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Schwabing

Schwabing, habe ich hier früher schon einmal behauptet, ist, wie Montmartre, weniger ein geographischer als ein kultureller Begriff. Äußerlich ein Münchener Stadtteil wie jeder andere, mit Läden, langen Straßen, hohen Wohnhäusern, einzelnen Villenstraßen in den an den Englischen Garten angrenzenden Bezirken und mit sehr gemischter Bevölkerung: reiche Leute, hohe Beamte, Staatspensionäre, Professoren, Studenten, Kleinbürger, viel Arbeiter, und ganz nördlich, wo die Häuser niedrig und spärlich sind, noch durchaus rustikales Ackerbürgertum. Gewisse Partien haben ganz den dörflichen Charakter gewahrt, den Schwabing vor hundert Jahren hatte, als es noch nicht durch eine großstädtische Hauptstraße an München herangebaut, noch nicht von der Residenz als Außenviertel aufgenommen war. Da gibt es noch, rund um eine alte kleine Kirche herum, schiefgestellte, ländliche Häuschen und mit mächtigen Bäumen bestandene Biergärten vor verhutzelten Gastwirtschaften, wo einmal die Münchener Bürgerfamilien bei ihren Sonntagsnachmittagsausflügen den Verderb der guten Sitten am Hofe der Lola Montez beklagt haben mögen.

Dies alles ist nichts, was den Stadtteil Schwabing wesentlich von anderen Städten oder Vororten unterschiede, die, ehedem winzige Bauerngemeinden, von nahegelegenen Metropolen verschluckt wurden und sich deren Ansprüchen nach und nach akklimatisierten. Dennoch ist Schwabing von etwas Besonderem ausgezeichnet, von einer anderen Art Lebensgeist, als er sonst waltet, von einer eigenen seelischen Atmosphäre im Dunstkreis seiner Wohnstätten. Architektonisch kommt das kaum zur Geltung, denn nur einem aufmerksamen Beobachter würde auffallen, wie ungewöhnlich viele Häuser in den eintönigen, von keinerlei Schönheitssinn in den Stadtplan gezeichneten Straßen mit großen, in quadratische Scheiben geordneten Dachfenstern versehen sind. Das sind die Ateliers, in denen sich jener besondere Schwabinger Geist zu Werken der bildenden Kunst in Öl oder Gips zu materialisieren befleißigt. Und es ist doch wohl auch nicht der künstlerische Schaffensfleiß, der die Schwabinger spezifische Atmosphäre schafft; denn es kann nicht geleugnet werden, daß das wichtigste Merkmal dieser Atmosphäre, die Regellosigkeit der Konvention im Verkehr zwischen den Menschen, in deren künstlerischer Produktion den allerschwächsten Ausdruck findet. Ich habe große Künstler gekannt – in München und anderswo –, die in ihren Werken die radikalsten Konventionsverächter waren und in ihrem persönlichen Gebaren alles eher als Schwabinger Typen, und umgekehrt sah ich in Schwabinger Ateliers Bilder und Skulpturen, die sich mit pedantischer Sorgfalt an die akademische Konvention hielten, deren Schöpfer aber in Erscheinung und Lebensführung allen westeuropäischen Gepflogenheiten eine wahrhaft nihilistische Verhöhnung entgegenstellten. Das sind die Gestalten, die den Stadtteil Schwabing zum Kulturbegriff Schwabing machten – Maler, Bildhauer, Dichter, Modelle, Nichtstuer, Philosophen, Religionsstifter, Umstürzler, Erneuerer, Sexualethiker, Psychoanalytiker, Musiker, Architekten, Kunstgewerblerinnen, entlaufene Höhere Töchter, ewige Studenten, Fleißige und Faule, Lebensgierige und Lebensmüde, Wildgelockte und adrett Gescheitelte –, die bei der denkbar größten Verschiedenheit voneinander (einer individuellen Verschiedenheit, die dem juste milieu ganz unbekannt ist) nur verbunden waren durch ihre gleich himmelweite Entfernung von eben diesem juste milieu, vereint waren in einer unsichtbaren Loge des Widerstands gegen die Autorität der herkömmlichen Sitten und des Willens, ihr individuelles Gehaben nicht unter die Norm zu beugen.

Welche lokalen Eigentümlichkeiten Schwabings besondere Eignung zum Zentrum eines sozusagen experimentellen Gesellschaftsindividualismus bewirkten, kann ich nicht feststellen. Doch scheint die Entdeckung Schwabings nicht erst auf den Einzug der Boheme der achtziger Jahre gewartet zu haben, die von dort aus unter Führung Michael Georg Conrads den Sturm durchs Siegestor gegen die Propyläen organisierten, deren Schatten die Villa schützte, wo Paul Heyse in grimmigem Eifer den Hellenismus einer etwas ramponierten Klassizität gegen den Banditismus modernen Geistes verteidigte. Schon vor jenen hundert Jahren, als die Erlesenheit des Münchener Geistes sich in die Verse des Königs Ludwig I. und die Wortwitze des Hoftheater-Indendanturrates Moritz Gottlieb Saphir absetzte, suchte sich ein wirklich großer Geist und dabei einer der absonderlichsten Käuze seiner Zeit schon das damals völlig abgelegene Dorf Schwabing zum Wohnsitz aus: das war der Philosoph der Christologie, der Theosoph Franz von Baader, der täglich nach München hineinspazierte, irgendeinen harmlosen Handwerksmann beim Knopf faßte und ihm seine Fragen über das Gottesbewußtsein oder seine mystische Sozietätswissenschaft vorlegte. Der einfache Verstand des von Wissenschaft unbelasteten Gehirns sollte die Gelehrsamkeit des weisen Mannes regulieren. Welche prachtvolle Vorurteilslosigkeit, welch unzünftlerisches Verfahren, welche echte und beste Schwabingerei!

Dies mag das eigentliche Charakteristikum des Begriffs Schwabing sein, die Unbekümmertheit um das Urteil anderer Leute. Jeder Mensch ist ein Eigener; aber wer es zeigt, heißt anderswo ein Sonderling. Schwabing war eine Massensiedlung von Sonderlingen, und darin liegt seine pädagogische Bedeutung. Schwabings auffällige Minderheit bewirkte bei der unauffälligen Mehrheit, daß sie nicht mehr auffiel. Ja, ganz München gewöhnte sich an das Ungewöhnliche, lernte Toleranz und gönnte der Seltsamkeit ihr Lebensrecht. Jeder, der längere Zeit in München gelebt hat, erinnert sich eines Zigarrenhändlers mit grauem Knebelbart, dessen Haare unter dem Hut hervorstachen, zu einem grauen Zopf geflochten und mit einem Schleifchen zusammengehalten. Der Mann – ich weiß nicht, ob er noch lebt – wohnte selbst gar nicht in Schwabing, aber es war eine Frucht Schwabingscher Erziehung, daß er sich trug, wie es ihm paßte, und eine noch weit schönere Frucht Schwabinger Einflüsse war, daß sich in ganz München kein Mensch über den Frisurindividualismus des Mitbürgers aufregte. Daran, daß sich jemand überhaupt nach ihm umsah, war mit Sicherheit ein Fremder zu erkennen.

Im allgemeinen war die Langhaarigkeit der Schwabinger Männer so wenig wie die Kurzhaarigkeit vieler Schwabinger Frauen – Lotte Pritzel und Emmy Hennings brauchten den Bubikopf nicht erst von der Mode geschnitten zu bekommen – noch die Samtkittel der Schwabinger Maler ein wichtiges Kennzeichen Schwabings. Kennzeichen war nur, daß jeder seine Aufmachung selbst bestimmte, einer von Eitelkeit, ein anderer von Bequemlichkeit, der dritte von Stilgefühl und mancher auch von seinem Schneider beraten. Uniformität gab es höchstens in dem Ästhetenzirkel um Stefan George. Dort trug man hochgeschlossene Westen mit schwarzen Krawattentüchern bis zum Kinn und dünne silberne Ketten, die um den Hals gelegt waren und in einer Westentasche verschwanden. Das gehörte zu der Weihe, zu welcher die Zugehörigkeit zu jenem Kreise verpflichtete; denn so trug sich der Meister selbst, dem Franziska zu Reventlow, »die Gräfin«, respektwidrig den Namen »Weihenstefan« angehängt hatte.

Es wird wohl 1905 gewesen sein, daß ich zum ersten Male einige Zeit angemeldeter Einwohner Münchens und selbstverständlich Schwabings war. Zum Stammlokal wurde das Café Stefanie gewählt, an der Peripherie des Künstlerviertels, im Münchener Quartier latin gelegen. Hier verkehrten massenhaft Maler, Schriftsteller und Genieanwärter jeder Art, auch viele ausländische Künstler, Russen, Ungarn und Balkanslawen, kurz das, was der Münchener Eingeborene in dem Sammelnamen »Schlawiner« zusammenfaßt. Ein Ecktisch war für eine Anzahl Berühmtheiten reserviert, deren einige dem Schachspiel oblagen, andere die Tagesereignisse auf den Gebieten der Literatur, der Kunst und des Theaters erörterten. Dort lernte ich Max Halbe kennen und Max Dauthendey und habe dann jahrelang an dem Ecktisch fast täglich Schach gespielt mit Roda Roda und Gustav Meyrink, mit dem Syndikus der Münchener Kunstakademie Professor Eugen von Stieler und mit dem »Major«, dem Maler und Schriftsteller August von Hoffmann-Bestenhof, einem ehemaligen österreichischen Offizier, mit dem Maler Max Nonnenbruch und vielen anderen. Auch den überaus feinen, klugen und ironischen baltischen Romancier Grafen Eduard Keyserling habe ich dort noch getroffen, bevor er, blind und gelähmt, ganz an den Rollstuhl gefesselt war.

Im eigentlichen Schwabing lag das Café Leopold, wo Albert Langen und seine Mitarbeiter vom »Simplicissimus« ihre Erholung suchten. Da saß Karl Wolfskehl mit den übrigen Jüngern Stefan Georges, und hier kam ich zum erstenmal mit der einzigartigen Frau in Berührung, deren große Persönlichkeit, die sich nur im Milieu Schwabings frei entfalten konnte, allein genügen würde um Schwabings Bedeutung als Kulturbegriff sicherzustellen: der Gräfin Franziska zu Reventlow. Von dieser außerordentlichen Frau, dem innerlich freiesten und natürlichsten Menschen, dem ich begegnet bin gleichmäßig ausgezeichnet von höchstem weiblichen Charme, gepflegtester geistiger Kultur, kritischster Klugheit, anmutigstem Humor und vollkommenster Vorurteilslosigkeit, wird in anderen Zusammenhängen mehr zu sagen sein. Vom Schwabinger Gesamtmilieu aber er hält man ein vortreffliches Bild, wenn man sich mit den wundervollen Buch beschäftigt, das auf über zwölf hundert Seiten die »Gesammelten Werke« der Gräfin (so riefen wir Freunde sie, wenn wir zu ihr sprachen – es lag keinerlei Wertung darin, nur eine Bezeichnung zusammenfaßt. Die Tagebücher – sie brechen 1910 ungefähr da ab, wo meine eigenen Erinnerungen durch seltsame Konspirationen mit den Erlebnissen der Gräfin zusammengeraten – beleben auf jeder Seite Stätten, Namen, Stimmungen und, obwohl bis dahin meine Wege die ihrigen nur flüchtig kreuzten, Situationen, die eine Art familiärer Zusammengehörigkeit Schwabings offenbaren, eine Gemeinsamkeit des Erlebens aller, auch ohne mitwirkende Beteiligung aller. Das köstlichste Bild Schwabings – mindestens eines bestimmten Ausschnittes dieser kulturgeographischen Kuriosität – hat die Gräfin in dem Buch gezeichnet, das den Namen trägt »Herrn Dames Aufzeichnungen oder Begebenheiten aus einem merkwürdigen Stadtteil«. Da lernt man dieses »Wahnmoching« kennen mit seinen Riten und Ekstasen, seinen Verstiegenheiten und seiner Geheimsprache – es ist eine ebenso liebenswürdige wie schonungslose Verhöhnung des reinen Ästhetentums, das sich zufriedengab, wenn es die großen Probleme der Menschheit in ein klingendes Wort und ein genießerisches Seufzen eingefangen hatte. Es gibt noch ein anderes Dokument, das die Geheimnisse der Stefan-George-Gemeinde mit ihrer liturgischen Rhythmik, nur für Eingeweihte verständlich, dem Gelächter Schwabings preisgab: das war eine in fünf hektographierten Nummern erschienene Zeitung, die den Namen führte »Schwabinger Beobachter«; sie kam vor meiner Münchener Zeit heraus – in den Tagebüchern 1904 erwähnt, doch hat die Gräfin sie mir einmal zu lesen gegeben. Die Betroffenen sollen sehr entsetzt gewesen sein, als sie herausbekamen, daß die Haupttäterin die allseits umschwärmte Reventlow war; denn sie hatte das affektierte Getue derart lächerlich gemacht, daß von Weihe und Glorie noch Jahre später einiger Respekt abgebröckelt war.

Ich habe selbst das Weihezeremonial um den Meister herum nie mitgenossen. Persönliche Beziehungen pflegte ich allerdings mit vielen, die zeitweilig mitten dazwischen gesteckt hatten, so mit Friedrich Huch, dem feinen Prosadichter, der leider früh gestorben ist, und dem Graphiker Rolf von Hörschelmann; aus dem engsten Kreis um Stefan George kannte ich nur Karl Wolfskehl näher; erst bedeutend später kam ich auch mit Rainer Maria Rilke in Fühlung.

Ein völlig anderes Schwabing lebte in den Bohemelokalen der Türkenstraße: der »Dichtelei« und dem »Simplicissimus«. Dort traf sich vagabundierendes Künstlertum und an keine Zeremonien gebundene Fröhlichkeit aller Art Außenseiter. In der »Dichtelei« machte ich die Bekanntschaft Frank Wedekinds, und zwar auf nicht ganz salonfähige Art. Wir kannten uns vom Sehen und kamen an verschiedene Tische desselben Lokals zu sitzen. Erst da, wohin der Zufall die Gäste einer Wirtschaft manchmal gleichzeitig hinaustreibt, kamen wir nebeneinander zu stehen, wobei Wedekind mit einer höflichen Verbeugung seinen Namen nannte und ein Gespräch begann, das einen kernigen Spruch Martin Luthers zum Ausgangspunkt nahm. Er lud mich dann an seinen Tisch, wo ich Marya Delvard, Marc Henry und anderen vorgestellt wurde, die ich fast alle schon gesehen hatte und bei denen, wie bei Wedekind selbst, der Übergang zur offiziellen Begrüßung nur noch eine Formalität war. Wahrscheinlich hätte mich jener Abend auch ohne Wedekinds originelle Initiative an seinen Tisch geführt; denn die Gesellschaft wuchs dauernd, und die meisten, die sich noch einfanden, waren bereits meine Bekannten, darunter Scharf, Dauthendey, Hanns von Gumppenberg und diverse Schwabinger Damen. Max Halbe war zu jener Zeit wieder oder noch mit Wedekind verkracht. Daher wurde ich erst viel später zum Besuch seiner Kegelbahn eingeladen. Darüber und über meine langjährige persönliche Verbindung mit Frank Wedekind ist noch zu berichten.

Als die Wirtin der Dichtelei, Kathi Kobus, wenige Häuser entfernt die Künstlerkneipe »Simplicissimus« eröffnete, begleiteten sie die meisten ihrer Stammgäste ins neue Lokal. Viele meiner Münchener Freundschaften hatten hier ihren Ursprung. Die Maler Albert Weisgerber, Max Unold, die Dichter Hans Bötticher (jetzt: Joachim Ringelnatz), Balder Olden und viele andere waren dort regelmäßige Gäste, andere, die ich von Berlin kannte, traf ich dort wieder, so Ferdinand Hardekopf und Emmy Hennings. Ich glaube, dort habe ich auch meinen Freund C. G. von Maaßen zuerst getroffen, den ewigen Herausgeber der großen E. Th. A. Hoffmann-Ausgabe, Bibliophilen, Satiriker und Lebenskünstler, diesen gelehrten Spötter und ironischen Bücherwurm. Unsere Freundschaft, ursprünglich wohl erwachsen auf dem Boden gemeinsamer Freude an Büchern und Bordeauxwein, hat trotz der größten Verschiedenheit unserer Anschauungen standgehalten, über Krieg und Revolution und über die langen Jahre meiner zwangsweisen Entfernung aus der menschlichen Gesellschaft – bis auf den heutigen Tag.

Schwabing! Ich denke an zahllose Stunden der Vergnügtheit, der Besinnung und des künstlerischen Genusses. Ich denke an Faschingnächte von maßloser Ausgelassenheit und an Menschen von seltsamen Gehaben, aber genialer Beweglichkeit des Geistes, so an den Psychiater Dr. Otto Groß, den bedeutendsten Schüler Sigmund Freuds, dem es wohl zu danken ist, daß die Psychoanalyse aus der einseitigen Betrachtung des Lebens von der sexualen Seite herausfand zur Erkenntnis der sozialen Bedingtheit des seelischen Erlebens. Ich denke an die trefflichen Schwabinger Mädchen, die Leben und Liebe vorurteilsfrei und unbefangen zu nehmen und zu geben verstanden. Ich denke an die freie seelische Luft, die Schwabing durchwehte und den Stadtteil zu einem kulturellen Begriff machte. Das ist alles vorbei. Gewisse Ereignisse veranlaßten den Münchener Hofbräubürger Anstoß zu nehmen an den freien Schwabinger Sitten, und er ging ans Ausräumen. Das geschah gründlich; selbst Rainer Maria Rilke wurde ausgewiesen. Jetzt beschäftigt man sich in München mit der Frage, warum das geistige Leben der Stadt anscheinend darniederliege. Ja – warum wohl?


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