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Boheme

Vor zwanzig Jahren wurde schrecklich viel über den Begriff der Boheme und des Bohemiens orakelt, und ich gehörte zu denen, die sich gelegentlich in Zeitschriften um die Klärung des wichtigen Problems bemühten, ob ein Bohemien als Produkt sozialer Gegebenheiten oder als ahasverischer Menschentypus anzusehen sei, wie er, unabhängig von Zeit und Umwelt, aus dem Zwang individueller Eigenschaften entsteht. In einem Artikel, den Karl Kraus 1906 in seiner »Fackel« druckte, habe ich mich, wenn mich mein Gedächtnis nicht täuscht, im Sinne der Auffassung ausgesprochen, daß Boheme die gesellschaftliche Absonderung künstlerischer Naturen sei, denen die Bindung an Konventionen und die Einfügung in allgemeine Normen der Moral und der öffentlichen Ordnung nicht entspreche. Wogegen ich besonders polemisierte, war die neckische Leutseligkeit, mit der die Verehrer des »munteren Künstlervölkchens« einen Taler springen ließen, um irgendwo ein gereimtes Dankeschön zu erwischen oder sich im Kreise von Malern, Dichtern und hübschen Modellen angenehm und ein wenig sündhaft unterhalten zu lassen.

Meine eigene Lebensführung entsprach so wenig den Anforderungen grundsatzfester Zeitgenossen an geregelte Ausgeglichenheit, daß das Bestreben, mich doch wie jeden Menschen irgendwo einzuordnen, nur durch die Etikettierung als Bohemien erreicht werden konnte. Die mit dieser Bezeichnung verbundenen Assoziationen werden gemeinhin von Murgers Zigeunerleben und Puccinis Oper hergeleitet, wo materielle Kalamitäten so lange mit leichtsinnigen Scherzen verpflastert werden, bis die Kunstjünger arrivieren und die Kapitulation vor sittenstrammer Moral und staatsbürgerlicher Korrektheit vollziehen. Man braucht nur an die ganz großen Bohemenaturen der Weltliteratur, etwa an Li Tai Pe oder François Villon, zu erinnern, um die Seichtigkeit solcher Vorstellungen zu zeigen. Ich habe gewiß viele recht vergnügte Stunden in Gesellschaft künstlerischer Menschen verlebt, und wir haben uns gewiß, wenn kein Geld da war, mit allerlei gewagten Mitteln zu helfen gesucht, weniger, um uns zu amüsieren, als um in häufig schlimmster Not unsere Kameradenpflicht zu erfüllen, aber daß das sozusagen organisierte Bummeln den Lebensinhalt geistig bewegter Persönlichkeiten ausgemacht hätte, dafür habe ich kein Beispiel gefunden. Weder Armut noch Unstetigkeit ist entscheidendes Kriterium für die Boheme, sondern Freiheitsdrang, der den Mut findet, gesellschaftliche Bindungen zu durchbrechen und sich die Lebensformen zu schaffen, die der eigenen inneren Entwicklung die geringsten Widerstände entgegensetzen.

Stimmt die Definition, dann habe ich nichts gegen meine Charakterisierung als Bohemien einzuwenden, dann ist aber auch klar, daß Boheme angeborene Eigenschaft von Menschen ist, die sich dadurch nicht ändert, daß der Freiheitswille nicht auf die Führung des eigenen Lebens in größtmöglicher Ungebundenheit beschränkt bleibt, sondern sich in Arbeit für die soziale Befreiung aller umsetzt. Bewußt oder geahnt – der Rebellentrotz der Fronde war bei all den Bohemenaturen lebendig, die nur je meinen Weg gekreuzt haben, ob sie sich aus dumpfen Proletarierkreisen, aus bigottischer Kleinbürgeratmosphäre, aus behütetem Bürgerwohlstand oder aus dem Museumsstaub adliger Herrenschlösser zur Freiheit der Künste und zur Geselligkeit auf sich selbst gestellter Menschen geflüchtet hatten. Ich kann nicht mit Bestimmtheit sagen, und will in diesem Zusammenhange, der Beschränkung meines Themas wegen, keine Vermutung begründen, warum die Boheme von heute so gut wie völlig unsichtbar ist; denn die Meinungsbörse im Romanischen Café wird im Ernst wohl niemand als den Sammelplatz freier Geister, aus Protest Entwurzelter und freiwillig Abseitiger ansehen, der das alte Café des Westens, das Münchener Café Stefanie, das Café du Dôme in Paris und das Café Landolt in Genf gekannt hat, wenn auch der Schatten der einstigen Boheme in der Gestalt meines lieben alten John Höxter aus Erwerbsgründen noch Abend für Abend, ein Gruß vergangener Kulturen, durch das Industriegebiet der Intelligenz an der Gedächtniskirche geistert.

Wer sonst noch aus der Bohemezeit der Neuen Gemeinschaft, der Elf Scharfrichter, des Peter-Hille-Kreises und der nächsten zehn Jahre hineinlebt ins Gewerkel und Gemächel eines Intellektuellentums, das keine Programme entwirft, sondern sich in der Anbetung vorgefundener Programme modern dünkt – der sitzt ironisch schauend und ironisch angeschaut beiseite, fremd an einem Orte, der statt der Zuflucht der Besonderheit das Büro für originelle Effekte zu sein scheint. Ich meide, seit ich mir meine Gesellschaft wieder selber aussuchen darf, ängstlich jedes Literatencafé; ehemals suchte ich es auf, um zwischen dichterischer Arbeit und werbendem Eifern für eine Idee den Geist mit der spielerischen Akrobatik von Witz, Aperçu, Abstraktion, Kritik und schlagfertiger Bosheit elastisch zu halten, ihn mit anderen Gedanken zu beschäftigen und zu kneten, als der ernste Teil des Tages von ihm verlangte, heute, kommt mir vor, ist das Foyer zur Szene geworden, das Café zur Brutstätte eines katechisierten Radikalismus, dem es an jeder schöpferischen Radikalität gebricht. Sehe ich in dieser Umgebung wertvolle Überbleibsel der alten Boheme, wie S. Friedländer-Mynona, Lotte Pritzel, Max Herrmann-Neisse oder die geniale, ihrer ungebändigten Eruptivität halber spießerhaft belächelte Else Lasker-Schüler, wahrhaftig: so finde ich Zurückgebliebenheit und Vergreisung nicht bei ihnen und Zukunft und Erneuerung nicht bei denen, die durch ihre Hornbrillen auf ihre Antiquiertheit herabschauen.

Die Absicht, die Erinnerung an Vergangenes zu wecken, hat mich wieder zu Vergleichen mit Gegenwärtigem verführt, und nun frage ich mich besorgt, ob denn die Resultate all dieser Vergleichungen stimmen können, ob man mich nicht selbst mit Grund für zu senil halten wird, um die Wirklichkeit von heute mit der von vorgestern vergleichen zu dürfen. Bin ich schon ein zahnloser Nörgler geworden, der, den knochigen Gichtfinger erhoben, der nachwachsenden Generation nichts Besseres zu sagen hat, als: ja, je nun, als ich noch so jung war wie ihr – das waren ganz andere Zeiten!? Bitte: ich kritisiere weder Neues, noch Künftiges – und ich weiß mein eigenes Streben voll von Neuem und Künftigem –, ich kritisiere auch das Alte nicht, sondern freue mich, daß es gewesen ist. Aber das kritisiere ich, daß man das Gewesene nicht als Gewesenes in Ruhe läßt, daß man die Boheme, die vor einem Viertel Jahrhundert lebendig war, nicht als tot anerkennt, so tot, daß man aus ihrem Moder Memoiren ziehen kann, und daß man den köstlichen Wein, für den ich selber das Kristall der Zukunft zu schleifen bemüht bin, muffig werden läßt, indem man ihn in alte Schläuche füllt. Die Boheme, deren ich mich erinnere, lebt nicht mehr, und sie wird dadurch nicht lebendig, daß von solchen, die sich heute Boheme dünken, ihre Gesten kopiert werden. Der abmessende Vergleich jedoch möge sich im ferneren aus der Belebung der Vergangenheit direkt ergeben, wenn Figuren der Boheme aus dem Nebel tauchen, die keines Vorläufers Epigonen waren. Peter Hille, Paul Scheerbart, Friedrich von Schennis, Rudolf Johannes Schmied, Margarete Beutler, Franziska zu Reventlow und viele noch, von deren Freundschaft mein Leben reicher geworden ist ...

Die »Neue Gemeinschaft« ließ den sprühenden Glanz ihres Heiligenscheins rasch matt werden. Weihe in Permanenz schafft Narren, Zeloten und Spekulanten. Die Wohnung in der Uhlandstraße diente uns Jungen immerhin in den weihefreien Stunden als Klubraum zur Selbstbeköstigung. Zuerst hatten Gustav Landauer und ich uns die Erlaubnis erwirkt, dort zu kochen. Mir wurde die Erlaubnis dazu allerdings von Landauer bald entzogen, und er, der damals keine Familie hatte, übernahm die Bereitung der Mahlzeiten allein, nachdem ich einmal zur Herstellung von Omeletten alle Milch- und Eiervorräte verrührt hatte, ohne daß die Eierkuchen aufhörten zu zerbröckeln; ich hatte nämlich eine falsche Tüte genommen und statt Mehl Gips erwischt. Bald fand sich als dritter Mittagsstammgast ein Blumen- und Ansichtskartenmaler Albert Jung ein, und als Landauer dann zur Begründung seiner zweiten Ehe mit Hedwig Lachmann nach England abreiste, etablierten etliche junge Leute eine reguläre Tischgemeinschaft, und eine Anzahl Damen der Neuen Gemeinschaft übernahmen je einen Wochentag, um uns mit einem regelmäßigen Mittagessen zu versorgen. Außer mir kamen als tägliche Gäste mein Freund Eduard Wetzel, ein auf Grund etlicher lyrischer Gedichte aus einem Bankgeschäft ausgesprungener Schwärmer, dessen schwarze Augen alle Frauen bezauberten (er ist jung an einer Lungenentzündung gestorben), die Architekten Rometsch und Suppes, Woldemar Hafa, ein Christ herrnhutischer Richtung, der ebenfalls früh starb, der Maler Duphorn, die Schriftsteller und Dichter Adolf Knoblauch, Dr. Hans W. Fischer (Dr. Frosch) und Otto Albert Schneider. Wir sollten bestimmte Verpflegungsbeiträge leisten, taten es aber selten und ließen uns recht gern von unseren freiwilligen Köchinnen gratis bewirten, am liebsten von der schönen, jungen Ludmilla von Rehren, die stets erlesene Speisen auf den Tisch stellte und in die wir samt und sonders verliebt waren.

Diese Tischgemeinschaft hatte mit Boheme herzlich wenig zu schaffen, sie war für die eigentlichen Zigeuner unter uns Verbürgerlichung, für die zu bürgerlichem Wandel Hinstrebenden so etwas wie Sturm und Drang, für uns alle eine faute-de-mieux-Angelegenheit, die kennzeichnender für die Entwicklung der Neuen Gemeinschaft war als für uns. Die Neue Gemeinschaft selbst alterte mit unheimlicher Geschwindigkeit. Die Harts und einige der Gläubigsten erhielten sich ihren Optimismus, andere fanden sich bald enttäuscht. Denn aus dem Überschwang des Sternenfluges zu neuen Lebensformen wurde Gewöhnung und in Jugendstil, der dazumal revoltierend modern war, gekleidete Spießerei. Regelmäßig zweimal wöchentlich gab es Vortragsabende, bei denen manchmal ausgezeichnete Köpfe ausgezeichnete Gedanken entwickelten: Martin Buber z. B., noch sehr jung, aber schon priesterlich versonnen, sprach im modernen Geiste von altjüdischer Mystik, Dr. Magnus Hirschfeld erzählte von sexuellen Absonderlichkeiten, die beim Namen zu nennen damals noch grauenvoll verwegen schien, es gab sehr interessante und wertvolle Diskussionen – aber der Freiheitsdrang derer, die im »Orden vom wahren Leben« grundstürzende Erschütterung von Himmel und Erde fördern und feiern wollten, blieb ungestillt. Kritik schuf Verstimmung, und der Zorn der Eiferer wandte sich nicht gegen das Kritisierte, nicht dagegen, daß schöngeistige Damen sich gewöhnten, mit Häkelarbeiten dabei zu sitzen, wenn Julius Hart unsere Seelen mit All-Einheit impfte, nicht dagegen, daß spleenige Weltreformer zu Dutzenden in der Neuen Gemeinschaft ihre Traktätchen zu verhökern suchten, sondern gegen uns junge Stänkerer mit dem Eigensinn des unbestechlichen Idealismus, die wir Verwirklichung forderten und die Gemeinschaft der Vereinsversimplung anklagten.

Die Idee, auf eigener Scholle Verbindung von Arbeit und Verbrauch zu schaffen, lockte sogar Makler herbei, die mit sauber ausgerechneten Voranschlägen in der Tasche an Sonnwendfeiern draußen in der Mark teilnahmen und zwischen Chorgesang und Weiherede ein smartes Grundstücksgeschäft anregten. Schließlich versackte die ganze Siedlungsidee in einem Kompromiß, der den Bohemecharakter des Plans, Menschen, fern von aller Konvention, ein freies Leben in selbstgewählten Formen führen zu lassen, zur komischsten Karikatur verzerrte. Statt Land zu erwerben, wurde in Schlachtensee ein Säuglingsheim gemietet, dessen Räume nach Bedarf und Zahlfähigkeit unter die Familien verteilt wurden, welche sich bereit zeigten, die Überwindung der Gegensätze durch Benutzung einer gemeinsamen Küche vorzuleben. Auch ein paar junge Adepten der neuen Weltanschauung durften mit hinausziehen; ich gehörte schon nicht mehr dazu, war aber in der ersten Zeit noch häufig als Gast draußen und sah ingrimmig und höhnend die erträumte Herrlichkeit in einem Lustspiel-Pensionat grotesken Kalibers dahinschwinden. Ein paar schöne Feste und künstlerische Veranstaltungen konnten die ursprüngliche Idee nicht retten.

Ein großes Verdienst bleibt den Brüdern Hart und ihren Schlachtenseer Gefährten: sie richteten in einem neben dem großen Würfelbau des Sanatoriums gelegenen kleinen Wirtschaftsgebäude für Peter Hille einen netten wohnlichen Raum her, wo der Dichter bis zu seinem Tode, befreit von der Sorge um Miete und Ernährung, das Dasein gewissermaßen eines geselligen Eremiten führen konnte. Er hat dort draußen noch wundervolle Dichtungen geschaffen und erlebte unter den Föhren des dunklen Waldes beim Schlachtensee die Aufführung zweier seiner merkwürdig traumhaften, märchenzarten und bildstarken dramatischen Skizzen. Die literarische Abteilung der Berliner freien Studentenschaft hatte das Freilichtspiel veranstaltet, und ich war zusammen mit ihrem Vorsitzenden Ludwig Rubiner ausersehen worden, Regie zu führen. Die Hauptrollen wurden von dem damaligen Studenten, dem jung gestorbenen Dichter Siegmund Kalischer und seiner späteren Frau Beß Brenk gespielt. Die Sphärenmusik wurde von einem im Gebüsch versteckten Harmonium geliefert; das Publikum setzte sich aus der literarischen und künstlerischen Elite Berlins und massenhaft Studenten zusammen. Ich hielt eine Ansprache an das unter Bäumen gruppierte Parkett und wurde dann in der Zeitung darüber belehrt, daß man dabei nicht die Hand in die Hosentasche zu versenken habe. Heinrich und Julius Hart machten die Honneurs als Gastgeber, und Peter Hille war glücklich. Ein Photograph aber wollte ihn für ein illustriertes Blatt aufnehmen und durfte es erst, als Rubiner und ich aus dem Walde herbeigerufen waren. Denn Peter Hille erklärte, daß wir als Mittäter mit auf das Bild müßten.

Das Schlachtenseer Heim der Neuen Gesellschaft löste sich nach wenigen Jahren auf. Wird einmal die Geschichte der deutschen Künstlerboheme um die Jahrhundertwende geschrieben, so wird es nur Peter Hilles wegen hineingehören. Über ihn und seine Freunde wird noch in anderen Zusammenhängen zu berichten sein. Mir ist die Gestalt dieses kindlichen Weisen, der mich seiner Freundschaft gewürdigt hat, zu lieb, um die große Zahl der von ihm handelnden Anekdoten bereichern zu mögen. Wenn irgendein Mensch, der mir begegnet ist, als Genie bezeichnet werden darf, so Peter Hille. Alle Geschichten, die man von ihm erzählt, stammen aus den Eigenschaften, die sein Genie begründen, aus den gleichen Eigenschaften übrigens, die ihn als typischen Vertreter jener Boheme erkennen lassen, die unter den Wirrnissen der Gegenwart verschwunden zu sein scheint. Diese Eigenschaften, deren Personifizierung Peter Hille war, sind: Leben aus der Eingebung des Augenblicks, zeitlose Hingabe an Welt und Menschheit, Verbundenheit mit allen Leidenden im Wissen um Freiheit und Glück. Lovis Corinth hat Peter Hille gemalt: ein Porträt des Menschen, ein Bild des Dichters, ein Symbol der Boheme.


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