenart eines Volkes, wie in seiner Tanzmusik. Auch hier finden wir ein Element, das vergeht und ganz folgerichtig ausstirbt, nämlich in der Folge der nivellierenden Kultur. Wenn sich die nationalen Verschiedenheiten überhaupt ausgleichen und verwischen, so findet die Musik, die den Reflex liefert, nichts mehr zum Widerspiegeln vor. Diese Reflexspezialitäten der Musik, das Orientalische, Spanische, Skandinavische, Ungarische, Polnische, ja sogar weiter gegriffen das spezifisch Deutsche, Russische, Französische, Italienische, sind Posten auf dem Aussterbeetat, sie werden allesamt von der kosmischen Musik verschlungen, die selbst aufhören wird, Musik in unserem Sinne zu sein.
Aber bisweilen geht doch eine starke Rückströmung durch das Publikum. Es ist, als ob eine plötzliche Welle der Angst vor dem leeren Unbekannten die Massen dahin jagte, wo noch das Alte exerziert wird. Da tut sich eine italienische Oper auf, in der eine Kehlvirtuosin mit Lucia und Traviata Triumphe feiert; dort erregt eine slavische Tänzerin, die atavistisch tanzen kann, Stürme der Begeisterung mit altbackenen Walzern. Und dann regen sich wohl auch im Gehege der Kritiker sehnsüchtige, klagende, rückwärtsverlangende Stimmen. Die leicht faßliche Melodie wird wieder Trumpf, man verwünscht die Folterkomponisten, und leichtgläubige Gemüter könnten wohl auf die Meinung verfallen, die Zukunftkunst brauche nur ernstlich zu wollen, um eine Wiedergeburt aus der einfachen Diktion der Vorzeit zu gewinnen; und in endloser Wiederholung dieses Verfahrens könnte sie mit stetig erneuertem Inhalt sehr wohl das ewige Leben erlangen.
Aber hier lauert der Trugschluß. Der kurze Rückprall gestauter Massen kann den Strom nur zeitweilig aufhalten, aber die Richtung zum Ozean, zur kosmischen Endflut, nicht ändern. Und wiederum muß ich an das Gesetz appellieren, das die Gleichheit zwischen Phylogenie und Ontogenie ausspricht. Das Menschengeschlecht als Ganzes repetiert in langen Zeiträumen die nämlichen Formen, die das Individuum in raschem Ablauf erledigt. Es kann ernstlich ebensowenig zu den Liebhabereien der Jugend zurückkehren, wie ein Schachmeister zu den Verlockungen des Murmelspiels. Alles Antikisieren, jedes naive Zurückschraubenwollen im Sinne malerischer oder musikalischer Präraffaeliten beruht auf Selbstbetrug. Ebenso könnte sich einer die Poesie des Morgenlandes vorgaukeln, wenn er sich durchs Gewühl der Automobile in einer Sänfte tragen läßt. Selbst im verwegensten Phantasten bleibt ein Rückstand von Besinnung, der sich nicht bluffen läßt, der ihm zuruft: du bist nicht Träger einer Idee, sondern eines für die Nacht geliehenen Kostüms, das du ablegen wirst, wenn die Laune verfliegt. Ein mit modernen Klängen gesättigtes Ohr erfreut sich an den Melismen Rossinis und Donizettis oder an einem gut getanzten Czardas etwa so, wie sich ein gereifter Mann des Nordens an der Phantastik eines Maskenfestes berauscht; immer mit dem Nebengedanken: Ausnahmsfall! Jugenderinnerung! und mit dem nie zu übertäubenden Untergefühl: Überwunden! für immer überwunden!