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Die Boussole des Interesses hat sich eben anders orientiert. Ich nehme an, daß die Summe der Interessen zu allen Zeiten eine Konstante darstellt. Die Ästhetik der Zukunft wird – daran zweifle ich nicht – ein Gesetz von der Erhaltung der Interessen mit der nämlichen Selbstverständlichkeit in ihre Betrachtungen aufnehmen, mit der der Naturforscher das Gesetz von der Erhaltung der Kraft in seine Berechnungen einstellt. Beweisen läßt sich eines so wenig als das andere. Es ist wahr, vermöge seiner Klarheit und weil es von keiner Erfahrung widerlegt wird. Auf diesem Gesetz haben sich die Interessen der Wissenschaft und der Kunst auszubalanzieren. Wird auf der einen Seite mehr absorbiert, eine stärkere Arbeitsleistung verlangt, so zeigt sich die Verminderung auf der anderen Seite. Für jede Ausdehnung des Wissenschaftsinteresses wird das Kunstinteresse mit einer Abgabe herangezogen. Die Wissenschaft wirtschaftet aus dem Vollen, die Kunst zahlt die Steuern. Diese Gegenrechnung läßt sich nicht täuschen, auch nicht dadurch, daß eine Berliner Saison tausend Konzerte bringt, daß in allen Häusern fleißig musiziert wird, und daß jede Konservatoristin neben einem Konservatorium wohnt. Denn nicht die Breite gibt das Maß für die Intensität, sondern die Tiefe und die Strömung. Aber auch schon in der Fläche gemessen, verhalten sich die beiden Interessen wie der Landsee zum Weltmeer.
Auf den Einwand: die Kunst ist unendlich, bin ich gefaßt. Und es wäre abgeschmackt, ihr die Grenzenlosigkeit bestreiten zu wollen. Indes müssen hier einige Vorbehalte betont werden. Denn erstlich fällt die Nichterreichbarkeit einer Grenze weder geometrisch noch sonst mit dem Begriff des Unendlichen zusammen, wie schon aus der Betrachtung einer Kugeloberfläche hervorgeht. Dann aber ist auch nicht ein Unendlich so groß wie das andere. In der exakten Betrachtungsweise ist A durch Null gleich Unendlich, und 5 A durch Null ebenfalls, indes ist es jedem Mathematiker geläufig, das zweite Unendlich genau 5 mal so hoch zu werten als das erste. Die Unendlichkeit des Raumes ist um ein Unendlichfaches mächtiger als die Unendlichkeit der Ebene. Die Unendlichkeit der Wissenschaft übertrifft die der Kunst schon darum, weil sich in ihr fast alle Disziplinen durchdringen, Physik, Chemie, Mathematik, Astronomie, Biologie, Philosophie, während in der Kunst höchstens zwischen Poesie und Musik eine Berührungsfläche erkennbar wird, trotz aller schönen Worte von der Baukunst als einer gefrorenen Musik. I. Newton sagt: »In der Wissenschaft gleichen wir alle nur den Kindern, die am Rande des Wissens hie und da einen Kiesel aufheben, während sich der weite Ozean des Unbekannten vor unseren Augen erstreckt. Nichts ist sicherer, als daß wir nur eben begonnen haben, in den Wundern unserer Welt den ersten Anfang zu erkennen.« Man versuche diesen Satz etwa auf Skulptur oder Baukunst umzubilden: ist da auch alle Perspektive und Erwartung auf die Zukunft gerichtet, der gegenüber Gegenwart und Vergangenheit verschwinden müssen? Oder operieren wir da nicht vielmehr mit dem Begriff der Klassizität, der den Brennpunkt der Offenbarung zurückverlegt? In der Wissenschaft führt jede Berührung vorhandener Erkenntniselemente zu etwas Neuem. In der Kunst, besonders in der Musik, führt unter Millionen ausführbarer Permutationen kaum eine zu einer Kunstmöglichkeit, unter tausend Kunstmöglichkeiten zeigt sich vielleicht eine Kunstbrauchbarkeit, und unter tausend Kunstbrauchbarkeiten höchstens ein Kunstfortschritt. Die Welt der Gelehrten stellt ein Parlament mit geschlossener Majorität dar, die der Künstler ein Aggregat von Stimmen, die einander nicht verstehen und mit der Geschäftsordnung nicht fertig werden können. Halten Sie sich das alles gegenwärtig, und Sie werden begreifen, nach welcher Seite eine auf Fortschritt und Resultat gestimmte Welt mit Notwendigkeit ihr Interesse einstellen muß.
Je höher das allgemeine Niveau steigt, desto weniger überragend erscheinen die Spitzen, desto seltener werden die Prestige-Menschen. Ja es kann dahin kommen, und in verschiedenen Gebieten der Kunst haben wir es erlebt, daß wir nicht einmal mehr neue Persönlichkeiten mit Prestige erwarten. Wir haben das Starsystem überwunden, und auch in der Produktion hören die Genialischen allmählich auf, Stars zu bedeuten. Wir haben so viele mit dem Marschallstab im Tornister, daß kein einziger so recht zum Kommandieren kommt. Historisch genommen gehören die darstellenden und die schöpferischen Stars ohne gegenseitige Störung zueinander. Zur Zeit Farinellis blühte Händel, zur Zeit der Catalani Beethoven, und die Triumphe der Adelina Patti fallen in den Höhepunkt Wagnerschen Wirkens. Es ist im Grunde die gleiche Welle, welche die Großen der Kunst und den Virtuositätsgott, die bravouröse Diva, emporträgt. Wo Prestige waltet, entwickelt sich Prestige. In der Wissenschaft gibt es nur einen Star, das ist die Wissenschaft selbst. Der Phänomenale braucht kein Prestige, nicht einmal Volkstümlichkeit. Männer wie Gauß, Laplace, Riemann, Weierstraß, Mach, Van t'Hoff, Poincaré waren und sind für den Beifall der Menge kaum erreichbar. Wie gewaltig muß ein Gebiet sein, das Dutzende der Gewaltigsten hervorbringen kann, ohne daß sie als sensationell auffallen! Wie mächtig in der Strömung, daß es aus der allgemeinen Genialität so viel Genie zu erfassen und fortzureißen vermag! Wenn heute ein Genie in der Anlage auftaucht, so orientiert es sich nach der Richtung der stärksten Strömung; dasselbe Genie, das vor hundert Jahren Kantilenen erdacht hätte, erweitert heute die Funktionentheorie, spaltet Atome oder erfindet einen neuen Motor.
Aber auch in den Niederungen der Menschheit ist der Wissenszug durchgreifend geworden; mag sein zum Unsegen des Individuums, das vom Wissensteufel besessen ist. Früh morgens, kaum dem Bett entstiegen, muß der Bürger schon wissen; und was er mit einer Morgenzeitung in sich hineinschlingt an positiven Fakten, übertrifft das an Menge, was ein Florentiner des Cinquecento in einem Jahr konsumierte. Der Florentiner wiederum behielt genau so viel Zeit und Interesse für das Bildwerk übrig, das der Meister am frühen Morgen aufdeckte. In wenigen Stunden flatterten um dieses Bildwerk Hunderte von Epigrammen, nicht von Feuilletonisten, sondern vom Volk erdacht; schmal begrenzt war der Horizont dieses Gemeinwesens, aber sein Bewußtsein wurde bis zur Tiefe von diesem Kunstwerk erfüllt. Und die Probe auf das Exempel? Ich habe es mehr als einmal erprobt. Mächtig rauschte es durch unsern Blätterwald, wenn ein neues hohes Bildwerk auftrat, wie Klingers Beethoven oder Brahms. Da sah man schon förmlich im Geiste den gewaltigen Pilgerzug, der sich mit Evoerufen vor der Halle staute. Aber nur im Geiste, nicht in der Wirklichkeit der Dreimillionenstadt. Als ich andachtsvoll vor Klingers Beethoven trat, zur besten Besuchszeit, war ich der einzige Beschauer, keiner neben mir, keiner, den auch nur die Neugier getrieben hätte. Und ich hatte alle Muße, an Michel Angelos David zu denken, von dem Hermann Grimm berichtet: »Seine Aufstellung war ein Naturereignis, nach dem das Volk zu rechnen pflegte. Man findet: soundsoviel Jahre nach der Aufstellung des Giganten. Das wird angeführt in Aufzeichnungen, in denen sonst keine Zeile für die Kunst übrig war.« Stimmt es nun annähernd, was ich von der Ausbalancierung der Interessen auf dem Gesetz von der Konstanten entwickelt habe?
Der heutige Großstädter braucht in den meisten Fällen das Kunstwerk nicht zu sehen oder zu hören. Ihm genügt es im allgemeinen, darüber das Nötige aus Beschreibungen, Abbildungen und Kritiken zu erfahren, dann weiß er, wie es ist, und das Wissen ist die Hauptsache. Selbst dann, wenn er mit dem Kunstwerk in Kontakt kommt. Er hört eine Beethovensche Sinfonie unter Nikisch, Weingartner oder Richard Strauß, wesentlich um zu wissen, wie Nikisch sie nimmt, wie Richard Strauß phrasiert, wie Weingartner die Tempi mißt. Sein Bildungsniveau soll auch hier steigen. Handelt es sich um Novitäten, so verliert er nichts, wenn er an ihnen vorübergeht. Er weiß, sie werden versinken, wie sie gekommen sind, wie überhaupt jede Vorschicht der Kunst, sobald sie überholt und unmodern geworden ist. Aber die Vorschicht der Wissenschaft verschwindet nicht, mag sie auch zu höchsten Jahren kommen. Die Fundamente eines Euklid, Archimedes, Pythagoras bleiben sichtbar. Und Sie brauchen sich nur die Frage vorzulegen, was aus letzter Zeit größere Aussicht hat, in tausend Jahren lebendig zu wirken: unsere Lyrik, unsere Sinfonik, oder das Radium, die Röntgenstrahlen, die Serumtherapie, um ahnend wahrzunehmen, welchem Richtungsziel die destruktiven Kräfte der Zeit entgegeneilen.
Wer über die heute gezogene Peripherie der Wissenschaft hinausschweift, wer überhaupt befähigt ist, sie irgendwo zu überschreiten, findet etwas Neues, Unverlierbares. In der Kunst liegt jenseits der Peripherie neben dem Bedeutenden das Abstruse, und dieses höchst wahrscheinlich in unendlich größerer Dichtigkeit und Mannigfaltigkeit, als das für die Zukunft Wertvolle. Über diese Peripherie hinausgehen heißt nicht, unerforschtes Land mit der Gewißheit von dessen Erforschbarkeit betreten, sondern Lotterie spielen; und zwar eine Lotterie, die auf einen Treffer tausend Nieten verspricht.