Balder Olden
Anbruch der Finsternis
Balder Olden

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Dreizehntes Kapitel

Das kleine Palais, in dem der PEN-Klub seine Versammlungen und Festabende abhielt, lag am Platz der Republik, dem vornehmsten und stillsten Platz von Berlin, fast gegenüber dem Reichstagsgebäude. Gerda und Hans-Heinz fuhren langsam an dem riesigen Bau vorbei, der schon seit Wochen tot und leer lag. Er wirkte gerade in dieser Stille eines lauen Vorfrühlingsabends wie versteinerte Majestät, seine riesige Kuppel wölbte sich fast in die Wolken, und im Vorbeigleiten lasen sie beim Schein gewaltiger Bogenlampen quer über seine Front die Worte »Dem deutschen Volke«.

»Hättest du auch einmal Lust, da drin einzuziehen?« fragte Gerda.

»Verbindlichsten Dank! Für diese Art Schwatzbuben fehlt mir leider der Sinn. Das Volk will mit Taten geleitet werden und nicht mit Reden.«

Gerda sagte rasch:

»Schon gut, es war nur ein Spaß!«

Dann, als sie den Wagen geparkt hatten und durch einen Vorgarten über knirschenden Kies in das Haus des PEN-Klubs schritten, fragte sie plötzlich:

»Hast du eigentlich Angst vor heute abend?«

»Ein bißchen Angst vor soviel Menschen habe ich eigentlich immer. Aber gerade heute abend?«

»Ich schon, mir ist ein ganz klein bißchen schwindlig. Väterchen Naumann hat zwar gesagt, er wird schon dafür sorgen, daß gar nichts Feierliches passiert, er will mindestens hundert Jahre alt werden, und da sei der sechzigste Geburtstag kein so besonderes Ereignis. Aber trotzdem, stell dir vor, daß jeder 119 zweite Mensch, den wir da drin sehen, eine internationale Berühmtheit ist. Du kennst sie alle aus der Zeitung, du hast ihre Bilder oft gesehen, lauter weltbekannte Dichter, Nobelpreisträger, Mitglieder der Akademie. Und dann kommen natürlich Leute von der Presse, alle mit großen Namen, und dann Leute aus der Politik – ich stelle mir das ganz komisch vor. Lauter Gesichter, die man hundertmal gesehen hat, in allen illustrierten Blättern, daß man sie Zug um Zug kennt. Auf einmal sind sie keine Fotografien mehr, sondern Menschen, die mit uns zusammen essen und trinken und lachen und –«

»Eigentlich muß ich es als eine große Ehre betrachten, daß Herr Naumann mich eingeladen hat?« fragte Hans-Heinz, da stießen sie schon im Garderobenraum auf den fröhlichen Jubilar, seine von schöner Gesundheit strahlende Frau und Yella.

»Junge Gesichter!« sagte Alexander Naumann und schüttelte beiden die Hände. »Ihr müßt an unserem Tisch sitzen, wenn's auch an den anderen Tischen gewiß viel lustiger sein wird. Aber wenn solch ein Tag irgendeinen Sinn haben soll – nur in meinem Fall natürlich, denn ich bin ein bewährter Egoist –, dann muß es der sein, daß ich in viele junge Gesichter sehe!«

Yella hatte sich eben aus dem Pelz geschält, sie trug ein zartes, resedengrünes, ganz einfaches Abendkleid, so einfach, daß es eher ein Sommerkleidchen als eine Festtracht schien. Zum ersten Mal erkannte Rümelin, fast mit Schreck, wie schön dieses Mädchen war, das den Kopf trug, als säße eine Krone darauf, fast so hoch gewachsen wie er selbst und dennoch grazil wie ein Wild.

»Sie werden meine Tochter zu Tisch führen«, sagte Frau Naumann, die ihn immer wieder an die Frau Sonne seiner Kindertage erinnerte, »und Sie müssen sehr aufmerksam gegen sie sein und ihr viele lustige Geschichten erzählen. Mein armer Schatz, heute hat ihr Bräutigam sie verlassen.«

»Zu Befehl, Frau Baronin.«

»Seit dreißig Jahren bin ich Frau Naumann. Darauf bin ich viel stolzer, als ich je auf die Baronin war.«

»Aber links von Ihnen sitzt Ihre Braut«, ergänzte Naumann. 120

»Und um die Ehre, Fräulein Gerdas Tischherr zu sein, hat sich natürlich mein alter Büding beworben.«

Man sah es Yella an, daß sie in diesen Tagen viele, viele Tränen vergossen hatte. Die Würfel ihres Schicksals waren gefallen, sie wußte bestimmt – und hatte es heilig versprochen –, daß sie ihrem Bräutigam in ein paar Wochen oder höchstens Monaten nach Palästina folgen würde. Aber einstweilen ging er doch allein in diese fremde spartanische Welt hinaus, und das tat weh. Zugleich aber bereitete sich für sie der Abschied vor von allem, was ihre Welt bedeutete, von den Eltern, die sich ihr ganzes Leben kaum paar Tage lang von ihr getrennt hatten, von dieser Stadt Berlin, die sie namenlos liebte, von ihrem Dasein als verwöhntes Kind eines zärtlichen Hauses.

Yella war so tapfer! Und so furchtbar stolz auf ihren Vater! Sie war mit allen Tränen fertiggeworden, ihre Augen strahlten, und ihr schweigsamer Mund lächelte. Das Lächeln auf einem traurigen Gesicht machte sie noch schöner.

Wenn die jungen Leute einen Bankettsaal mit großem Glanz, mit einem Bläserkorps, Perlenketten auf den Schultern der Damen, Ordenssternen über den Frackhemden, mit Blumenarrangements und galonierten Dienern erwartet hatten, mußten sie enttäuscht sein. Der kleine Saal, in dem Naumann gefeiert werden sollte, schien eher das Speisezimmer eines kleinen Hotels, nur ein paar Dutzend Herren und Damen standen wartend in einem Vorzimmer, die ihn keineswegs rauschend begrüßten, es gab keinen Tusch, keine Musik, kein Pfropfenknallen. Man setzte sich heiter zu Tisch, der Speisezettel, der bei jedem Gedeck lag, verhieß nur drei einfache Gerichte, die Weinkarte wurde sehr aufmerksam auf der rechten Seite studiert, da, wo die Preise der Rhein- und Moselweine verzeichnet waren. Rümelin war erstaunt, er hatte immer gelesen und geglaubt, daß diese Menschen ein Sybaritenleben führten, trunken vor Größenwahn sich selbst und einander in den Himmel hoben, jetzt war er in die Atmosphäre bescheidener, bürgerlicher Leute geraten. Gerda und er wurden nur an dem Fronttisch selbst vorgestellt, in dessen Mitte Herr und Frau 121 Naumann saßen. Er hörte ein paar Namen, die jedes Kind in Deutschland kannte, Namen, deren Träger schon in jungen Jahren in die Kulturgeschichte ihres Volkes eingegangen waren, und man nahm ihn so herzlich, so formlos kameradschaftlich auf, als wenn gerade hier sein Platz wäre.

Nach dem ersten Gang schlug ein stattlicher Herr mit weißem Haar und rosigem Gesicht ans Glas, der an einem kleinen Tisch in einer entfernten Ecke des Zimmers saß.

»Verehrter Freund Naumann, liebe Kollegen und Kolleginnen!« begann der Mann, dessen Aussprache unverfälscht schwäbisch klang. »Ich bin vom Schutzverband deutscher Schriftsteller, von unserer Gewerkschaft also, beauftragt, in dieser Stunde zu sprechen, als Arbeiter am Wort zu seinen Arbeitskollegen.«

Auch dieses Gesicht kam Rümelin bekannt vor, er wußte nur nicht, wohin er es tun sollte.

»Das ist Völkerbrunn«, flüsterte Yella ihm zu, und bei diesem Namen überlief es den jungen Menschen eiskalt.

»Völkerbrunn!« gab er an Gerda weiter und sah mit Erstaunen, daß sie nicht erschrak, sondern sich nur mit doppelter Aufmerksamkeit, mit weit offenen Augen dem Redner zuwandte.

Wenn es in Deutschland einen Mann gab, den man in beiden Lagern, denen Rümelin angehörte, haßte und verachtete, dann war es dieser Name, Ludwig Völkerbrunn! Er hatte seine Laufbahn als Müllergeselle begonnen, als Gewerkschaftsbeamter und Gewerkschaftsredakteur fortgesetzt, war in die Regierung berufen worden, als 1918 der deutsche Kaiser nach Holland entflohen war. Er war unter den Verantwortlichen, als die deutsche Republik konstituiert wurde, hatte in der Nationalversammlung in Weimar, in der die deutsche Verfassung beschlossen wurde, den Vorsitz geführt, war zuzeiten Minister und Ministerpräsident gewesen.

Ein Novemberverbrecher, dachte Rümelin. KulturbolschewikMit dem demagogisch eingesetzten Schimpfwort »Kulturbolschewist« belegte die Reaktion in der Weimarer Republik alle demokratischen, antimilitaristischen und fortschrittlich gesonnenen Persönlichkeiten des politischen, kulturellen und wissenschaftlichen Lebens, gleich welcher Überzeugung oder Parteizugehörigkeit. (Vgl.: Carl von Ossietzky, Kulturbolschewismus, in: Die Weltbühne, 21. April 1931.), Reichsverderber, einer von denen, die den Dolchstoß von hinten gegen Deutschland geführt haben, Gift, Aussatz, Pest der deutschen Nation! Man hatte ihn mit Vitriol attackiert, mit Bomben und Dolchen auszurotten versucht, wie all das 122 scheußliche Gewürm, wie seine Ministerkollegen Erzberger und Rathenau – aber an ihm waren die Attentate abgeprallt, dem Volke zur Schmach! Jetzt war er alt, aber gar nicht greisenhaft, sehr robust, breitschultrig und von schwerer Gestalt – er sah eher wie ein Gutsbesitzer aus als wie ein Führer des Proletariats.

»Es ist mir eine Freude, eine hohe Ehre«, erzählte der Mann, der vor zehn Jahren noch Ministerpräsident des Deutschen Reiches gewesen war und jetzt wieder als Redakteur einer bescheidenen Zeitung im Dienste seiner Partei stand, »daß gerade ich berufen bin, den verdienstvollsten, wackersten unserer Kollegen in dieser Stunde feiern zu dürfen.«

Rümelin dachte nach – hatte dieser schwerfällige, aber eigentlich sympathische Redner, dieser Mensch mit dem behaglich vollen, heiteren Gesicht, nicht doch irgendein Verdienst, irgendein Plus im Konto seines politischen Lebens?

Er hatte mit unleugbarer Brutalität, mit jener eisernen Brutalität, die die Stunde verlangt hatte, den Kommunistenaufstand niedergeworfen, der 1918 Deutschland bedrohte! Er, der Proletarierführer, hatte den letzten Rest Staatsgewalt, die letzten Maschinengewehre, die letzten Granaten gegen die roten Horden eingesetzt und hier in den Straßen von Berlin Moskau aufs Haupt geschlagen. Dies eine Verdienst mußte der Feind ihm zubilligen.

Während Völkerbrunns Rede, die nicht anders klang, als wäre Naumann ein alter Müller und diese Versammlung die einer Organisation deutscher Müllersknechte, beobachtete Rümelin die Gesichter der Zuhörer. Alexander Naumann mit seiner Erscheinung eines verdienten Balkangenerals, liebenswürdig und martialisch zugleich, sah den Redner an, als wollte er ihn jeden Augenblick unterbrechen, an seine Brust ziehen und ihm sagen:

Alter Freund, ich höre dich gern, aber du solltest von etwas anderem sprechen als von mir. Könntest du nicht einen guten Witz erzählen oder eine Geschichte aus deinen Tagen als reisender Handwerksbursche? 123

Frau Naumann war zweifellos glücklich und dankbar für jedes Wort – sie beseligte jedes Lob, das ihrem Mann galt, gleichgültig, ob dem Künstler, dem unermüdlichen Arbeiter oder dem Organisator. Man sah ihr an, daß sie sich langweilte, schließlich langweilte sich bisher jeder in dieser Gesellschaft, aber sie tat es mit Lust. Diese Viertelstunde fachmännischer Öde war eine Art Opfer für den Jubilar, das man freudig brachte.

Ein paar Herren hatten Bleistift und Papier hervorgezogen, die einen, um mitzuschreiben, weil ein Bericht der Geburtstagsfeier morgen in den Zeitungen stehen sollte, andere sammelten die eigenen Einfälle zu weiteren, schwungvolleren Reden. Da war der monumentale Kopf Heinrich Manns – auch ein Kulturbolschewik, dessen Bücher man aber mit Entzücken lesen konnte –, sein Kopf und seine Hände schienen von einer Schicht Glas überzogen, von der jede Vertraulichkeit abprallen mußte. Er war ein ganz Großer in dieser Versammlung, ein Epiker von epochalem Wuchs, reich an Feinden, unendlich reich an Bewunderern. Sein Lebenswerk mußte für Generationen gelten, neben ihm war auch Naumann nur eine Zeiterscheinung, der beste Handwerker des Witzes, der fröhlichste Spötter seiner Zeit, sonst nichts. Jetzt wollte dieser Unsterbliche, Präsident der Akademie, Säule der Literaturgeschichte eines Jahrhunderts, sich dem heiteren Sterblichen zuwenden, ihm Dank für seine Arbeit sagen, feierlich, weil er nicht unfeierlich sein konnte, aber dennoch brüderlich, ein Gleicher unter Gleichen.

Als Völkerbrunn seinen Toast unter Hochrufen und Gläserklingen geschlossen hatte, wurde der Braten mit Kartoffeln und grünen Bohnen serviert, es entstand notgedrungen eine Pause, denn wenn die Gratulanten jetzt keine Zeit fanden, sich satt zu essen, würden sie den Abend hungrig beschließen.

Die erste Rede hatte schon zu lange gedauert, das bescheidene Essen war ausgekühlt und duftete nicht mehr, auf der Speisekarte stand nur noch »Diverse Compotte«.

»Wie viele Reden wird man halten?« erkundigte sich Rümelin bei Fräulein Naumann. 124

»Mindestens vier Reden sind schon fertig konzipiert, im Namen der Dichterakademie, im Namen des PEN-Klubs, im Namen der Presse, im Namen des Bühnenvereins – und alle werden sie Papa Honig und Schmalz um den Mund schmieren. Aber ich weiß ganz genau, daß er das nicht aushält. Er wird allen einen Strich durch die Rechnung machen, und dann werden sie tüchtig böse auf ihn sein.«

»Macht es ihm wirklich keine Freude, wenn so am sechzigsten Geburtstag alles Verdienst seines Lebens vor ihm aufgehäuft wird?«

»Dazu ist Väterchen leider viel zu jung. Sehen Sie ihn nur an, wie er vor Bosheit strahlt.«

Naumann hatte genau beobachtet, wie das Messer- und Gabelgeklapper schwächer wurde, wie die Diener schon begannen abzuservieren, wie die Rede des Präsidenten der Dichterakademie reif war zu steigen. In diesem Augenblick sprang er selbst auf, sagte: »Liebe Freunde und schöne Frauen! Es ist mir unmöglich, auszudrücken, wie dankbar ich bin, daß ihr alle gekommen seid, denn das muß ich ja als eine Ehre betrachten, ich muß euch allen glauben, daß ihr mich gern habt, ich kann ja gar nicht zweifeln, daß meine Liebe zu euch erwidert wird!«

Er sah bei diesen Worten ganz ergriffen aus und so hinreißend liebenswürdig, als ahnte er gar nicht, daß er all seinen Lobrednern das Konzept verdarb, ihnen die entfalteten Manuskripte voll Würde und Geist aus den Händen riß.

»Ich muß euch wirklich erzählen, wie dieser Tag für mich verlaufen ist, denn ihr interessiert euch ja für mich, ihr seid ja eigentlich hierher gekommen, um euer Interesse für mich zu bekunden! So viel Post wie heute habe ich in meinem ganzen Leben noch nicht gehabt, es haben viele furchtbar gescheite und furchtbar liebenswürdige Menschen über mich geschrieben, daß es mir tüchtig zu Kopf gestiegen ist! All die Zeitungsausschnitte werden natürlich in ein Buch hineingeklebt, und wenn ich einmal alt werde – ich glaube ja nicht daran, aber man behauptet allgemein, daß alle Menschen alt 125 werden, die nicht vorher sterben –, dann werde ich mir an all dem schönen Feuer in diesem Buch die Hände wärmen. Dann habe ich Briefe bekommen, Briefe von ganz merkwürdigen Leuten, denen ich einmal im Leben begegnet bin und die mich heute an irgend etwas erinnern wollen. Da ist zum Beispiel ein Regimentskamerad, den habe ich seit dreißig Jahren nicht gesehen und nie von ihm gehört, der schreibt mir folgendes: Er wisse schon lang, daß er eine meiner Lieblingsfiguren ist und überall in meinen Büchern vorkommt. Besonders habe man ihm erzählt, daß er in meinem Roman ›Alexander Naumanns wunderbare Erlebnisse‹ eine Hauptgestalt sei. Nun lese er zwar im allgemeinen keine Bücher und gäbe auch nicht gerne Geld für dergleichen aus. Aber an diesem, meinem Ehrentage, wolle er eine Ausnahme machen und bäte mich, ihm drei oder vier von meinen Büchern geschenkweise zuzusenden. Im übrigen sei es sein Stolz, daß einer seiner Regimentskameraden, von dem er nie etwas Besonderes erwartet hatte, so berühmt geworden sei, daß es sogar in die Zeitung kommt, wenn er sechzig Jahre alt wird. Dann haben mir zwei Leute geschrieben, daß sie am selben Tag wie ich Geburtstag haben, am 27. Februar, einer von ihnen sogar im selben Jahr. Sie wollen zur Feier dieses merkwürdigen Zusammentreffens weiter nichts als eine Fotografie mit meinem Autogramm.«

So ging es weiter, Naumann plauderte einmal von sich selbst statt von anderen Käuzen, plauderte lustig und pointiert und liebenswürdig. Die komische Figur in all seinen Anekdoten war er diesmal selbst, das war der einzige Unterschied zwischen diesem Jubiläumstag und allen anderen geselligen Tagen des Jahres.

»Aber ich sehe ja, man gibt Ihnen nichts mehr zu essen, weil ich spreche«, unterbrach er sich. »Ich bitte Sie, meine Herren Kellner, servieren Sie doch endlich das Kompott, ein sechzigster Geburtstag ist doch kein Leichenschmaus, und selbst bei einem Leichenschmaus darf man die Gäste nicht hungern lassen!«

Er fing die Beschreibung einer Leichenfeier in Kroatien an, 126 sein Großvater war gestorben, das ganze Dorf im Trauerhaus versammelt, es wurde drei Tage und drei Nächte lang getafelt, und als man auseinanderging, sagten die ehrenfesten Zecher: »Wie schade, daß der alte Naumann nicht mehr dabei ist! Dann wären wir noch lange nicht auseinandergegangen!«

Selbst die standhaftesten Repräsentanten aller Organisationen, denen der Jubilar angehörte, hatten allmählich begriffen, daß sie nach dieser Eskapade die Feierlichkeit nicht wiederherstellen konnten. Schöne schwungvolle Ansprachen, die bestimmt waren, morgen wenigstens auszugsweise in allen Zeitungen Deutschlands zu stehen, wurden von trauernden Herzen versenkt, wohlgegliederte Dispositionen, die schon in der Hand lagen, wurden in die Fracktaschen zurückgeschoben. Die torpedierten Redner sahen mißmutig drein, aber alles andere Volk jubelte und lachte.

»Um eine nicht unbescheidene Ehrung möchte ich dennoch bitten, obwohl ich weiß, daß Ihr Erscheinen schon an sich mehr Ehre bedeutet, als mir zukommt«, setzte Naumann unerwartet an. »Ich möchte einen Kuß bekommen! Es sind hier viele liebe, schöne, freundliche Frauen und Mädchen – ist es unbescheiden, wenn ich Sie bitte, mir zu erlauben, daß ich eine von ihnen ans Herz drücke und damit euch allen meinen Dank und meine Liebe ausspreche?«

»Einstimmig angenommen«, rief es von allen Tischen her. »Sie dürfen wählen, Naumann!«

»Die Wahl ist furchtbar schwer, aber da es nur eine sein darf – liebe Gerda von Reischach, Sie sitzen mir nah und sind meinem Herzen nah, darf ich Sie zu mir bitten?«

Gerda wurde blutrot vor Freude, es fiel ihr gar nicht ein, daß in den Kreisen, in denen sie aufgewachsen, eine solche Zeremonie unmöglich gewesen wäre. Sie sprang auf, lief eilends um den Tisch herum, dann legte Väterchen Naumanns Arm sich um ihre Schultern, dann drückte sich, unter dem Applaus der großen Gesellschaft, sein stachliger Schnurrbart, sein weicher Mund auf ihre Lippen.

Gleich darauf traf man Anstalten aufzubrechen, aber im 127 letzten Augenblick schlug Büding ans Glas und zwang alle Gäste auf ihre Stühle zurück. Was er sprach, in wenig Sätzen – er, den die Welt nur als leidenschaftlichen Ethiker kannte, Verteidiger des Friedens in verbissenem Haß gegen die Kriegerischen, Verteidiger aller Unterdrückten, aller unschuldig Verfolgten, unschuldig in die Netze der Justiz Geratenen –, war so witzig und frohherzig, als hätte er das Leben mit Schwänken und Anekdoten gefüllt wie Naumann.

»Du bist vieler Ränke kundig, mein kluger, alter Freund«, sagte er. »Du hast bei den Weisen und bei den Schelmen des Balkan gelernt und dir listig einen Kuß erobert, den wir dir alle von Herzen mißgönnen. Aber sieh, hinter dem Berg wohnen auch noch Leute, emsige Schüler. Du sitzest da, strahlend vor Besitzerglück, zwischen deiner mädchenhaft blühenden Frau und deiner Tochter, die sich – obgleich an Studiensemestern hoch und nach dem Studentenausdruck schon ein bemoostes Haupt – so fabelhaft rüstig gehalten hat. So bitten wir dich, da du an diesem Tag in diesem Saale zu bestimmen hast: delegiere einen würdigen Knaben aus unserem Kreis, der diese beiden, deine Gattin und deine Tochter, ganz ebenso umarmt und auf den Mund küßt, wie du es eben mit diesem schönen Mädchen getan hast, damit wir dir auf dem gleichen Wege ausdrücken können, durch seinen Mund, wie sehr wir dich lieben!«

Büding war schon sprungbereit, als er diese letzten Worte sprach, er sah aus wie ein beschwingter, junger Student, dem nur ein Zufall ein paar tiefe Runen in die Stirn und auf die Wangen gegraben hatte. Sein Vorschlag wurde von der Versammlung brausend akklamiert, Naumann konnte nur noch sagen:

»Ich bin nicht boshaft genug, um einen anderen als dich zu delegieren.«

Dann stand Büding neben Frau Naumann, neben dieser schönen, herrlich gesunden und gütigen Frau, die wirklich mädchenhaft war. Sie umhalsten einander und küßten sich auf die Wangen, auf den Mund, viel öfter, als das Parlament es bewilligt hatte. 128

»Und nun die Tochter!« verlangte Büding mit offenen Armen.

Yella schritt auf ihn zu, so edel in jeder Bewegung, so zart in ihrem resedagrünen Kleidchen, so sanft und stolz mit ihrem hochgetragenen Haupt! Sie mußte sich zu ihm herabneigen, sie sagte leise: »Du bist mein liebster Freund, Onkel Theo!«, und dann küßten sie sich, dann war Händeklatschen und Händedrücken, man stieß lachend die Weingläser aneinander, und damit schien die Feier zu schließen.

Schon brachen einige Gäste auf, die verhinderten Redner mit ein wenig verdrossenen Gesichtern, die meisten in dem Gefühl, endlich, endlich wieder einmal einen Abend ganz ohne Tageslärm und Tagesgrauen verbracht zu haben, einen Abend wie in den glücklichsten Tagen des Friedens.

»Es gibt bei uns noch Erbsensuppe und ein Glas Champagner, für die standhaften Zinnsoldaten!« gab Frau Naumann bekannt.

Sie sagte es besonders herzlich zu Hans-Heinz, der in diesem Kreise der fremdeste war.

Man rauchte die letzte Zigarette im Stehen, leerte die Mokkaschalen, war im Begriff, diesen unfeierlichen Geburtstag in Naumanns Hause ausgelassen zu beschließen, als plötzlich draußen vor den Fenstern die Hölle los schien.

Die Alarmsignale von Feuerwehr und Überfall-Automobilen dröhnten rasend, die Mauern bebten vom Gewicht vorübertobender, in endlosen Zügen dahinrasender Automobile. Man sprang ans Fenster, riß die Vorhänge auf, riß die Fenster auf. Über der Kuppe des Reichstags war der Himmel schwefelgelb von berghoch lodernden Flammen.

Von dort her, vom Reichstag her, hörte man jetzt bei offenen Fenstern den Höllenlärm eines ungeheuren Brandes, der dem einer Feldschlacht glich. Man hörte das Wabern und Fauchen eines dämonischen Feuermeeres, Mauern brachen dumpf polternd nieder, Holzwerk, das die Flammen in Sekundenzeit fraßen und zerbliesen, knatterte wie Maschinengewehr. Ein Orkan von menschlichen Stimmen schrie in die 129 Nacht hinaus, schrie wortlos, tierisch das Entsetzen, und immer noch gellten die spitzen Hörner, heulten Hupen und Sirenen.

Der Reichstag brannte, und ehe noch ein Wort gesprochen war, in der ersten Sekunde, wußte jeder Mensch in diesem Raum, daß er in Brand gesteckt war. So plötzlich konnte ein tückischer Zufall dieses gewaltigste Bauwerk der Residenz nicht in Flammen werfen, so explosiv entwickelte sich nicht ein Brandherd, der vielleicht lange im Dunkel geschwelt hatte.

Es war ein ungeheures Verbrechen geschehen – wer hatte es begangen, wem galt es, wen sollte es vernichten?

Seit Wochen schon hatte in dieser Stadt alle Kreatur dumpf geahnt, daß ganz Entsetzliches im Anzug war.

Jetzt war es da, jetzt war es da, jetzt war es da!

Menschliche Teufel hatten ins Zentrum von Berlin, hatten ins Herz Deutschlands Flammen gelegt, sie schürten die Flammen, sie entfachten ein Feuerwerk wie einst Nero, als er Rom in Brand steckte, und da blieb kein Zweifel, dieses Feuerwerk war bestimmt, eine Szene zu erleuchten, auf der an Grauenhaftem geschah, was keine Phantasie sich ausmalen konnte.

Münder, die eben noch gelacht hatten, sahen plötzlich aus wie offene Wunden in schimmernd weißen Gesichtern, Augen, die gestrahlt hatten, wurden starr und stumpf wie die Augen Ertrunkener. – Frauen stießen Schreie aus, die niemand hörte, sackten in sich zusammen, lagen in ihren schönsten Festtagskleidern wie Unrat auf Stühlen und Bänken. Männer griffen sich selbst an die Gurgel, fetzten, um nur Luft zu bekommen, ihre Kragen, ihre Hemden auseinander. Aber noch sprach kein Mensch, noch konnte kein Mensch ein Wort formen.

Dann hörte man durch das steinerne Schweigen eine scharfe, junge Stimme:

»In zwanzig Minuten geht unser Schnellzug nach Paris. Kommen Sie mit, Büding!«

Büding sah den jungen Menschen, einen seiner besten Mitarbeiter, mit gänzlich leeren Augen an:

»Paris? Paris?« fragte er. »Im Frack?« 130

»Jetzt sind es nur noch siebzehn Minuten. Kommen Sie mit, Büding?«

Büding antwortete tonlos:

»Ich bleibe an der Front. Und meine Front läuft immer durch Berlin.«

 


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