Balder Olden
Anbruch der Finsternis
Balder Olden

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Zweites Kapitel

Nach einem langen Spaziergang kehrten die beiden in ihre Hütte zurück, es dämmerte schon, aber dennoch war es früh am Tag, und bis sieben, bis acht Uhr konnten sie einander gehören.

»Ich werde gar nichts schwindeln, wenn Papa fragt, wo wir so lange gewesen sind, nichts von verspäteter Entlassung, von Motorpanne, geplatzten Reifen. Daß ich zu dir gehöre, wissen sie, und daß ich dich einmal nach drei Jahren ein paar Stunden ganz allein haben will, müssen sie verstehen. Ach, überhaupt, dies ewige Lügen, das allen so selbstverständlich ist, daß sie immer nur dann die Wahrheit sagen, wenn ihnen keine passende Lüge einfällt. Eltern und Kinder, Vater und Mutter, Präsidenten und Volkstribunen – alle schwindeln sie einer den anderen an, daß man für sie alle erröten möchte. Das läuft nur so von den Lippen, in den kleinsten Dingen und in den größten. Wenn Mama einen Besuch nicht empfangen will, befiehlt sie dem Mädchen zu lügen, sie sei nicht zu Hause, und wird kein bißchen rot dabei. Wenn ich verschwinden will, in einer 16 ganz natürlichen Angelegenheit, muß ich sagen, ich will mir die Hände waschen, und wenn die Bewegung einen Hieb bekommen hat, daß sie bis ins Fundament davon dröhnt, dann steht am anderen Tag eine Schlagzeile in unseren Blättern: ›Neuer großer Triumph des Führers.‹ Wir zwei wollen das nicht mitmachen, Hans-Heinz, du nicht und ich nicht. Du hast vorhin gelacht, wie ich dir erzählte, daß ich um dein Leben gezittert habe und unglücklich war wie ein Stein, du hast nicht Mitleid geheuchelt, sondern nur gelacht, und das war recht, wenn es auch weh getan hat. Jetzt fangen wir ganz neu an, als wäre heute der erste Tag unseres Lebens. Wir wollen Berserker der Wahrheit sein – nicht nur zueinander, zu allen!«

Sie holte eine Flasche Wein aus dem Freßkober, stellte sie auf den Tisch und sagte:

»Die habe ich gestohlen!«

Sie stellte eine Schachtel Zigaretten, teuere ägyptische Zigaretten, daneben, brach sie auf und sagte:

»Die habe ich heimlich auf Papas Rechnung schreiben lassen.«

Dann rief sie hell lachend:

»Ich muß mir rasch die Hände waschen«, und lief allein noch einmal in den Wald.

Als sie zurückkam, hatte Rümelin die Flasche aufgekorkt, die Aluminiumbecher ausgespült und mit Wein gefüllt.

»Trinken wir auf unseren Bund und auf die Wahrheit!« sagte er. »Auf die echte deutsche Berserker-Wahrheit, die uns rein machen soll, so wahr Hitler unser Führer ist!«

Sie stießen an und leerten ihre Becher, dann saßen sie wieder einander gegenüber auf ihren wackligen Schemeln.

»Jetzt sag mir alles, mein blondes Teutonenmädchen, alles auf einmal, die ganze Hiobspost!«

Er stützte den Kopf in beide Hände, als könnte er so mehr von den Schlägen des Schicksals ertragen, und ebenso stemmte Gerda die Arme auf, aber nur, um die Hände vor die Augen zu legen, als könnte sie sein Gesicht nicht sehen, wenn das Unheil auf ihn wetterte. 17

»Hitler war so weit gekommen, daß er an dem Reichs-Baum nur zu rütteln brauchte, dann fiel die Macht ihm in den Schoß wie ein reifer Apfel. Wir haben immerzu gewählt, zum Reichstag, zu den Landtagen, für die Kommunen, wir haben gewählt wie die Narren, ich glaube, es war fast jeden Sonntag eine Wahl. Und immerzu wuchsen seine Stimmen, als hätte er Drachenzähne gesät und als sprängen jetzt gewappnete Männer aus der Erde hervor. Dies Jahr, 1932, zogen am 31. Juli zweihundertdreißig Parteigenossen in den Reichstag ein, das war viel mehr als ein Drittel aller Abgeordneten, und nur in diesem starken Drittel war ein einheitlicher Wille.«

»Wie schön du jetzt bist, du herrliches Mädel! Solche Mädchen wachsen nur in Deutschland!«

»Alles andere zerfiel in Fraktionen und Fraktiönchen, kaum wert, sie mit der Faust zu einem einzigen Brei zu zerschlagen. Die Sozialdemokraten und die Kommunisten – jeder von ihnen war an sich noch stark, aber zusammen waren sie eine Meute von bellenden Hunden ohne Zähne, denn sie kämpften nur gegeneinander, und eine Partei hob die andere auf. Die Deutschnationalen gingen uns ins Schlepptau und hätten alles mitgemacht, alles, alles.«

»Wirklich, das ist wahr? Du mußt es wissen, du lebst ja in ihrem Hauptquartier.«

»Damals brauchte Hitler nur zuzugreifen, jeden Abend, wenn wir ins Bett gingen, haben wir erwartet, daß er in der Nacht seine Leibgarden auf die Schanzen schickt und daß am Morgen das Hakenkreuz vom Regierungspalais weht. Aber weißt du, wovor er Angst gehabt hat?«

»Hitler – und Angst! Du behauptest –«

»Ja, er hat eine erbärmliche Angst gehabt, daß er einen eingeschriebenen Brief bekommt, in dem steht – ›Sie sind ein lästiger Ausländer und haben binnen vierundzwanzig Stunden das Deutsche Reich zu verlassen.‹ Es ist unfaßbar, Hans-Heinz«, sagte sie ganz leise, als könnte ihr Ton das Entsetzliche mildern. »Er hat nicht losgeschlagen, er hat nicht geputscht, er hat sich zum Regierungsrat in Braunschweig ernennen lassen, 18 in Braunschweig, weil dort schon eine nationalsozialistische Regierung war. Dann hat er den Eid, den Beamteneid, auf die Verfassung abgelegt – er, der die Verfassung immer für einen jüdischen Dreh erklärt hat, für einen Fetzen Papier, den er zerreißen würde.«

»Hör auf, hör auf – bin ich wahnsinnig geworden? Hitler hat die Verfassung beschworen?.. . Dann ist er ja gebunden an Händen und Füßen wie Hindenburg –?«

»Ja! Und dann hat er schon gebettelt und gebeten, Hindenburg solle ihn empfangen, nur eine kurze Audienz, ach, nur ein Viertelstündchen. Im Palais hat er Männchen gemacht und gesagt, bitte geben Sie mir die Macht, Herr Präsident, die ganze Macht, alle Ministerien, lassen Sie mich allein regieren. Ein Revolutionär, Hans-Heinz, der um die Macht bittet, gerade den, dem er sie nehmen will! Der alte Herr hat ihn angebrüllt, wie der Feldwebel einen Rekruten anbrüllt, und Hitler ist hinausgeschlichen wie ein begossener Pudel.«

»Ich verbiete dir –«, grollte es aus Rümelin heraus, »ich verbiete dir, so von dem Führer zu sprechen!«

»So, du verbietest mir . . . Dann denke daran, daß ich dir nur Tatsachen mitteile und daß wir einen Bund geschlossen haben, der die Wahrheit zum Heiligtum unseres Lebens macht.«

Er starrte gequält vor sich hin – sie hatte recht, aber dennoch konnte er das nicht ertragen.

»Es handelt sich um unser Höchstes, um all unsere Ideale, Gerda, drei Jahre unseres Lebens haben wir jeder dafür geopfert, und ich hätte gerne mein Leben dafür gegeben. Jetzt ist mir, wenn du so von dem Führer sprichst, als bekäme ich Peitschenhiebe.«

»Ich will dir nicht wehe tun, Hans-Heinz. Ich verehre ihn immer noch, ich werde ihn immer verehren, auch wenn er selbst im Exil ist, wenn sein Stern untergeht, wenn alle unter die Räder kommen, die an ihn glauben. Er ist ein großer reiner Mensch, ein Prophet, der mit Zungen spricht wie ein Begnadeter. Aber wenn wir klar sehen und weiter hoffen wollen, dann müssen wir auch die Schatten erkennen, wo so viel Licht ist.« 19

Sie sprang auf, als spräche sie zu einer Volksversammlung und sprach doch nur zu dem einen kleinen Leutnant, der ganz zerschmettert auf seinem Schemel kauerte.

»Seine Propagandafahrt vor den Juliwahlen ging durch alle Städte und durch alle Dörfer von Deutschland. – Tag und Nacht im Flugzeug, im Automobil, ruhelos! Mütter haben ihm die Kinder hingehalten, damit er sie segnet, nach seinen Händen, nach seinem Rockzipfel haben die Mädchen gegriffen und ihre Lippen darauf gedrückt, nicht nur die Mädchen, auch die Männer, die alten Männer sogar, die nicht mehr gehofft hatten, ein freies, glückliches Deutschland zu sehen, und es jetzt wieder hofften. Sie haben in den Kirchen für ihn gebetet, es hat Menschen gegeben, die sich vor das Automobil warfen, in dem er saß, um ihr Leben zum Opfer für seine Sache zu bringen. So war es, so war es noch vor ein paar Monaten – wer das gesehen hat, der vergißt es nie!«

»Ganz so habe ich es gesehen, in meiner lausigen Zelle.«

»Wenn er Kranke geheilt und Tote erweckt hätte, es hätte sich niemand gewundert. Wir haben sechs Millionen Arbeitslose im Deutschen Reich und dreißig Millionen Arbeiter, die nicht Margarine aufs Brot und nicht Salz auf die Margarine verdienen, unsere Intellektuellen gehen auf durchgelaufenen Sohlen, der Mittelstand hungert, die jüdischen Bankiers platzen vor Wohlleben, die jüdischen Agitatoren wollen das Volk an die Russen verraten, wollen uns das Deutschtum nehmen – wer kann da helfen, wenn nicht er?«

»So sprich weiter, Gerda, so sprich weiter . . .«

»Aber wenn er plötzlich nicht mehr der alte ist, seine Kraft, sein Mut versagen? . . . Wenn er schlechte Berater hat . . . wenn er fett wird, Fett ansetzt, einen Bauch bekommt . . . was dann? Sollen wir die Augen schließen und die Ohren zustopfen und das alles nicht sehen, nicht wissen wollen? Die Flamme, die er in uns entzündet hat, muß zurückschlagen in seine eigene Glut – dazu sind wir da, dazu unsere Jugend, dazu unser Glaube. Willst du weiter hören?«

»Sag alles . . .« 20

»Ich weiß von Papa, es wissen es nur wenige, aber du kannst mir glauben, daß es Tatsache ist: bei seiner letzten Audienz im Palais hat Hitler verlangt, drei Tage und drei Nächte wollte er die Straße frei haben für seine Bartholomäusnacht. ›Man kann politische Gegner nicht überzeugen, man kann sie nur töten‹, hat er gesagt. Aber weißt du, wie – nicht wie ein Diktator hat er das vorgebracht, sondern wie einer, der petitioniert. ›Ach, bitte, Herr Präsident, erlauben Sie mir, daß ich drei Tage und drei Nächte lang die Straßen von Berlin und all den anderen deutschen Städten unter Blut setze.‹ Hindenburg hat ihn angeschaut wie einen Wahnsinnigen. Dann hat er ihn gejagt, einfach gejagt. ›Wenn Sie je nach der Macht greifen sollten‹, hat er gesagt, ›dann wird es die letzte Tat meines Lebens sein, daß ich mich an die Spitze des Heeres stelle und Sie aus dem Lande treibe.‹ Der Führer stand vor ihm, mit seinem Bauch, zusammengeklappt, ganz devot. Als er hinausging, hat Hindenburg immer noch gekollert. ›Eid und Wort habe ich auf die Verfassung geleistet! Glauben Sie, daß ich mit sechsundachtzig Jahren meineidig werde?‹«

»Es ist wahr, natürlich hat Hindenburg die Verfassung beschworen, ein alter kaiserlicher General . . . ich begreife das alles nicht, Gerda.«

»Und danach kam das mit dem braunschweigischen Geheimrat, da hat Hitler selbst denselben Eid geleistet – und dann kamen am 6. November schon wieder Wahlen, da haben wir von unseren zweihundertdreißig Reichstagsmandaten vierunddreißig verloren. In drei Monaten zwei Millionen vierzigtausend Stimmen verloren! Und seitdem geht es immer weiter bergab. Seine besten Freunde haben nicht mehr an Hitler geglaubt, Gregor Strasser ist abgefallenGregor Strasser (1878–1934), Reichsorganisationsleiter und Reichstagsabgeordneter der NSDAP, galt als Vertreter der »antikapitalistischen Sehnsucht« innerhalb der Partei und war demagogischer Stratege der »nationalen Revolution«. Er entwickelte sich während der Legalitätsetappe Hitlers zum stärksten Rivalen des »Führers«, wurde von Hitler Ende 1932 wegen seiner Verhandlungen mit Schleicher rigoros beiseite geschoben und während der Röhm-Affäre im Juni 1934 umgebracht. – kannst du ermessen, was das heißt, daß Gregor Strasser uns den Rücken gewandt hat? Hitler hat einen Weinkrampf bekommen, mit seinen Nerven ist es vorbei.«

»Bismarck hat auch Weinkrämpfe gehabt. Er beschreibt es selbst, ganz stolz . . .«

»Aber man erzählt sich, daß Hitler nächtelang weint . . . Alle 21 paar Tage kommt eine neue Hiobspost: in irgendeiner Universität sind Wahlen zum Studentenausschuß, und unsere Jungens bekommen keine Stimmen mehr, in Eutin oder sonst einem Dorf wählt man einen neuen Gemeinderat, und die Nazimandate verschwinden. In Nürnberg hat sich ein SA-Sturm selbständig gemacht, eine ganze Formation ist zum Feind übergelaufen!«

»Schweine! Von solchen Schweinen muß die Partei gereinigt werden!«

»Die Kommunisten haben sich erholt, statt neunundachtzig Mann sind sie mit hundert in den Reichstag eingezogen. Sie werden frech, jeden Tag frecher, sie verlangen, daß ihre rote Front»Roter Frontkämpferbund« (RFB); antimilitaristische Wehr- und Schutzorganisation der KPD in der Zeit der Weimarer Republik. 1924 gegründet, entwickelte sich der Bund unter der Leitung von Ernst Thälmann, Edgar André, Ernst Schneller, Hans Jendretzky, Albert Schreiner u. a. zu einer proletarischen Massenorganisation, die etwa 150 000 Mitglieder vereinte. 1929 wurde der RFB in Deutschland mit Ausnahme von Preußen durch den sozialdemokratischen Innenminister Carl Severing verboten. Der anwachsende faschistische Terror zwang die KPD, neue legale Formen des Abwehrkampfes zu suchen. So entstanden Arbeiterwehren, der Kampfbund gegen den Faschismus (1930) und Selbstschutzstaffeln, in denen führende Kader des Roten Frontkämpferbundes aktiv wurden. wieder bewaffnet und erlaubt wird, oder daß auch die anderen bewaffneten Formationen aufgelöst werden, die SA»Sturm-Abteilungen« Hitlers, 1921 gegründet, bis 1934 eine der bedeutendsten Gliederungen der NSDAP. Ursprünglich aus Restverbänden des alten Heeres, aus aufgelösten Freikorps und Einwohnerwehren geschaffen. In ihr sammelte sich der Bodensatz bäuerlicher, kleinbürgerlicher und proletarischer Schichten. Ihre Entwicklung wurde durch Reichswehroffiziere aktiv unterstützt. Die SA praktizierte während der Vorbereitung der faschistischen Diktatur den offenen Terror und Straßenkampf, Überfälle und Morde an klassenbewußten Arbeitern und politisch Andersdenkenden. Sie wurde 1934 nach der Röhm-Affäre entwaffnet und umorganisiert., die SS»Schutz-Staffeln« Hitlers. Hervorgegangen 1925 aus der SA als soziale und politische Elitetruppe der NSDAP; entwickelte sich unter Heinrich Himmler nach 1934 zum einflußreichsten und gefährlichsten Unterdrückungs- und Sicherheitsinstrument des Hitlerfaschismus. In den Jahren 1933–1935 stieg ihre Mitgliederzahl auf 250 000 Mann., der Stahlhelm»Stahlhelm – Bund der Frontsoldaten«; gegründet im November 1918, vor 1930 der bedeutendste militärische Massenverband in der Weimarer Republik. Zu seinen Mitgliedern zählten revanchistische und chauvinistische Kräfte unterschiedlicher politischer Richtungen, darunter Arbeiter und Kleinbürger, die der demagogischen Losung vom »Frontsozialismus« zum Opfer fielen. Das Offizierskorps bestand überwiegend aus ehemaligen Offizieren des alten kaiserlichen Heeres. Trotz seiner vorgeblichen Überparteilichkeit orientierte sich der »Stahlhelm« auf die bürgerlichen Rechtsparteien. 1933 wurden seine wehrfähigen Mitglieder in die SA übernommen; der »Stahlhelm« existierte weiter als militaristischer Traditionsverband. 1934 Umbenennung in »Deutscher Frontkämpferbund«, 1935 Auflösung., der Jungdo»Jungdeutscher Orden« (1920–1933). Aus einem Freikorps hervorgegangener, von der nationalsozialistischen Jugendbewegung beeinflußter militaristischer Wehrverband, der sich eng an die Traditionen des mittelalterlichen Deutschen Ordens anlehnte. Sein Emblem: ein schwarzes Ordenskreuz auf weißem Grund; sein Gruß; »Treudeutsch – allewege!« Der Jungdo propagierte den antisowjetischen Feldzug und den »Drang nach dem Osten«, wobei er aus »abendländischem Selbstverständnis« das deutsch-französische Bündnis forderte. – alles.«

Der junge Leutnant unterbrach nicht mehr. Er stöhnte nur noch, sah Entsetzliches.

»Und vor allem das Geld, Hans-Heinz! Es kommt kein Geld mehr in die Kassen, die Industrie hat ihren Glauben verloren, daß Hitler uns vor dem Bolschewismus schützt. Hitler muß einen Parteistab von dreihunderttausend Mann ernähren, besolden, bekleiden. Wenn ihm einmal das Geld fehlt, laufen sie alle auseinander. Bisher haben ihm alle gegeben, seine Wähler, die Industrie, die Juden, vor allem die Juden. Sie wollten sich freikaufen, die Nacht der langen Messer stand furchtbar drohend vor ihnen – und noch viel mehr Angst als vor dem Dritten Reich hatten sie vor dem Bolschewismus. Aber jetzt haben sie auf einmal gar keine Angst mehr, weder vor dem einen noch vor dem anderen, und knöpfen ihre Taschen zu. So steht es um uns, und das mußt du wissen, wenn du wieder ins Leben zurücktrittst. Du mußt dir furchtbar überlegen, wo du deine Zukunft verankerst, deine Zukunft und meine Zukunft.«

Rümelin hatte den Kragen aufgerissen, er schnappte nach Luft wie einer, der gewürgt wird, unter seinen starken Händen, die er vor die Augen gepreßt hielt, tropften schwere Tränen über den Teller mit Schinken und rotem Kaviar.

Er sprach lange nichts, dann endlich fragte er: 22

»Ich soll mir überlegen – ob ich meiner alten Fahne folge – oder ihr desertiere.«

». . . ob du auf dem untergehenden Schiff bleibst oder versuchst, ein festes Gestade zu erreichen.«

»Und was rätst du mir?«

»Soll ich dir raten, Hans-Heinz?« sagte sie hingebend, »ich bin Studentin, ich habe den Mut, Staatswissenschaften zu studieren, und das sieht aus, als hätte ich sehr viel Selbstbewußtsein. Aber wir Frauen im Dritten Reich – und weißt du, Hans-Heinz, dieses Dritte Reich bleibt auch in unseren Herzen, wenn wir es nie in Wirklichkeit erstehen sehen –, wir Frauen im Dritten Reich wollen demütige Frauen sein. Das ist die tiefste Lehre, die der Führer für uns gehabt hat, für uns hat. Das hat auch ZarathustraGemeint ist Friedrich Nietzsches Werk »Also sprach Zarathustra« (1883–1891). Nietzsches Machtphilosophie wurde von den Nazis für ihre Ideologie des Terrors und Rassismus benutzt. gelehrt: Des Mannes Glück ist, Ich will, des Weibes Glück ist, Er will. Du sollst mein Gebieter sein, Hans-Heinz – wie kann ich dir in der schwersten Stunde der Entscheidung raten?«

 


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