Alexander Moszkowski
Entthronte Gottheiten
Alexander Moszkowski

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Musik als Raumkunst

Und doch besitzt das Ohr die Fähigkeit, über das Hörbare hinauszuschweifen in ein Gebiet hinüber, in das ihm ein anderer Sinn überhaupt nicht zu folgen vermag. Es nimmt bei dieser Wanderung nur noch den spekulativen Verstand als Begleiter mit.

Um das theoretische Ergebnis vorweg zu nehmen, dem sich eine praktische Folgerung von größter Tragweite angliedern soll, so stellen wir fest: Das Ohr ist das raumempfindende Organ; und zwar das einzige, dem diese Qualität zukommt.

Nach Kant ist der Raum eine Denkform a priori, eine Vorstellung außer aller Erfahrung, vor aller Erfahrung. Die Sinne haben mit ihm direkt nichts zu tun. Auge und Tastsinn nehmen nur die Dinge wahr, die den Raum erfüllen, nicht diesen selbst. Die moderne Physiologie hat angefangen, diese nichtsinnliche Grundlage der Philosophie zu bezweifeln; und ein entscheidender Tierversuch hat sie sogar fundamental erschüttert. Dieses sehr verwickelte Experiment, von dem ich Ihnen hier nur soviel mitteilen kann, daß es auf dem Prinzip der Organzerstörung und der Rotation aufgebaut ist, führt mit zwingender Notwendigkeit zu dem Schluß, daß der Organismus tatsächlich befähigt ist, den Raum und jede Veränderung im Raume zu fühlen.

Nicht außerhalb der Erfahrung, sondern im Sinnenbereich wird der Raum wahrgenommen, und zwar verblüffender Weise vom Labyrinth im Ohr. Ein linksseitig des Labyrinthes beraubtes Tier wird für jede Rechtsdrehung im Raume unempfindlich, ein rechtsseitig operiertes für jede Linksveränderung. Die Doppeloperation hebt jede Raumwahrnehmung auf, macht sozusagen raumtaub. Sonach sitzt das Organ, durch das sich der Raum als solcher einem lebenden Wesen mitteilt, im Ohre.

Wir brauchen deshalb die Vorstellung, daß das Ohr eigentlich zum Hören vorhanden sei, nicht aufzugeben. Wir werden uns nur zu entschließen haben, diese Vorstellung zu erweitern: es muß im leeren Raume etwas vorhanden sein, was sich den groben Meßwerkzeugen der Akustik völlig entzieht, aber doch klingt oder eine subtile Verwandtschaft mit dem Klang aufweist. Es muß ein kosmisches Abbild des unendlichen Raumes geben, das vom Ohre verarbeitet und ihm allein verständlich wird. Auf der höchsten Stufe der Verarbeitung wird dieses Abbild zur Musik und die Musik zur Raumkunst.

Nach den landläufigen Begriffen, die sich mit dem Binde- und Klebewort »bekanntlich« von einem Katheder aufs andere forthelfen, ist die Musik eine Zeitkunst. Das Ohr nimmt nur eine Folge, ein Nacheinander auf, ungleich dem Auge, dem eine Folgekunst in der Zeit versagt ist, und das dafür die Dimensionen erfaßt. Nachdem wir erfahren haben, daß das Ohr einen so innigen Kontakt mit dem Raume besitzt wie kein anderes Organ, werden wir den Schluß nicht abweisen dürfen: auch das Ohr kann mehrdimensional empfinden. Und hierauf wird sich ein neues Grundgesetz der Ästhetik aufbauen lassen, das übrigens mit einem schon vorhandenen recht gut übereinstimmt, wenn wir es nur freimütig genug interpretieren. Jedermann kann sich eine melodische Fortschreitung als linear, als eindimensional vorstellen. Füllen wir die Melodie harmonisch aus, so gewinnt sie eine Breite, die sie zuvor nicht gehabt hat; sie wächst in die zweite Dimension hinein, erobert sich die Fläche. Und sobald man sich erst einmal dahineingedacht hat, macht es keine Schwierigkeit mehr, der Polyphonie, die durch eine Mehrheit selbständiger Stimmen entsteht, die Körperlichkeit zuzusprechen. Das Ohr erweist sich als aufnahmefähig für einen Vorgang, der sich in einer dreidimensionalen Anordnung abspielt.

Aber unsere optophonische Studie hat uns ja schon eine Ahnung davon vermittelt, daß es jenseits der konzertanten Stimmen, die unsere Musiksaison ausfüllen, noch eine kosmische Musik gibt; eine akustische Betätigung im Weltenraum, die, dem Lichte verwandt, jenseits der meßbaren Schallschwingungen liegt. Diese transzendenten Schwingungen, die zu fein sind, um von der Trommelfellmembran erfaßt zu werden, wenden sich an den sechsten Sinn im Menschen, der seinen Sitz im Labyrinth hat. Hier werden sie begriffen, organisch erfaßt, ausgedeutet, und der letzte Schluß dieser Ausdeutung besagt: Raum ist Musik, Musik ist Raum.

 


 


 << zurück weiter >>