Balder Olden
Anbruch der Finsternis
Balder Olden

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Vierundzwanzigstes Kapitel

Theo von Büding hatte wieder eine Nacht, es mochte die dreißigste oder vierzigste seit dem Ausbruch des Dritten Reiches sein, in den Tiefen des Grunewalds verbracht. Früher hatte er kleine Gasthöfe besucht, meist in der Nähe eines Bahnhofs, war rasch nach dem Eintreffen eines Fernzugs erschienen und 227 hatte sich als Geschäftsreisender aus der Provinz mit falschem Namen in die Meldeliste eingetragen.

Dann, eines Nachts, hatte der Liftjunge eines dieser Hotels ihn erkannt oder mindestens gewittert, daß dieser Gast ein Verfolgter war.

»Schlafen Sie ruhig, Herr«, hatte der intelligente Bursche gesagt und auf den Hakenkreuzknopf in seinem Rockaufschlag gedeutet. »Ich bin hier im Haus Obmann der nationalsozialistischen Betriebszelle. Solange Sie's mit mir zu tun haben, geschieht Ihnen nichts!«

Er hatte zum längst verpönten Sozialistengruß die Faust geballt und jenes Wort geflüstert, auf das im neuen Deutschland Schlimmeres als der Tod stand, das gehetzte, geschändete, süße Wort »Freiheit«.

War das ein Spion gewesen oder einer von denen, die der Partei nur beigetreten waren, um sie von innen heraus zu zerfressen? Es gab ihrer Zehntausende, Spione sowohl wie verkappte Antirevolutionäre, und Büding hatte sich nicht zu erkennen gegeben. Aber von nun ab hatte er sich unter kein Dach mehr gewagt. In seinem wärmsten Mantel kampierte er irgendwo unter den Bäumen, wühlte sich in trockenes Laub ein, wenn tagsüber die Sonne geschienen hatte, oder barg sich in einem Unterstand für Forstarbeiter, wenn der Frühlingsregen brauste.

Es war auch sachgemäßer, so eine Art Raubtierleben zu führen, nicht nur sicherer, denn seine Geldmittel waren erschöpft. Noch war er an Leben und Freiheit unangetastet, aber dem kalten Pogrom schon preisgegeben, der gegen alle wütete, alle Juden, alle, die sich zur Lehre des Friedens bekannten, alle, die dem Staat gedient hatten, solange er ein Rechtsstaat gewesen. Sie waren zum langsamen Verhungern verurteilt, kein Unternehmer im ganzen Reiche hätte es wagen dürfen, ihnen Arbeit zu geben, aufgelöst waren ihre Geschäfte, gesperrt ihre Konten, annulliert jeder ihrer Verträge. Sie mochten jahrzehntelang Versicherungsbeiträge gezahlt haben – ihre Arbeitslosenrenten, Alters- oder Krankenrenten waren gesperrt. 228 Nicht einmal betteln durften sie, Bettler wurden aufgegriffen und verschwanden, Gott weiß wo in welchem Gefängnis, in welchem Sklavenlager.

Als Büding im hellen Morgenlicht seiner Wohnung zusteuerte – und die Straßen aussahen, als herrschte eitel Friede –, freute er sich auf den heißen Tee, den die letzten ersparten Groschen ihm erlaubten, auf das alte, gute warme Bett, in dem er die Hälfte des Tages verbringen wollte, auf sein bißchen Arbeit und ein paar heimliche Gespräche mit treu gebliebenen Freunden. Dankbar erkannte er, obwohl diese Wolfsnächte an seiner Gesundheit zehrten, daß es für ihn immer noch ein winziges Gutes auf Erden gab – und daß sein Herz nicht verlernt hatte zu hoffen. Stand es nicht furchtbar um das Dritte Reich? Noch konnte es Millionen ausgeben, um Paraden abzuhalten, bei denen Legionen mit klingendem Spiel durch die Straßen marschierten, und Feuerwerke abzubrennen, von denen die Nacht heller wurde als der Tag. Aber der Handel mit dem Ausland schrumpfte von Tag zu Tag, die Umsätze waren auf ein Drittel des Vorjahres gesunken, die ganze Welt hatte sich gegen die neue Barbarei solidarisch erklärt.

Es war undenkbar, daß die Naziregierung sich noch lange behaupten konnte, gegen die Mehrheit der Deutschen, gegen den Abscheu aller zivilisierten Völker, gegen die Kirchen, gegen Gott, nur gestützt auf ein paar hunderttausend Soldknechte.

Sie mußte zusammenbrechen – spätestens, wenn diese bewaffneten Söldner eines Tages nicht bezahlt werden konnten. So lange wollte Büding seinen Posten halten, frieren, hungern, das war nicht das schlimmste Los im Dritten Reich.

Er pirschte sich vorsichtig die Treppen zu seiner Dachwohnung im Westen hinauf, da war nichts, was Verdacht erregen konnte. Nur in den Fahrstuhl wagte er sich nicht mehr, der konnte allzu leicht zum Gefängnis werden.

Vor der Tür, an der noch immer seine Visitenkarte hing, stand Gerda. Sie schien schon lange zu warten, stand an die Mauer gelehnt. Als sie Büding gewahrte, stieß sie fast einen Schrei der Freude aus. 229

»Was für eine liebe Überraschung!«

Er schüttelte ihre Hände, er war so müde, so hungrig und verhetzt, so entnervt, daß er aus Freude über diesen tapferen Besuch beinahe geweint hätte.

»Rasch herein, liebes Fräulein von Reischach, rasch herein in meine sichere Burg! Wir wollen eine Stunde plaudern, als ob Frieden wäre, kein Wort von all dem Greulichen da draußen. Wir wollen uns ans Feuer setzen und tausendfältig uns ergetzen.«

Aber die Türe hatte sich kaum hinter ihnen geschlossen, als Gerda, ohne zu fragen, in Büdings Schlafzimmer eindrang, einen Handkoffer fand und aufriß, aus seinem Schrank ein Paket Wäsche, von seinem Waschtisch Seife und Bürsten in den Koffer warf, als sei sie in diesem Schlafzimmer zu Hause.

»Was fällt Ihnen ein, Gerda . . .?«

Sie zeigte auf ihre Armbanduhr und sagte:

»Fünf Minuten gebe ich Ihnen Zeit! Fünf Minuten lang dürfen Sie zusammensuchen, was Sie vielleicht als Andenken mit sich nehmen wollen. Ich weiß alles, Sie sind erfroren und müde und hungrig, wollen baden, essen, schlafen – aber ich erlaube es Ihnen nicht. In fünf Minuten verlassen Sie die Wohnung, mein Wagen parkt zehn Schritte von hier vor dem Metzgerladen mit dem gelben Zettel am Fenster ›Deutsche, kauft nicht bei Juden!‹ Ich habe das Dach hochgeschlagen, aber die Türe offen gelassen. Sie steigen ein und lehnen sich ganz still in Ihre Ecke. Dann komme ich Ihnen nach, mit diesem Handkoffer – ich habe das Terrain studiert, ich weiß die Stelle, an der Sie über die Grenze gehen. Um zehn Uhr starten wir, Sie schlafen die ganze Fahrt über. Ich habe eine Thermosflasche mit heißem Kaffee an Bord und ein paar Butterbrote. Wir halten nicht ein Mal an, heute abend legen Sie sich in Prag in ein sicheres Bett. So wahr ich Gerda Reischach heiße!«

»Sie wissen, Gerda – ich habe es Ihnen oft gesagt –, daß ich meinen Posten nicht verlasse.«

»Und ich weiß, daß die Hitler-Rede am 1. Mai ein elendes Fiasko gewesen ist. Ich weiß es, aber die Nazis wissen es auch. 230 Es muß eine neue, noch schrecklichere Terrorwelle durch Deutschland gehen, um diesen Eindruck zu verwischen. Das Feuerwerk hat versagt, jetzt kommt wieder der Scheiterhaufen an die Reihe – Brot können sie dem Volk nicht geben, deshalb geben sie Spiele, und eine Massenhinrichtung ist das sicherste Mittel, um die Köpfe wieder zu beschäftigen. Sie stehen hoch oben auf der Liste – kein Mensch hat es mir gesagt, ich habe gar keine Informationen –, aber ich weiß, daß diese Stunde die letzte ist, um Sie zu retten. Die fünf Minuten sind um, gehorchen Sie. Ich bin stark, Sie sind ein zarter, müder, kranker Mann – Sie gehorchen, oder ich zerre Sie mit Gewalt in meinen Wagen!«

»Gewalt . . .« lächelte Büding. »Das ist so in dieser komischen Zeit, selbst Wohltaten werden mit Gewalt verabreicht. Aber – gegen Gewalt gibt es ein ungeheuer starkes, tausendmal erprobtes Mittel, das heißt: leiden! Jeder Märtyrer ist tausendmal stärker als jeder Tyrann.«

»Es ist gut, Herr von Büding!«, sagte Gerda, und zwischen ihren Brauen, auf ihrer hellen Stirn, standen tiefe Falten. »Sie bleiben hier, Sie lassen die letzte Minute verstreichen. Sie lassen sich zur höheren Ehre der Menschheit zum Krüppel schlagen und prügeln, bis Ihr großes schönes Hirn das Hirn eines Idioten ist. Ich kann Sie nicht zwingen, Sie haben recht. Aber glauben Sie nicht, daß ich diese Wohnung verlasse! Ich bleibe hier; ehe man Sie aus dem Bett holt, wird man mir die Kleider vom Leib gerissen haben, und wenn man Sie davonschleppt, werde ich als ihr Liebchen, als Hochverräterin am deutschen Geist, so daliegen, wie Yella dagelegen hat.«

Büding sprach:

»Ich weiche der Gewalt.«

Der alte Ford knatterte an dem Hause vorbei, in dem Naumanns gewohnt hatten.

»Was wird aus Frau Naumann? Was wird aus Yella?« fragte Büding.

»Man wird sie nicht hindern, ins Ausland zu gehen, sobald sie beide transportabel sind. Gottseidank, Herr Naumann war 231 bei einer amerikanischen Gesellschaft versichert, nicht hoch, aber Yella wird studieren und ihre Mutter pflegen können.«

»Und dieser junge Mensch, dieser prachtvolle Junge, mit dem Yella verlobt ist?«

»Der haust noch dort oben in Naumanns Wohnung. Wie ein Uhu sitzt er da, die alte Köchin sorgt ein bißchen für ihn, er hat alle Fenster verhängt und läßt die Sonne nicht in sein Zimmer scheinen.«

Büdings müder Kopf sank nach vorn, er dachte an seinen toten, besten Freund, dachte an diesen jungen Kronfelder, diesen stolzen, athletischen Burschen, dessen höchstes Glück es gewesen wäre, mit seinen tüchtigen Fäusten die Erde Palästinas zu pflügen.

»Halt!« schrie Büding plötzlich. »Kehren Sie um, Gerda, den nehmen wir mit! Der hat tausendmal mehr Recht, zu fliehen, als ich, der läßt keinen Posten im Stich.«

»Aber er ist nicht verfolgt, und Sie sind verfolgt, und jede Minute kann verhängnisvoll sein!«

Büding war unnachgiebig.

»Diesen guten Jungen, diesen tapferen Jungen, den lassen wir nicht im Stich! Stellen Sie sich vor, wie Yella lachen wird, wenn sie weiß, daß er in Prag auf sie wartet! Sie wird ihr schönes, warmes Lachen wieder finden!«

 

»Pg. Rümelin?« rief eine militärische Stimme durchs Telefon.

Rümelin hatte in der Nacht viel getrunken, er brauchte immer größere Quanten Kognak, um einen kurzen, schweren Schlaf zu finden. Er lag noch im Bett, sein Hirn war dumpf und wirr. Wenn er die Augen aufschlug, grinste das Leben ihn an wie die höhnische Fratze Schnierwinds.

»Jawohl, hier Leutnant Rümelin!« antwortete er heiser.

»Hier Büro der Reichskanzlei. Seine Exzellenz, der Herr Reichskanzler, wünscht Sie persönlich zu sprechen. Er hält sich momentan in Potsdam auf, Inspektion der Reichsführerschule. Sie sind dort für einen Posten in Aussicht genommen! 232 Obergauführer von Klein und Sie werden sich um elf Uhr fünfzehn bei dem Führer melden. Von Klein holt Sie in dreißig Minuten in einem Dienstwagen ab. Haben Sie verstanden, in dreißig Minuten?«

»Zu Befehl! In dreißig Minuten.«

Rümelin spülte, soweit es in dieser kurzen Zeit möglich war, die Alkoholdünste aus seinem Kopf, zog die Parteiuniform an, steckte seine Ausweise zu sich. Er dachte über gar nichts nach, es war ihm ganz gleichgültig, welches Amt der Führer ihm anvertrauen wollte, er empfand nichts als Wut, daß man ihn aus dem guten Bett geholt hatte. Als er einen flüchtigen Blick in den Spiegel warf, fiel ihm ein:

Ich sehe so verkommen und so krank aus, nein, nicht krank, sondern so versoffen, daß ich hoffentlich mit Schimpf und Schande aus dem Dienst gejagt werde.

Von Klein saß mürrisch im Fond des Wagens, schien auch einen schlechten Morgen zu haben, er, der immer laute, fröhliche alte Fememörder. Wie bei allen Dienstfahrten saß neben dem Chauffeur, der in Uniform war, den Revolvergurt umgeschnallt, ein zweiter bewaffneter SA-Mann. Sie nahmen Haltung an, als Rümelin in den Wagen stieg, zwei schwere, blonde Kerle mit massigen Rücken.

Es ist gut, daß von Klein auch einen Kater hat, dachte Rümelin, dann brauche ich nicht zu schwätzen.

Sie fuhren los, der prachtvolle Wagen kam im Augenblick geräuschlos auf höchste Tourenzahl, überholte alles andere Fahrzeug.

»Haben wir Zeit für einen schwarzen Kaffee?« fragte Rümelin, dem sein Kater die Kehle beizte.

»Tut mir leid, würde selbst gern . . . Vielleicht in Potsdam. Hatte gestern Panne an der Ölzuführung, zwanzig Minuten Aufenthalt auf offener Strecke. Könnte heute wieder passieren, und Sie wissen ja: fünf Minuten Verspätung, dann ist der Teufel los.«

Wer soll los sein? dachte Rümelin. Nur der Teufel, weiter nichts . . .? 233

Vor einer Kutscherkneipe an der äußersten Peripherie der Stadt bettelte er:

»Eine halbe Minute für ein Glas Bier! Bin durstig wie ein Schwein.«

»Also in Gottes Namen, eine halbe Minute. Aber nicht erst aussteigen, der Kerl soll uns unser Glas Bier herausbringen.«

»Prosit, Fememörder von Klein!«

»Prosit, Rümelin!«

Sie stießen beide ein tiefes »Ach« aus, als sie die Gläser geleert hatten, leckten sich den Schaum von den Lippen. Dann surrte der Wagen mit seiner gespenstisch lautlosen Schnelle wieder davon.

Er schien über jeden Tadel erhaben zu sein, dieser amerikanische Achtzylinder-Wagen, dem man es gewiß nicht an der Wiege gesungen hatte, daß er Dienstauto der SA werden sollte. Häuser und Wälder und Felder flogen vorbei, in der Luft hingen jubelnde Lerchen, der Chauffeur war ein Meister seines Faches, glitt mühelos an einem fahrenden Schnellzug vorbei, aus dessen Fenstern Tücher geschwenkt wurden.

Dann, im einsamen Forst zwischen Wannsee und Potsdam, kaum zwanzig Kilometer vor dem Ziel, kam trotzdem die gefürchtete Panne.

»Verfluchte Schweinerei!«

Der Fememörder bekam einen roten Kopf und hatte vor Wut zitternde Hände.

»Daß so ein Lümmel, der auf der Welt sonst nichts gelernt hat, nicht einmal seine lumpige Karre instand halten kann!«

Rümelin verstand auch etwas von Motoren.

»Der Wagen geht doch wie ein Zeppelin«, sagte er. »Lassen Sie mich mal reinschauen, ich begreife das nicht.«

Er sprang heraus, zog einmal die Brust voll von dem harzigen Waldduft, klappte die Kühlerhaube auf, steckte die Nase tief in den Motor.

»Sie verstehen ja nichts, Rümelin«, knurrte der Fememörder. »Nehmen Sie den Kopf aus der Lotterkiste heraus!«

Rümelin war beleidigt, richtete sich auf, ohne von Klein 234 anzusehen. Von Klein hatte nur gefürchtet, ein Loch in das Blech des Kühlers zu schießen. Jetzt war alles in Ordnung, das Automobil würde keine Spuren zeigen.

Er schoß zweimal hintereinander in Rümelins Hinterkopf, Rümelin gab keinen Laut von sich, lag sofort wie Brei auf dem Boden, so mausetot wie jeder, mit dem von Klein fememörderlich zu tun gehabt hatte. Der Leichnam war nicht zu schwer für drei so kräftige Männer, der Chauffeur und seine Begleiter waren ja geradezu Hünen, von Klein trug die Beine. Sie schleppten Rümelin nur ein paar Schritte weit in den Wald hinein, bedeckten ihn flüchtig mit feuchtem gelben Laub, alles korrekt nach strengem Befehl von höchster Stelle. Es mußte glaubhaft sein, daß Kommunisten den Adjutanten Schnierwinds verschleppt und ermordet hatten. Das würde morgen in der Zeitung stehen. – Die ganze Panne hatte nur fünf Minuten gedauert.

 

Vor einer Tankstelle, ganz nahe der tschechischen Grenze, parkte Gerda ihren Wagen. Von hier ging ein Fußpfad, der nie bewacht wurde, hinüber ins Ausland, hinaus aus dem Zuchthaus Drittes Reich. Sie ging voraus, sie kannte Baum und Strauch, hatte lang und gründlich rekognosziert. Die beiden Männer folgten mit ihren Handkoffern auf zehn Schritte Abstand. Wenn etwas Verdächtiges auftauchte, würde sie das Hakenkreuzfähnchen in ihrer Hand nach rückwärts schwenken, ohne sich umzuwenden.

Aber da war kein Mensch, so weit ihre scharfen Augen spähten, nur Wald, dann Wiese, nur Vogelruf in der Luft. Und von drüben her kam das fromme Läuten einer Kirchenglocke.

Jetzt stand sie schon auf tschechischer Erde, sie bückte sich, nahm eine Handvoll Erde, die sie küßte, hob die Hand hoch in die Luft und warf die heilige Krume von sich.

Diese Bewegung war das Signal zum letzten Sprung, an ihr vorbei jagten Büding und Josef Kronfelder, so emigrierten sie, o Glück, o Glück!

Tausend Meter vor ihnen lag auf einem Hügel das 235 Bauernwirtshaus »Zum goldenen Engel«, in dem sie Rast machen sollten. Dort drüben schon waren sie sicher, eintausend Meter fern der Barbarei.

Gerda sah ihnen mit seligen Augen nach. Dann mußte sie einen weiten Umweg machen, um jene Dörfer nicht wieder allein zu passieren, die sie eben, von zwei Männern begleitet, durchfahren hatte. Es war mehr als eine Stunde Fahrt, ehe sie den »Goldenen Engel« erreichte. Sie gab Gas, als gelte es einen Weltrekord . . .

Im Fahren bemerkte sie, daß zu ihren Füßen Büdings Hut lag. Ein Herrenhut – ob der sie an der Zollgrenze verdächtig machte? Ob sie ihn besser hinaus in die Wiesen schleuderte? Es war ein armer, alter, mürber Filzhut, aber sie gab ihn nicht her.

Als die Zollwächter sie rasch und freundlich abgefertigt hatten, war kaum eine Stunde seit ihrer Trennung von den beiden Flüchtlingen vergangen. Ihr war, als sei es eine Ewigkeit. Sie hatte alles so genau, so bis auf die letzte, winzige Kleinigkeit vorbereitet – und trotzdem konnte Unglück geschehen sein. Wie oft war es schon vorgekommen, daß SA-Banden auf der Jagd nach Flüchtlingen die Grenzen überschritten hatten – als Kopfjäger ins Nachbarland eingefallen waren. Es gab unglückselige Zufälle, ein falscher Schritt auf ebenem Pfad, ein verletztes Knie, und die Flucht war mißglückt.

Gerda streichelte mit der freien Hand Theo von Büdings mürbes altes Filzhütchen, das jetzt auf ihrem Schoß lag. Sie fuhr drauflos, was der Motor nur hergab, und litt rasende Angst, bis sie endlich den »Goldenen Engel« in Sicht hatte und die beiden winkenden Männer erspähte.

Jetzt wußte sie, daß ein Mißlingen dieser Flucht ihr Leben zerstört hätte. Erst während dieser letzten Minuten rasender Fahrt hatte sie erfahren, zu wieviel Qual und Liebe sie fähig war.

 


 


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