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Draußen an der Theresienwiese stand, dem 1908 geschaffenen Ausstellungsgelände zugehörig, das Münchener Künstlertheater. Dort saß das Publikum in bogenartig den Raum umspannenden Reihen, welche sich von Stufe zu Stufe bis unter das Dach erhoben. Das war ein großer Vorzug; denn diese bequeme Platzanordnung ließ einen vor sich über die damals noch modernen hohen und mit vielerlei Verzierungen versehenen Frisuren und Hüte der Damen hinwegsehen und schützte einem den Hals vor der Puste erhitzter Spätkömmlinge mit Fettansatz. Dem Zuschauer war also die Möglichkeit geboten, seine Aufmerksamkeit, sobald es dunkel wurde, ungeteilt den Vorgängen auf der Bühne zuzuwenden, die Bühne selbst jedoch war nach strengen theoretischen Grundsätzen erbaut, sie empfahl sich als Reformbühne, und ihre Unterscheidung von anderen Bühnen lag im wesentlichen darin, daß hier die dazumal sehr geschätzte Reliefwirkung der szenischen Gestaltung zur baulichen Eigenart des ganzen Theaters gemacht war. Während der Regisseur eines Theaters der üblichen Anlage mit seinem in die Tiefe reichenden Bühnenraum sich eine Aufführung im Reliefstil erst umständlich durch das Herablassen eines Vorhanges zur Schaffung einer schmalen Vordergrundszene herrichten mußte, hatte man hier eine fertige Sache. Dafür fehlte freilich die Versenkung, fehlten alle Einrichtungen, die einer erfindungsreichen Inszenierung Gelegenheit zur Entfaltung gegeben hätten, fehlte den Schauspielern der Raum zu breitem Spiel. Es versteht sich, daß eine so merkwürdig gebaute Schaubühne in den Kreisen der von Theaterdingen mehr als von allen anderen Angelegenheiten bewegten Münchener Literaten und Künstler Anlaß zu äußerst leidenschaftlichen und hartnäckigen Auseinandersetzungen gab. Die Theoretiker der vereinfachten Bühnenkunst, allen voran der geistige Urheber der Münchener Reformbühne, Georg Fuchs, der erste Direktor des Unternehmens – er geriet später in politischen Zusammenhängen in bitteres Unglück –, verteidigten heftig die wohltätige Einschränkung der szenischen Bewegungsfreiheit, durch die das Drama seiner Bestimmung wiedergegeben werde, durch seine eigenen Mittel zu wirken, statt ehrgeizigen Regisseuren zum Zirkus ihrer Ausstattungslaunen zu dienen. An unserem Tisch in der Torggelstube war Dr. Kutscher der begeistertste Herold des Künstlertheaters. Wedekind stand dabei auf seiner Seite; er bewies nämlich mit seinen alljährlichen Gastspielen in Stollbergs Münchener Schauspielhaus, daß ihm als Regisseur seiner eigenen Stücke in der Tat die Reliefbühne zu ausgezeichneten Wirkungen verhalf, da sie ihn zweckmäßig aller Schwierigkeiten großer Inszenierungen überhob, zugleich aber, daß die Vorzüge des Relieftheaters mit den denkbar einfachsten Mitteln bei jeder gewöhnlichen Bühne auch zu haben sind. Ich vertrat mit allen Bühnenkünstlern den Standpunkt, daß der Versuch im Ausstellungspark eine Spielerei von Theoretikern sei, und schon im zweiten Spieljahr war Professor Fuchs genötigt, zur Überwindung der Unzulänglichkeiten des Bühnenraumes den Mann zu Hilfe zu rufen, der mit dem Reformtheater widerlegt werden sollte: Max Reinhardt. Reinhardt übernahm im Sommer 1910 die Direktion des Künstlertheaters, schmiß die ganze seine Künstlerschaft einengende Stiltheorie über den Haufen und spielte, natürlich entsetzlich behindert, aber gerade dadurch zu Trotzdem-Leistungen angeeifert, auf der schmalen Bühne Komödie, wie er es auf der großen Bühne des Deutschen Theaters gewohnt war. Wir sahen die »Räuber« in der von Berlin her bekannten Besetzung und Inszenierung, nur mußten die verwegenen Scharen von beiden Seiten her auf die Bühne strömen. Wir sahen den »Kaufmann von Venedig« mit Schildkrauts unvergleichlichem Shylock, die Kulissen, die in Berlin üppigen Platz ausfüllten, eng zusammengepreßt; wir sahen sogar den Sommernachtstraum – Gertrud Eysoldts Puck! – und freuten uns, wie Reinhardt mit dem kümmerlichen Korridor dieser Szene auskam und das Werk als das zeigte, was es ist: als Ausstattungsstück vom höchsten dichterischen Rang. Einmal saßen wir, wohl nach einer Premiere, im größeren Kreise beisammen im großen Restaurant des Ausstellungsparkes. Die Schauspieler schimpften mörderlich auf die Unzuträglichkeiten des Theaters. Fuchs, Kutscher und andere priesen das Grundsätzliche ihres Unternehmens, gaben aber zu, daß ein Umbau zweckdienlich sein könnte. Man riet hin und her, wie man die Bühne vertiefen, die Garderoben vergrößern und vermehren, die technischen Einrichtungen vervollkommnen könnte. Jeder gab andere Anregungen. Endlich öffnete Max Reinhardt selber den Mund, was bei ihm, wenn er nachdenklich ist, sehr langsam geschieht, und meinte: »Das beste wäre wohl, der Kasten brennte einmal nieder.« Die Gastspiele des Deutschen Theaters in München waren in jedem Sommer, abgesehen von der Freude an den künstlerischen Genüssen, für mich persönlich eine Zeit gesteigerter Lebenslust. Meine vielen Freunde und Freundinnen von der Bühne mögen es der Gelegenheit, daß ich über sie schreibe, zugute halten, wenn ich ihnen korporativ eine Liebeserklärung mache. Von jeher habe ich keinen geselligen Verkehr angenehmer und menschlich befriedigender gefunden als den mit Schauspielern. Die verbreitete Ansicht, daß Bühnenmenschen im gewöhnlichen Leben unnatürlich, gespreizt preziös und verlogen seien, beruht auf unglaublich oberflächlicher und unpsychologischer Beobachtung. Jede Berufstätigkeit färbt auf das Gehaben der Menschen im privaten Leben ab. Wer viel mit Arbeitern der verschiedenen Gewerke in Berührung kommt, lernt bald aus Gang, Haltung, unwillkürlichen Bewegungen Rückschlüsse auf ihre Erwerbsbeschäftigung ziehen. Schriebe einmal jemand eine Psychologie der Berufe, dann könnte er sehr lohnende Vergleiche anstellen und viele Eigentümlichkeiten der Menschen von ihrer täglichen Arbeit ableiten. Daß der Künstler, Maler, Dichter oder Musiker, der sich seine Aufgaben selbst stellt, in seinem Äußeren oft eigenwilliger wirkt als der in seiner Berufspflicht gebundene Mensch, ist völlig natürlich. Aber nur er fällt durch sein Benehmen auf, weil der Durchschnittsbürger an dem vorbeisieht, der ungefähr unter seinen eigenen Daseinsbedingungen lebt. Der scharfe Beobachter erkennt im Besucher einer Sportveranstaltung den Ladenverkäufer wieder, den Arzt, Uhrmacher oder Volksschullehrer. Keiner kann am Abend ganz den Stempel auswischen, den ihm sein Tagewerk aufdrückt. So kann auch der Bühnenkünstler am Tage nicht völlig die Schminke entfernen, die er am Abend auflegen muß. Seine Sprechweise pflegt den Tonklang, der von der Bühne ins Parkett wirkt, sein Gesichtsausdruck hat sich im Rampenlicht gebildet, seine Gesten sind gesteigert, weil er gewöhnt ist, sie aus der Entfernung beobachtet zu wissen. Darum scheint das Benehmen der Schauspieler außerhalb des Theaters vielen gewollt und gemacht – und es ist doch gerade im Gegenteil so, daß fast alle anderen Menschen in ihrer beruflichen Tätigkeit sich gehen lassen, keinen Wert legen auf den Eindruck, den sie mit ihrem Mienenspiel und ihren Bewegungen machen, dann aber abends dem Bedürfnis jedes Menschen nachgeben, einmal schön zu scheinen. Die Schauspieler spielen in ihrem Beruf etwas anderes als sie wirklich sind, versetzen sich in die Rolle fremder Persönlichkeit, führen Bücke, Griffe, Schritte, Muskelzuckungen aufpassenden Augen vor und haben dann im zivilen Leben das Bedürfnis, sich zu geben, wie sie wirklich sind, als natürliche Menschen. Die starken Gesten und theatermäßigen Eigenheiten der Aussprache oder auch der Ausdrucksweise, die vielen dabei zur Gewohnheit des allgemeinen Umgangs geworden sind, haben nicht mehr Pose an sich als das kurzsichtige Augenzwinkern des Trichinenbeschauers oder die O-Beine des Jockeis. Wenn ich unter lauter Schauspielern bin, dann habe ich das Bewußtsein, unter lauter echten Menschen zu sein, wahrhaftig nicht unter lauter fehlerfreien, lauter mustergültigen, lauter geistsprühenden Menschen – aber unter Menschen, die kein Theater spielen, wenn sie es nicht zeigen wollen, daß sie Theater spielen; die ihre Fehler harmlos und unbefangen auf den Tisch legen, die, auch wenn sie es nicht wollen, zeigen, wer sie sind; unter Menschen, die mehr als der Gesamttypus irgendeines anderen Berufes Kinder und reinen Herzens sind. Ich liebe nicht jeden Schauspieler und nicht jede Schauspielerin, aber die Schauspieler und Schauspielerinnen insgesamt liebe ich inbrünstig.
Ein ständiger Tischgenosse in der Torggelstube war das Mitglied des Münchener Schauspielhauses Friedrich Carl Peppler. Das war noch einer von der alten Schule, seine Bewegungen waren weit ausladend und immer majestätisch, sein R rollte von weit her. Trat eine Dame in die Straßenbahn ein und fand keinen Platz, so erhob sich der alte Herr mit viel umständlicher Feierlichkeit, bat die Schöne mit ausgestrecktem Arm, ihm die Gnade zu erweisen, seinen Platz einzunehmen und stäubte, ehe sie es tat, die Stelle, auf der er gesessen hatte, mit seinem Taschentuch ab. Dies alles war sehr lächerlich an unserem guten Friedrich Carl, aber alles andere als innerlich unwahr. Er liebte wie jeder echte Schauspieler seinen Beruf über alles, und er führte diese Liebe vor, auf die er stolz war. Uns allen, die wir viel mit ihm zusammenkamen, war er ein zuverlässiger, treuer Freund, und als er, wenige Tage nach Frank Wedekind, im März 1918 starb, haben wir alle ihn ehrlich betrauert. Es wäre doch aber sehr verfehlt, das äußerliche Gehaben Pepplers, Sigmund Lautenburgs oder Ferdinand Bonns als besonders kennzeichnend für das Benehmen von Schauspielern allgemein vorzuführen. Ich erinnere mich kaum natürlicherer Ausdrucksmittel bei einem Menschen als bei Bernhard von Jacobi, der doch mit unermeßlicher Liebe an seinem Berufe hing. Seine Beschäftigung mit der klassischen Literatur, die ihn zur Herausgabe einer vortrefflichen Wieland-Auswahl führte, zeigt deutlich genug, daß dieser Beruf so wenig wie ein anderer einseitig, eng oder äußerlich macht. Natürlich wirkte sich im Schauspielerberuf der Richtungsstreit, der in den Jahren vor dem Kriege alle Künste in Mitleidenschaft zog, besonders heftig aus. In München zumal, wo Ernst von Possart jahrzehntelang mit außerordentlicher Rigorosität verhängnisvolle Macht ausübte (ein Mann übrigens, den ich von meiner Liebeserklärung durchaus ausschließe), bedurfte es unendlicher Kämpfe, um jugendlichen Geist und ungekünstelte Kunst auf der Bühne zu Ansehen zu bringen. Nicht, daß die Alten sich, weil sie alt waren, dem Jungen entgegengestellt hätten. Aber Possart, klug, verschlagen, despotisch und in jedem Betracht viel ernster zu nehmen, als die vielen Anekdoten, die im Gefolge seines Andenkens leben, vermuten lassen, hielt eisern auf Rückständigkeit im Münchener Theaterleben. Ich hoffe, daß der prächtige, jetzt über achtzigjährige und noch immer auf der Bühne tätige Aloys Wohlmuth einmal seine Erinnerungen vom Münchener Theater herausgeben wird. Er hat ein gutes Stück Kulturgeschichte mit erlebt und hat niemals gegen die Jugend gestanden.
Die moderne Richtung war in der Person Albert Steinrücks Gegenstand versteckter und offener Angriffe und Begeiferungen. Wenn die klerikale Presse von der Theaterclique in der Torggelstube schrieb, dann war Steinrück gemeint, dem es als Regisseur des Hoftheaters schwer verübelt wurde, daß er mit Wedekind, mir und den übrigen bei Possart besonders übel angeschriebenen Leuten Freundschaft hielt. Es wurde freilich wohl auch von mancher Seite dafür gesorgt, daß der eifernde Greis von allerlei Bosheiten Kenntnis erhielt, die gegen ihn in unserem Kreise laut wurden. Als einmal elend über ihn hergezogen wurde, meinte Wedekind grinsend: »Aber ich bitte Sie, Possart hat doch ungeheure Verdienste – um den Münchener Fremdenverkehr.«
Ich war mit Jacobi und Steinrück schon von Berlin her gut bekannt. Wenn dann im Sommer die große Reinhardt-Invasion hereinbrach, dann gab es ein freudiges Wiedersehen mit den übrigen alten Freunden vom Café Monopol, und in der Torggelstube war jeden Abend nach dem Theater ein Spektakel wie sonst das ganze Jahr nicht. Sie kamen alle hin, der alte Pagay und Friedrich Kühne, Adele Sandrock, Wegener, Moissi, Eduard von Winterstein, viele noch, die längst unter der Erde ruhen, wie Viktor Arnold und Harry Walden und andere, die inzwischen beim Kino noch berühmter geworden sind als sie beim Theater waren, wie Otto Gebühr und Harry Liedtke. Von den Frauen, die damals regelmäßig unsere Gesellschaft belebten, sind manche noch künstlerisch tätig, andere sind irgendwo im Hafen einer Familie gelandet. Vergessen wird keiner die schönen Abende in München, gegen elf Uhr wurde es lebhaft. Das kleine Zimmer der Torggelstube wurde von allen nicht zu uns gehörenden Gästen langsam entleert, sie gingen entweder von selbst, durch den Spektakel vertrieben, oder sie wurden durch leichtes Anpflaumen allmählich hinausgeekelt. War die Stimmung entsprechend vorbereitet, dann rief einer: »Fräulein Mizi, ein Klavier!«, und Wirt und Kellnerinnen, Stammgäste und Berliner, schoben mit vereinten Kräften das Instrument herein, auf dem Reißig oder sonst einer der Jüngeren die ausgefallensten musikalischen Kunststücke vorführte, begleitet von wilden Gesängen und fabelhaften Pfeifkonzerten.
Mich hat immer die Leistungskraft meiner Freunde vom Theater in Erstaunen gesetzt, wenn sie nach der doch außerordentlichen Anstrengung ihrer Arbeit auf der Bühne, die den ganzen Menschen stundenlang körperlich, geistig und seelisch in Anspruch nimmt, sofort imstande sind, in der größten Ausgelassenheit ganze Gesellschaften zu unterhalten. Reinhardt hatte in der Musikhalle des Ausstellungsparkes den Ödipus aufgeführt. Die Proben hatten bis zum letzten Tage gedauert, die Darsteller waren ungeheuer angestrengt, überdies aufgeregt in der Erwartung und Premierenfieber. Wegener hatte mich gebeten, ihn nach Schluß der Premiere mit einem Auto vor dem Bühneneingang zu erwarten. Die Aufführung wurde für München ein Theaterereignis erster Ordnung. Wegener in der tragenden Rolle bot eine hinreißende Leistung. Er beherrschte den riesigen Raum fast vier Stunden ohne Unterbrechung mit seinem Organ, seinem Spiel, seiner Gestalt, mit dem Schicksal des Ödipus in allen seinen sich stetig steigernden Ausbrüchen. Ich wartete mit dem Auto, während er sich abschminkte, und dachte, ich werde den Mann halbtot in seiner Pension abliefern müssen. Als er aber aus dem Theater trat, rief er mir höchst vergnügt entgegen: »Solche Stücke mußt du schreiben mit so vertrackten Familienverhältnissen!« Und dann fuhren wir in die Torggelstube und tranken gewaltig. In früher Morgenstunde hatten wir dann noch Streit miteinander. Wir befanden uns gleichzeitig im Erholungsörtchen, und ein gelblicher Schein schien flackernd von außen in die Fensterluke. Paul Wegener aber wurde lyrisch und wollte mich durchaus dazu bewegen, der lieben aufgehenden Sonne meine Andacht zuzuwenden. »Aber das ist doch eine Tranfunze«, behauptete ich, während er dabei blieb, daß es die liebe Sonne sei und sehr böse auf mich wurde, weil ich es nicht zugab. Wir hätten uns beinahe darüber gänzlich entzweit. Das war, glaube ich, im Jahre 1910. Als ich vor einigen Wochen bei Alexander Granach wieder einmal mit Wegener beisammen war – es hat sich ja im Laufe dieser achtzehn Jahre für uns beide einiges zugetragen –, da fing er wahrhaftig wieder mit der Geschichte an und bestand darauf, daß es die aufgehende Sonne gewesen sei, die damals durch die Luke geblinkt hätte. Ich halte aber daran fest: es war nur eine Tranfunze.