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Allerlei Begegnungen

Mein Domizil in der Augsburger Straße war ein sogenanntes »Berliner Zimmer«, sehr geräumig, mit einem zweischläfrigen Bett, einem breiten Sofa und einem etwas gebrechlichen Schreibtisch in der einzigen Ecke, in die das Fensterlicht einließ. Die hübsche, rundliche Wirtin, kleinen Zärtlichkeiten sehr zugänglich – der Mann war Reisender und viel abwesend –, war das Ideal einer toleranten Vermieterin. Ich durfte Besuch mitbringen, wie es mir gefiel, und es kam vor, daß zugleich drei Freunde, denen der Heimweg vom Café des Westens zu weit war oder die gerade kein festes Quartier hatten, bei mir übernachteten. Peter Hille war, wenn er den letzten Zug nach Schlachtensee nicht mehr erreichte, oft mein Logiergast, auch Scheerbart machte einmal, als ihn die Füße nicht mehr bis nach Hause tragen konnten, von meinem breiten Bett Gebrauch und wollte sich totlachen, als morgens die Wirtin mit der größten Selbstverständlichkeit hereinkam und zwei Portionen Kaffee auf den Tisch stellte. Kam ein Gast von auswärts ins Café, der noch keine Bleibe hatte, wurde er mir einfach mitgegeben, und ich habe manchmal wildfremde Leute bei mir beherbergt, deren Namen ich bei der Vorstellung nicht verstanden hatte und nie erfuhr. Einmal kostete es große Mühe, einem Zahntechniker, dem Freunde irgendeines meiner Bekannten, zwei Goldstücke zu retten, die er auf den Tisch gelegt hatte. Ich lag noch im Bett, er auf dem Sofa, als der Gerichtsvollzieher erschien, um von mir Geld zu holen. Er wollte sich durchaus des Vermögens meines Gastes bemächtigen, der angstvolle Minuten durchlebte, bis der Beamte sich entschloß, es beim üblichen Vermerk bewenden zu lassen, daß die Pfändung bei mir fruchtlos gewesen sei.

Auch tagsüber ging es mitunter lebhaft im Dämmerlicht meines Zimmers zu. Meine gute Wirtin wunderte sich über gar nichts. Sie gewöhnte sich daran, daß langstündige Konferenzen bei mir stattfanden, deren politischen Charakter sie den verarbeiteten Gesichtern und Händen der Teilnehmer und gelegentlich aufgefangenen Worten entnehmen konnte. Sie ließ lustige Künstlergesellschaften herein, ohne sich je über den dann folgenden Radau zu beschweren. Sie erlebte mit ungeheurem Stimmaufwand dargebrachte Rezitationen zur Unsterblichkeit strebender Autoren und gellende Aufschreie junger Schauspielerinnen, die mich und einen zur Talentmusterung eingeladenen Bühnenkünstler durch Vorsprechen klassischer Rollen von ihrer Berufung zur Heroine zu überzeugen suchten. Sie öffnete die Tür mit diskreter Freundlichkeit Besuchern und Besucherinnen und fragte nicht, ob Kunst-, ob andere Interessen sie zu mir führten. Selbst als ich in jenem Zimmer meine erste polizeiliche Haussuchung über mich ergehen lassen mußte, konnte ich sie als Zeugin herbeirufen und hörte nachher keine Frage nach dem Warum? und kein Wort des Mißvergnügens. Wirtinnen dieses Schlages, deren ich im Laufe der fünfzehn Jahre meines Lebenswandels als »möblierter Herr« mehrere kennengelernt habe, aber wahrhaftig nicht viele, bin ich viel Dank schuldig.

Mancher Berühmtheit hat die brave Frau Kaffee gekocht ohne eine Ahnung, wen sie bewirtete. Einmal überraschte mich der Besuch einer nicht mehr jugendlichen, merkwürdig angezogenen, etwas exzentrisch anmutenden Dame, die von mir die Adresse eines Bekannten verlangte. Ich wußte noch nicht, mit wem ich es zu tun hatte, lud sie aber ein, mit mir Kaffee zu trinken, da mich der beredsame Enthusiasmus anzog, mit dem sie von ihren eigenen dichterischen und malerischen Werken sprach. Es war Hermione von Preuschen. Das sehr lebhafte Gespräch endete ganz plötzlich. Sie stand völlig übergangslos vom Tisch auf, gab mir die Hand und sagte: »Ich werde noch einmal zu Ihnen kommen; dann werde ich mich entscheiden, ob ich Sie auch zu mir einladen werde.« Daraufhin ging sie. Es war meine einzige Begegnung mit dieser seltsamen und, wie ich glaube, bedeutenden Frau.

In dieser Zeit war ich nicht selten mit Johannes Schlaf zusammen, der sich damals in einer kritischen Periode befand. Dessenungeachtet empfing ich mit meinen fünfundzwanzig Jahren von dem Dichter, den ich mehrfach in seiner Wilmersdorf er Wohnung besuchte und der sich auch gelegentlich bei mir zeigte, eine Fülle wertvollster Anregungen und Hinweise. Schlaf verstand es, den kritischen Blick des Jüngeren auf die kleinen Merkmale eines Charakters, eines Kunstwerks, einer Straßenszene hinzulenken, immer wieder die Beobachtung zu schärfen und mit einer aphoristisch hingeworfenen Bemerkung einen einzelnen Vorgang mit der Komplexion des Lebens, einen im Gespräch entwickelten Gedanken mit dem pantheistischen Weltbild seiner Geistigkeit in Beziehung zu setzen. In allen seinen Büchern, den Romanen wie den wissenschaftlichen und philosophischen Werken, spiegelt sich dieses Vermögen der Kritik des Großen durch die Betrachtung und Zergliederung des Kleinen wieder. Johannes Schlaf gehört zu den Erscheinungen, bei denen sich Persönlichkeit und Schaffen zur Synthese ergänzen.

Zu den Dichtern der naturalistischen Kampfgeneration, mit denen ich in meiner Berliner Frühzeit noch persönlich in Berührung kam, gehörte auch John Henry Mackay, mit dem mich ja eine ziemlich nahe Verwandtschaft der sozialen Anschauungen verband. Die oft behauptete Diskrepanz zwischen seinen aufrüttelnd kämpferischen Dichtungen und seinem sorgsam abgezirkelten persönlichen Gebaren kann ich eigentlich nicht zugeben. Allerdings ergibt sich wohl aus der Feststellung der Einheitlichkeit seines Charakters als dichtender Propagandist und als Mensch unter Menschen der Abstand zwischen seiner und meiner Weltanschauung, die ich als ziemlich nahe verwandt, keineswegs aber als kongruent bezeichnet habe. Es ist hier nicht der Ort, das, was dieser Wiedererwecker Max Stirners, dieser konsequente Individualist, Anarchismus nennt, von dem, was ich so nenne, erklärend abzugrenzen, obwohl solche Grenzziehung das politische Gebiet kaum zu streifen brauchte. Jedenfalls betonte Mackay bei jeder Unterhaltung, die zwischen uns selbstverständlich fast immer unsere Stellung zur staatlichen Gesellschaft betraf, den Egozentrismus seiner Weltanschauung. »Sie sind gar kein Anarchist«, sagte er dann in seiner etwas behinderten Sprechweise, »Sie sind Kommunist.« Was er wollte, war vor allen Dingen die persönliche Freiheit von gesetzlichen Fesseln aller Art, die Ersetzung jeglicher Zwangsmaßnahme durch die freie Vereinbarung, und als freie Vereinbarung unter freien Persönlichkeiten betrachtete er in besonderem Maße die aus dem Verkehr der Menschen natürlich gewordene Konvention. So erklärte es sich, daß Mackay trotz seiner Überbetonung der persönlichen Freiheit in seinem Benehmen der konventionellste Mensch war, der im Café des Westens – um mit Rossius zu reden – »auflag«. Der Dichter des »Sturm« und des sozialen Sittengemäldes »Die Anarchisten« paßte empfindlich auf, daß in seiner Gegenwart keine gesellschaftliche Form verletzt würde, kleidete sich in sorgfältig durchdachte Unauffälligkeit, verhielt sich in jeder Situation pedantisch korrekt, wurde aber sehr spitz, wenn jemand etwa den Faux pas beging, den deutschen Dichternamen Mackay nach seiner schottischen Herkunft auszusprechen: »Mac-kei, wenn ich bitten darf!« – Es ist kein Zweifel, daß Mackay seine schrullige Gestelztheit mit einer gewissen Absicht zur Schau trug. Er wollte sein Gefühlsleben, soweit er es nicht in seiner Dichtung zum Ausdruck brachte, völlig für sich haben. Niemand sollte in ein Herz hineinsehen, das unmaskiert nur in der Charlottenburger Junggesellenwohnung zwischen einer herrlichen Bibliothek schlagen mochte und dessen menschliche Wärme sich in der pietätvollen Wallung verrät, die Mackay seinem theoretischen Meister Max Stirner auf dem alten Friedhof in der Invalidenstraße einen schönen Grabstein setzen ließ. Ich war im Caféhaus häufig in des Freiheitsdichters Gesellschaft, habe ihn aber jetzt wohl seit zwanzig Jahren nicht mehr gesehen und schließe nur aus der Feststellung, daß ihn der Kürschner noch mit derselben Adresse führt wie damals, daß sich auch sonst nicht viel im Wesen, Denken, Schaffen und Wollen John Henry Mackays geändert haben wird.

Meiner Wirtin muß wohl die Boheme-Atmosphäre, die ich in ihre Wohnung gebracht hatte, sehr zugesagt haben. Denn eines Tages berichtete sie mir, daß der Herr, der die beiden kleineren Zimmer auf der anderen Seite des Korridors bewohne, ausziehe; es wäre ihr recht, wenn einer meiner Freunde sie nähme. Ich hatte gerade wieder einen Schlafburschen zu beherbergen. Das war der Prager Lyriker Viktor Hadwiger, der plötzlich im Café des Westens aufgetaucht war und mir dort eine Empfehlung, ich glaube von Hugo Salus, überbrachte. Ein großer schwerer Mensch, dem die ungeordneten blonden Haarsträhnen und der kräftige Knebelbart ein ziemlich wildes Aussehen gaben, das, zumal in Verbindung mit seinem äußerst robusten Auftreten, die tiefe Bildschönheit seiner Verse nicht ahnen ließ. Der wurde jetzt also mein Zimmernachbar, und ich wurde der ständige Zeuge seiner Maßlosigkeiten. Hadwiger war maßlos in allem: im Trinken, Rauchen und Fluchen, im Überschwang der Glückseligkeit und im Weltschmerz. Hatte er kein Geld, um Tabak oder Schnaps zu kaufen, war er bei einer Frau abgefahren, ärgerte er sich über irgendwas, dann konnte er mörderlich schimpfen; ich habe keinen anderen Menschen getroffen, dem in der Wut eine solche Sturzflut haarsträubendster Unflätigkeiten zur Verfügung stand. War ihm aber etwas zum Guten ausgegangen, hatte er unerwartet Geld bekommen, war ihm ein Gedicht gelungen, hatte sich ein Mädchen von ihm küssen lassen, dann leuchteten seine großen, hellblauen Augen, seine Stimme wurde weich und schmeichelnd, und man spürte ein inneres Tanzen in dem mächtigen Körper des Mannes. Mehrmals weckte mich Hadwiger in der Nacht auf, kam polternd in Unterhosen in mein Zimmer herüber und wollte wissen, ob mir ein Vers gefalle oder ob ich diese oder jene Wortverbindung in einem Gedicht für zulässig halte. Oder er brachte ein eben fertig gewordenes Gedicht, erklärte es in unbändiger Begeisterung als das beste, das ihm je gelungen sei, und trug es mit Bärenstimme vor. Ich hielt so viel von Hadwigers dichterischer Begabung, daß ich ihm einen Abend im Peter-Hille-Kabarett zur Vorlesung verschaffte, bei dem ich in einleitenden Worten die Überzeugung aussprach, hier wachse das lyrische Talent der Zukunft heran. Viktor Hadwiger ist 1911 mit dreiunddreißig Jahren gestorben. Außer dem 1903 erschienenen Versband »Ich bin« und wenigen Novellen ist meines Wissens zu seinen Lebzeiten kein Buch von ihm gedruckt worden. Nach seinem Tode gab Dr. Anselm Ruest ein ganz kleines Bändchen ausgewählter Gedichte heraus, das unter dem Titel »Wenn unter uns ein Wanderer ist« bei Alfred Richard Meyer verlegt wurde. Auf dem Umschlag des Heftes, sprechend ähnlich und psychologisch glänzend erfaßt, steht, von John Höxter gezeichnet, der Kopf des Dichters.

In das zweite freigewordene Zimmer meiner Wirtin zog Hanns Heinz Ewers. Das war der einzige unter uns, dessen Freude an ungezwungenem und bewegtem Leben von praktischem Geschäftssinn wohltätig gebändigt war. So fern von meinen Wegen die Bahn lief, die Ewers manchmal, besonders in späteren Jahren, einschlug, so muß ich gerechterweise zugeben, daß er ein immer zuverlässiger und selbstloser Freund war, der hinter der Pose des Rohlings und Satanisten den stets sprungbereiten Eifer versteckte, anderen aus jeder Patsche zu helfen. Er verstand sich auf Geldverdienen, aber, wo es irgend ging, ließ er andere mitverdienen. So beredete er einen Verleger zur Herausgabe einer groß angelegten, vorzüglich ausgestatteten Kinderzeitschrift, deren Chefredakteur er wurde. Der ganze Künstlerkreis, mit dem er in Verbindung stand, lebte damals von den guten Honoraren, die Ewers für jeden von uns zu lockern wußte. Er bekam von Wertheim den Auftrag, zu Weihnachten ein Fabelbuch zu schreiben, und ließ mich an der Arbeit teilnehmen. Es wurde eine Elefantengeschichte in Knittelversen, die in Anlehnung an Rideamus' »Willis Werdegang« den Titel bekam »Billys Erdengang«. Wir haben das Buch gemeinsam mit Paul Haase, der es entzückend illustrierte, in wenigen Stunden, einander mit immer lustigeren Einfällen überschreiend, hingehauen, und es erlebte viele Auflagen. Daraufhin bekam Ewers von derselben Firma, dem Globus-Verlag, die Aufgabe gestellt, einen »Führer durch die moderne Literatur« zu verfassen, der auch erschienen ist. Der Untertitel lautete: »300 Würdigungen der hervorragenden Schriftsteller unsrer Zeit. Herausgegeben von Dr. H. H. Ewers unter Mitwirkung der Schriftsteller: Viktor Hadwiger, Erich Mühsam, Rene Schickele und Dr. Walter Bläsing.« Dieser Dr. Walter Bläsing war eine imaginäre Persönlichkeit. Wir erfanden den Namen, um die »Würdigungen« derjenigen Schriftsteller und Dichter zu verantworten, von denen keiner von uns genügend wußte, um seinen Namen unter eine kritische Betrachtung setzen zu mögen. Da wurde das Nötige aus schon vorhandenen Literaturführern zusammengekratzt und Dr. B. drunter geschrieben. Übrigens hat der gute Ewers sich in diesem Buch auch sonst allerlei Freiheiten geleistet; so finde ich in meinem Exemplar bei dem mit meinem Namen gekennzeichneten Passus über Frank Wedekind die wütende Bleistiftbemerkung: »Quatsch! Habe ich nicht geschrieben!« Aber das macht nicht viel aus. In seinem Bestreben, Gönner zu sein, war Hanns Heinz immer ein treuer Kamerad, und er hat mir und vielen anderen über verteufelte Schwierigkeiten hinweggeholfen. Er ist ein Mensch, über den jeder schimpft, wenn er nicht dabei ist, und dessen liebenswürdige Selbstverständlichkeit bei der persönlichen Begegnung sofort jede Verstimmung zerstäubt.

Gegen Ende 1903 lernte ich den damaligen Studenten Johannes Nohl kennen, der gerade von der theologischen zur philosophischen Fakultät hinübergewechselt war. Obwohl erst einundzwanzig Jahre alt, verfügte er über erstaunliche Kenntnisse, besonders auf dem Gebiete der Kultur- und Literaturgeschichte der Romantikerzeit. Er hatte die Werke Jean Pauls nicht nur bis zum letzten Buchstaben gelesen, sondern mit philologischer Genauigkeit vergleichend studiert. Mit seinem ebenmäßig geschnittenen Gesicht, das den Porträts des jungen Hölderlin ähnlich sah, und der außergewöhnlichen Beweglichkeit des Geistes, dem intuitiven kritischen Erfassen einer Dichtung oder einer Persönlichkeit wirkte er durchaus genial. Dabei war er phänomenal leichtsinnig und bis zur Unbedenklichkeit lebenshungrig. Als Hadwiger aus der Wohnung in der Augsburger Straße auszog, übernahm Nohl sein Zimmer, und es wurde jetzt in den Räumen unserer hübschen, dicken Wirtin lebhafter als je zuvor.

Die Reisen, die mich in den folgenden sechs Jahren das Blickfeld erweitern lehrten, fanden meistenteils in Gesellschaft von Johannes Nohl statt. Sie waren reich an Schönem und Bizarrem, an Entbehrung und Fröhlichkeit und an allerverwegensten Abenteuern.


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