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Wer aus Temperament und Beruf, sofern er Beruf und Berufung eins weiß, Leben und Arbeit in den allgemeinen Dienst gestellt hat, muß sich gefallen lassen, sein privates Verhalten der Kritik unterworfen zu sehen, die er selber am Treiben der Gesellschaft übt. Je höher man die Ansprüche an die Moralität der Menschheit erhebt, um so schwieriger wird es sein, alle eigenen Handlungen vor einer ins einzelne eindringenden Prüfung zu rechtfertigen. Wahrscheinlich hielte die individuelle Lebensführung keines Kirchenheiligen und keines Robespierre der genauen Nachforschung jeder Äußerung unter den Gesichtspunkten der eigenen Anforderungen an die Gesamtheit stand. So bleibt es wohl das richtigste, die Zumutungen an die sittliche Festigkeit der Menschheit an den Kräften abzumessen, die dem eigenen Willen zur Verfügung stehen, um die Vorstellung vom rechten Leben zum Antrieb des Wirkens und zum Inhalt des Verkehrs mit anderen Menschen zu machen. Wer jedoch im Dienst an der Allgemeinheit von dem Streben geleitet ist, das Allgemeine von Grund aus zu ändern, der hat, will er seine Erfahrungen und Erlebnisse rückblickend ordnen, nur die Verpflichtung zur Wahrhaftigkeit; er hat auch am wenigsten nötig zu bemänteln und zu beschönigen. Denn er kann für sich den Entlastungsgrund in Anspruch nehmen, der billigerweise allen Zeitgenossen zusteht, daß trübe Weltumstände auch dessen Benehmen und Taten beeinträchtigen, der die Einrichtungen als trüb erkannt hat und die Umstände zu bessern wünscht. Eine gewandelte Gesellschaft wird ja nicht den Charakter eines Menschen, aber die Wirksamkeit jedes Charakters wandeln.
Ich war bemüht, in den zwei Dutzend Bildern, die ich seit fast eineinhalb Jahren an dieser Stelle aus einer vergangenen Kultur in die Erinnerung der Gegenwart projizieren durfte, nur die Wahrheit wiederzugeben. Es ist sinnlos zu lügen, wo hundert Zeugen auftreten können und alle behaupteten Tatsachen von lebendigen Kumpanen oder beweiskräftigen Dokumenten auf ihre Zuverlässigkeit zu untersuchen sind. Dabei würden ohne Frage objektive Irrtümer festzustellen sein, auf deren einzelne, allerdings völlig unwesentliche, ich auch schon in Zuschriften aufmerksam gemacht worden bin; subjektiv Falsches, Aufschneiderei, gewollte Färbung und Entstellung fände sich bestimmt nicht. Andererseits: persönliche Erinnerungen schreiben ist etwas anderes als Geschichte schreiben. Beteiligtes Erleben setzt sich anders im Gedächtnis fest als aus vergleichendem Studium ermitteltes Geschehen. Die Erinnerung kommt aus der persönlichen Beteiligung, nicht aus den Urgründen und der Logik der Ereignisse. Daher kann die reine Wahrheit eines Aussagenden nicht immer übereinstimmen mit der reinen Wirklichkeit; daher bleibt aus solchen Erinnerungen, wie ich sie niedergelegt habe, schließlich auch mehr vom erzählenden Menschen zu sehen als von der erzählten Zeit, und ich muß zufrieden sein, wenn die erzählte Zeit wenigstens in ihrer Tönung und in ihrem Klang von andern empfunden wird.
Es war ein Ausschnitt aus meinem Leben, den ich mir vornahm, aus der Versenkung zu heben, ein Ausschnitt, dessen Ränder zunächst zeitlich umschnitten sind: die Kindheit konnte wegfallen, weil ihr Verlauf ohne Belang für öffentliche Anteilnahme war und weil das Kind seine Umwelt nicht anders beobachtete als andere Kinder auch, der Zeit- und Gesellschaftskritiker in ihm noch schlief und sein Wirkenseifer noch nicht aus der Bahn der überlieferten Tugenden drängte. Was aber nach der geschilderten Zeit folgte, war fast ganz nur die Fortsetzung einer Lebensbestätigung, die hier gewollt, bewußt und oftmals betont unerzählt bleiben sollte. Denn aus dem zeitlichen Ausschnitt meines Lebens nahm ich wiederum nur den Ausschnitt meiner unpolitischen Erinnerungen – und gab doch selbst von ihm bloß einen Ausschnitt. Nicht allein, daß auf ein zusammenhängendes Abrollen der Begebenheiten meines zigeunernden Lebens verzichtet wurde, da es mir wahrhaftig nicht auf chronologische Berichterstattung ankam, sondern auf Beleuchtung von Zuständen, Persönlichkeiten, Kulturerscheinungen einer gerade erst sich in die Vorgeschichte eingliedernden Zeit, – die Schicksale jedes Menschen, auch des in vielerlei Beziehungen vom Gesamtschicksal der Mitwelt bewegten und verpflichteten Zeitgenossen, ziehen ihre Erlebnisse mitbestimmend aus den allerpersönlichsten, vor jedem Hineinblicken Fremder ängstlich geschützten Privatangelegenheiten. Davon Aufhebens zu machen, ist nicht mein Geschmack, und es trifft wohl auch auf das Privatleben zu, was ich hier in der einleitenden Betrachtung über das Schreiben von Memoiren aussprach, daß man nur das erinnernd zusammenfassen möge, womit man fertig ist, was abgeschlossen der Vergangenheit angehört. Darum habe ich es von mir gewiesen, meine politischen Kampferlebnisse in Memoiren abzulagern, weil ich ihre besten noch vor mir zu haben hoffe: darum – und auch weil meine Herzens- und Seelenabenteuer kaum öffentliche Wichtigkeit haben können – sträubt sich mein Gefühl auch, eine Beichte des inneren Menschen auszuarbeiten, weil dieser innere Mensch sich noch lebendig genug fühlt, Persönliches und Verschwiegenes auf sein geselliges und öffentliches Tun einwirken zu lassen, Freude, Schmerz, Ärger, Lust und stille Ironie ganz für sich selber und mindestens unter Ausschluß ungebetener Zeugen mit so viel Anstand in sich zu verarbeiten, wie er nur vor sich selbst verantworten will. Endlich fehlen auch in diesen Erinnerungen völlig die sorgfältig neben dem Lebensweg aufgerichteten Meilensteine der eigenen literarischen Produktion. Aber vom Werden lyrischer Gedichte erzählen, heißt genau so Intimes profanieren wie Liebschaften ausschreien, beides wenn es nicht im bildhaften Ausdruck der Kunst geschieht, so eitel wie unanständig. Und – ja, die literarische Produktivität gehört wie das private Dasein und der öffentliche Kampf doch wohl zu den Obliegenheiten, die mir noch lange nicht memoirenreif zu sein scheinen. Nebenbei: wer von meinem dichterischen Werk Kenntnis erlangen will, kann sie sich auf andere Art als durch Lesen meiner Erinnerungen verschaffen.
So ist also, wenn meine Absicht gelungen sein sollte, einiges Licht gefallen auf einen begrenzten Bezirk nicht gerade öffentlichen, aber das öffentliche Geschehen beeinflussenden Lebens der Vorkriegszeit. Das Verhalten künstlerischer Menschen im Wechselspiel ihrer Beziehung zueinander und zu ihrer Zeit sollte gezeigt werden, und da einer der Ihrigen die Vorführung unternahm, so konnte nur eine autobiographische Arbeit entstehen. Natürlich konnte ich dabei nicht vermeiden, die meinem persönlichen Wesen eigenen Betrachtungen an die mitgeteilten Vorgänge und Gebräuche anzuknüpfen, und es ist mir auch vollkommen klar, daß die hier umgangenen Gebiete meines besonderen Lebenswandels mit mancherlei Vorsprüngen in den Kreis meiner Boheme-Erinnerungen hineinragen. Ein Mensch kann die Nahrung seines Erlebens in sehr verschiedenen Töpfen kochen, schließlich wird doch alles vom selben Organismus verarbeitet und geht in den Blutumlauf eines unzerlegbaren Ganzen ein, und wenn hier auch ein Lebensbild entstanden sein mag, das fast alles Licht aus Vergnüglichkeit und heiterem Fertigwerden mit allem Übel empfängt, so konnte doch nicht alles Übel und gar aller Ernst und strenger Eifer immer im Schatten gehalten bleiben. Oft nämlich geschieht es auch, daß sich in einem bestimmten Gegenstand alle Elemente mischen, die sich sonst auf die getrennten Tätigkeitsgebiete des Geistes und des Kampfes verteilen. Um ein Beispiel zu nennen: das Problem der Erotik. Von den Beziehungen der Geschlechter war selbstverständlich in meinen unpolitischen Erinnerungen in vielen Zusammenhängen die Rede, wenn ich auch eigene Angelegenheiten dieser Art nur manchmal nebenbei gestreift habe. Aber die Formen des Liebeslebens, wie sie die künstlerische Boheme sorglos und um Theoreme unbekümmert in Genießen umsetzt, waren für mich zugleich in zahlreichen Auslassungen Vorwurf dichterischer Behandlung, im persönlichen Erleben Erprobung weltanschaulicher Grundsätze und im öffentlichen Werben Schulbeispiel für die Möglichkeit freiheitlicher Weltgestaltung.
Der einzige tiefgreifende Konflikt, den ich in den langen Jahren unserer Freundschaft mit Gustav Landauer hatte, betraf unsere weit auseinandergehende Auffassung über Ehe, Familie, geschlechtliche Ausschließlichkeit, Eifersucht und Promiskuität, ein Konflikt, der zwar das persönliche Verhältnis zwischen uns nicht lange trüben konnte, sachlich aber nie überbrückt wurde. Landauer sah in der ehelich unterbauten Familie die Voraussetzung der »Ordnung durch Bünde der Freiwilligkeit«, die nach seiner Definition Sinn der von uns beiden erstrebten anarchischen Gesellschaft ist. Ich sah (und sehe) in der Ehe als einer gesellschaftlich geschützten Einrichtung die Wurzel persönlichkeitunterbindenden Zwanges, in der Einschätzung des monogamischen Lebens als Treue die Verfälschung sittlicher Grundbegriffe, in der Anerkennung der geschlechtlichen Eifersucht als berechtigte und zu Ansprüchen berechtigende Empfindung die Förderung schlimmster autoritärer Triebe und in der Gleichsetzung von Liebe und gegenseitiger Überwachung eine die Natur vergewaltigende, tief freiheitswidrige und reaktionären Interessen dienende Sklavenmoral. Wedekinds Fanfaren für eine neue Sexualmoral fanden daher schon sehr frühzeitig in meinem ursprünglichen Empfinden stärksten Widerhall, obwohl der Radikalismus seiner Ideen kaum an die letzten sozialen Folgerungen der Bejahung des polygamischen Lebensrechtes auch der Frauen vortastete. Mehr noch als bei Wedekind fand ich meine Ansichten bei Karl Kraus in Wien bestätigt, in dessen Kreis freilich der revolutionäre Gedanke der Befreiung der Sexualität von jeder moralischen Norm in einer nicht immer vom Verhalten der gefeierten Individuen bestätigten Schwärmerei für die Genialität hetärischer Frauencharaktere verlorenging. Die allgemeinen Aufstellungen der Psychoanalytiker – Dr. Otto Groß – über das Wesen der Eifersucht und den Zwangscharakter der Vaterschaftsfamilie kamen meinen Ideen darüber ganz nahe, ohne sie indessen in ein Gesamtbild künftiger Gesellschaftsgestaltung einzuordnen. Für mich selbst gehörte die Befreiung der Persönlichkeit von den gewaltigen Bindungen des Liebeslebens von jeher als organischer Bestandteil in das Programm der Befreiung der Menschheit von jedem knechtischen Druck, und ich habe das Thema, das ich übrigens schon 1909 in einem »polemischen Schauspiel« dramatisch behandelt habe, in einem Thesenstück, »Die Freivermählten«, erörtert, um sichtbar zu machen, wie eng zusammengehörig in mancher Hinsicht der leidenschaftliche Kampf um neue Lebensgestaltung der ganzen künftigen Menschheit und die natürliche Haltung ihrer Zeit kulturell zuvorkommender Menschen in ihrer geselligen Fröhlichkeit sein kann.
Indem ich jedoch von Dingen spreche, die eigentlich vielleicht schon jenseits der unpolitischen Grenzen hegen, in denen sich meine Betrachtungen bewegen sollten, sehe ich nicht nur, wie unfest diese Grenzen sind, – ich sehe zugleich, wie gründlich sich in den wenigen Jahren, die seit dem Abschluß meiner Bohemezeit verflossen sind, im ethischen Urteil der Mitwelt für unwandelbar gehaltene Maximen erschüttern ließen. Gewiß bilde ich mir nicht ein, unter denen, welche sich an der Hand meiner Erinnerungen in eine noch nahe Vergangenheit zurückführen ließen, um dort etwas abseits der Alltagspromenade Stätten einer gewissermaßen mit der Zukunft experimentierenden Menschenauslese zu besuchen, Proselyten für meine besonderen Weltwünsche gewonnen zu haben. Das hegt meinen nur auf Inventuraufnahme gewisser Erlebnisse bedachten Absichten ja auch um so ferner, als ich meine Bekehrungspredigten von ganz anderen Kanzeln zu halten pflege. Aber ich glaube doch feststellen zu dürfen, daß die mit ganz unkonventioneller Moral gepflasterten Wege, die die Leser mit mir gegangen sind, heute nur noch von verknöcherten Frömmlern und Philistern als schlüpfrige Lasterpfade angesehen werden. Stimmt das, dann käme diese Überwindung von Vorurteilen einer bedeutungsvollen Wandlung des sittlichen Bewußtseins unserer Zeit gegenüber der allgemeinen Denkart gleich, die noch vor fünfzehn Jahren Geltung hatte. Persönlichkeiten vom Range Peter Hilles, der Gräfin Reventlow, Friedrich von Schennis', vieler anderer, von denen hier die Rede war, lebten aus ihren natürlichen Notwendigkeiten heraus in den Formen freiheitlicher Moral; sie gaben sich die Gesetze ihres Verhaltens nach den Bedürfnissen ihres angeborenen Wesens, und das angeborene Wesen künstlerischer Menschen ist, was noch nicht genügend erkannt ist, immer im Einklang mit sozialer Gesamthaltung. Unsozial im Kunstbezirk ist nur der Snob; ich habe unter wirklichen Künstlern und künstlerisch bewegten Zigeunernaturen nicht einen einzigen unsozialen Menschen getroffen.
Soziale Menschen aber wirken mit ihrem Leben, wenn es außerhalb der traditionellen Bahnen läuft, erzieherisch. Wenn wir heute vor Nichtrevolutionären erzählen können, wie es in unseren Kreisen zuging, als diese Kreise der gesitteten Wohlanständigkeit als Schwefelhöllen der Verderbtheit galten, und wenn wir mit unseren Erzählungen nicht mehr tugendsame Entrüstung, sondern verstehende Sympathien wecken, so haben wir beispielgebend gelebt und, bewußt oder nicht, der nächsten Generation vorgemacht, daß es möglich ist, in Verbundenheit frei zu sein, sie damit gemahnt, Zustände zu schaffen, in denen die Freiheit nicht das Vorrecht einiger um ihren Ruf unbesorgter Künstlermenschen zu sein braucht, sondern die Lebensform der Verbundenheit aller Menschen.
Die Zeitspanne, auf der ich mit dem Scheinwerfer der Erinnerung ein paar Lichtkegel spielen ließ, umfaßt knapp zwanzig Jahre. Über zehn Jahre decken die Zeit, die inzwischen Vergangenheit geworden ist. Gerade vier Jahre sind es, seit ich selber wieder aus der Versenkung hervortreten konnte, die mich lange genug vom Mitleben an der Gegenwart abschloß. Allmählich sah ich die Freunde wieder, die mir einst Gefährten gewesen waren, Gefährten im Streben, im Kämpfen, im Fröhlichsein. Manche hatten sich jung erhalten im äußeren Ansehen und waren alt geworden im Herzen; manche traten mir mit weißen Haaren entgegen, die ich als Jünglinge gekannt hatte, und waren nicht gealtert im Denken und Fühlen. Viele, sehr viele traf ich nicht mehr an. Der Tod hält eifrig Ernte unter denen, die mit uns Fünfzigjährigen in einer Linie standen. Ja, in der kurzen Zeit, seit im September 1927 diese Erinnerungen zu erscheinen begannen, hat er sich viele geholt, die hier genannt waren, von deren jedem ich Persönliches noch in Fülle zu erzählen wüßte: Przybyszewski und Harden, M. G. Conrad, Bruno Wille und Fritz Stahl, Felix Dörmann, Klabund, Hugo Salus, Albert Steinrück und ganz kurz hintereinander vier Mitkämpen aus der schönen Zeit der Elf Scharfrichter: Richard Weinhöppel, Hanns von Gumppenberg, Paul Schlesinger und Leo Greiner.
Das Sterben der Gefährten mahnt den Lebenden, zu tun, was seines Werkes ist. Das Werk des Lebenden aber ist, nicht anders beim Vergangenen zu verweilen als schöpfend für Gegenwart und Zukunft. Ich schöpfe aus meinen unpolitischen Erinnerungen, und ich finde in ihnen Freude und Kampf und die Unbefangenheit zu leben, wie es lebendigen Geistern geziemt. War ich früher den wenigen verbündet, die der Menschheit vorausliefen zu einer frohen Welt, so will ich auch den vielen verbündet bleiben, die die Not lehrt, daß eine frohe Welt erkämpft werden muß, eine Welt, in der wieder Freude und Lachen Raum hat, aber nicht als das Vorrecht rebellierender Außenseiter, sondern als Inhalt des Lebens und der befreiten Menschheit.