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IV.
Die Orgie

Alle Sonntagsgäste waren angelangt. Als sie Marestan erblickten, der Merodach folgte, sahen sie erstaunt einander an. Einen siebzehnten Gast mitzubringen, hätte selbst der Prinz kaum gewagt.

– Sire, Mylady, meine Herren, ich stelle Ihnen meinen Freund Marestan vor, den provenzalischen Dichter, den ich liebe. Ich habe gedacht: damit hier alle vertreten sind, müßte auch ein Reiner dabei sein.

– Den Magiern kann man nichts weigern, erklärte Courtenay; Herr Marestan, Sie gehören zu uns.

Marestan dankte:

– Ich hätte nie gewagt … Merodach hat es gewollt.

– Wollen, das ist seine Wissenschaft, sagte Tisselin.

– Die Ihnen fehlt, Herr von San Casciano! Heute wird das Gute und Böse nicht mehr getan, es wird gesprochen. Die Handlung ist tot.

– Man schreibt zu viel, um zu handeln, bemerkte Beauville.

– Tace, sagte Merodach, ein Buch, eine Freske sind Handlungen, die immer währen, weil sie in tausend Jahren Handlungen bestimmen werden. Plutarch ist der Griff des Messers, das Charlotte Corday führte.

– Ich liebe diese Frau, unterbrach die Nina.

– Ich tadle sie, sagte Pouancé; sie hat das Messer gemein gemacht. Für Marat ist der Stahl zu edel, der Stock zu würdig, der Faustschlag zu ehrenvoll; er verdiente nicht einmal den Hammer des Schinders.

Die Nina, in schwarzem Anzuge, den Kopf geschoren, schien die Diotima Platons zu sein, entweiht von Rops.

– Sie schreiten, wie Salome tanzte, sagte Saint-Méen zu ihr, als sie den Salon verließen.

Der Speisesaal, mit Gobelins bespannt, mit Renaissance-Truhen möbliert, mit Majoliken bedeckt, war fast streng im Aussehen, mit seinen sechzehn Sesseln, die hohe Lehnen hatten, alle gleich waren und durch den neuen Sitz für den siebzehnten Gast noch mehr hervorgehoben wurden.

– Als ersten Gang, sagte Merodach zu Marestan, wirst du den Lumpensammler des pariser Lasters hören.

Iltis hatte in seiner Magerkeit den phonetischen Schwung seines Namens. Gewisse Finger seiner Hand waren spindeldürr wie die der Diplomaten und Spione; die anderen wie ein tätiger Spatel, der ihn beständig eine Brotkugel kneten oder mit seinem Gedeck spielen ließ. Keine Sorge über die Kunst, die Dichtung, das Ende des Menschen und sein eigenes, aber das Talent und die Manie der Beobachtung. Sein Leben verbrachte er damit, das der Andern zu durchstöbern, glücklich, etwas Satanisches und Unsagbares zu entdecken. Flora und Fauna des Bösen waren die einzigen Wissenschaften, um die er sich bemühte. Ohne Vermögen, lebte er behaglich von verschiedenen Mitteln. Zwei Male in der Woche erzählte er alten Wüstlingen etwas Sadistisches und verkaufte den Reportern Auskünfte, ohne auch nur die Anfangsbuchstaben der Personen anzugeben, darin verschwiegen wie ein Priester. Für ihn besonders war das Sonntagsessen ein Glück: jeden Sonntagabend leerte er auf das von Kristallen funkelnde Tischtuch seinen Tragkorb voll Schmutz, den infamsten auswählend. Seine Stimme, von durchdringender Schärfe, klang, als ob Gläser zusammen stießen; und sein Lachen, als zerbreche man Fensterscheiben.

– Nun, Sie Jäger menschlicher Dokumente, haben Sie dieses Mal nichts erlegt?

– Leeren Sie den Tragkorb.

– Er ist immer voll, begann Iltis, so voll, daß ich mich frage, ob die Tugend nicht etwas Naturwidriges ist, der Traum eines religiösen Dichters; ein Kunststück im Moralischen, das einige Seiltänzer von christlicher Vollendung verwirklicht haben, das aber für die Meisten unmöglich ist. Sind nicht Dogma und Moral ein erhabenes Irrenhaus? … Stellen Sie sich einen Propheten vor, einen Papst, der Ihnen sagt: »Seid alle schön!« – »Aber, schreit man, ich habe krumme Beine – ich bin ein Krüppel – mir fehlen die Zähne!« – Der gefühllose Papst wiederholt: »Seid alle schön; ihr werdet es sein, wenn ihr euch der religiösen Orthopädie unterzieht.« – Sie lachen? Aber gebietet nicht die Religion, daß wir Apollos und Venus sein sollen, Apollos der Barmherzigkeit, der Enthaltsamkeit; Venus der Keuschheit, der Güte? … Die seelische Schönheit fordern, ist das nicht ebenso töricht, wie die körperliche fordern? Da ist ein Wüstling, ein Mörder, ein Dieb, ein Gottloser; und man befiehlt ihnen, enthaltsam, barmherzig, uneigennützig, gläubig zu sein. Das ist schön, aber verrückt. Mein Glaubensbekenntnis ist dies: der Mensch hat ein Bedürfnis, Böses zu tun, also hat er ein Recht dazu! Die Seele gestalten, das ist noch weniger möglich, als den Körper formen. Der entartete Geist und die Nase der Roxolane werden bleiben, wie sie sind … Ich untersuche die Tatsachen und ich schließe daraus, daß der Mann, der Tiger, die Frau durchaus nicht verantwortlich sind.

– Das ist ungeheuerlich, rief Marestan.

Merodach hielt ihn mit einem ironischen Worte zurück.

– Du hast hier eindringen wollen: so erdulde die Schande.

– Hören Sie diesen Kursus in der Unmoral, Herr Marestan, sagte die Nina.

– Sie lassen mich weidlich schwitzen, fuhr Iltis fort. Meine Herren, Sie glauben, daß man für die Leidenschaft verantwortlich ist? Hier eine Tatsache! Ein junger Mann, schön, reich, vornehm, verschwindet. Nach zwei Monaten findet man ihn wieder … in einem möblierten Zimmer der Insel Saint-Louis, mit einem Fleischerjungen, der ihn schlägt; und er hat sich nur mit dem Fleischerjungen wieder in seinen Palast zurückbringen lassen.

– Welch schöner naturalistischer Stoff, sagte Ligneuil spottend.

– Das ist kein Laster, sondern eine Krankheit, eine Verletzung des Gehirns, sagte Pouancé.

– Also nicht verantwortlich, rief Iltis. Glauben Sie, daß die Leidenschaften etwas anderes sind als diese krankhaften Fälle? Haben Sie nicht von jenem Hofrat in Wien gehört, der diese Anzeige in eine große Zeitung setzte: »Ein reicher und schöner Ausländer bietet jungen adeligen Mädchen die tollsten Lüste, ohne Gefahr der Schwangerschaft.« Nach drei Tagen ließ die Polizei auf der Post unter der angegebenen Chiffre achtzig Briefe abholen, die von jungen Mädchen mit großen Namen stammten. Waren diese Jungfrauen verantwortlich? …

– Jungfrauen? unterbrach ihn die Nina. Wer die Anzeige versteht, hat Aehnliches schon begangen.

– Die Chaldäer haben sechshundertunddreizehn physische Funktionen gezählt, deren Gleichgewicht zum Leben notwendig sei …, sagte Pouancé.

Iltis unterbrach ihn.

– Ich weiß, wo der Hexensabbat stattfindet. Es sind drei Frauen, zwei vornehme Damen und eine Kabarett-Sängerin, in einem vierten Stock, der mit Glasscheiben versehen und rot bezogen ist … Alle sind nackt und reiten auf Besen; schweigend reiten sie im Kreise herum. In einem Kohlenbecken rauchen Serailkügelchen. Sie stoßen einander der Reihe nach mit dem Arm, tiefer als die Schultern, damit die Quetschungen sie nicht hindern, ausgeschnitten zu erscheinen. Dann kämpfen sie, um sich bis aufs Blut zu kneifen, zu kratzen, zu beißen … Merodach, der den Hexensabbat gesehen hat, wird Ihnen den Rest sagen.

– Den Rest! flehte die Nina.

– Auf Hebräisch, wenn Sie wollen.

Iltis fuhr fort, die Schändlichkeiten der Woche aufzuzählen.

– Sie kennen diese Abenteuerin, Sire, die das Erstaunlichste getan hat, das ich kenne. Seit sechs Jahren hat sie ihren Gatten nicht erhört, der danach wahnsinnig ist, bis zu diesem Grade: er hat die Gnade erlangt, im Ankleideraum zu schlafen; die Betten stehen an derselben Zwischenwand, die nur fünf Zentimeter stark ist. Eines Abends kommt sie mit irgendeinem Menschen nach Hause, in dem sie ihr Ideal für eine Nacht sieht; den Geliebten von zwölf Stunden, wie Cadenet sagt. Sie zwingt ihren Gatten, den Tee mit ihrem Geliebten zu trinken; dann schickt sie ihn fort. Alle drei gehen schlafen. Die Zwischenwand ist so dünn, daß sogar das Atmen zu hören ist! Wo ist der Dichter, der die Nacht des Gatten beschreibt?

– Das ist die Dame mit dem Kopfputz, die du auf dem Ball gesehen hast, sagte Merodach zu dem bestürzten Marestan.

Iltis setzte seine Rolle als Traufröhre fort, die neueste Schande ausspeiend.

– Ein Odenstoff, Saint-Méen, der Reiz der Gotteslästerung, eine besondere Entartung: ein schlechter Dominikaner genießt die Gunst einer Frau; er kommt in Zivil wieder; sie empfängt ihn wie einen Gläubiger; er wundert sich und sie erklärt ihm, daß die Kutte die Sünde kleide.

– Ich stelle mir dieselbe Frau mit einem Ritter vor, der zum Turnier geht, sagte die Nina; das wäre nicht bequem gewesen.

– Nun, Iltis, Sie schweigen? Bessert sich Paris? Vermindert die Qualität der Sünde die Quantität?

– Die ist da; doch hebe ich mir die Koprophagie für den Nachtisch auf.

– Zweiter Gang, erklärte Merodach seinem Freunde Marestan. Jetzt kommt die Politik! Sieh dir diese Figur eines schlechten Erasmus an: das ist Tisselin-Machiavelli.

– Man entflammt das Volk! schloß Beauville auf eine Klage, die der Prinz über die roten Zeitungen hielt.

– Und, bemerkte Pouancé, wie jede Erregung ihren Niederschlag will, überträgt es sein Nervensystem auf den Bau der Gesellschaft.

– Wo ist die Rangordnung, lieber Gott? murmelte Ligneuil Talagrand ins Ohr. Ein Prinz, fast ein König, der kameradschaftlich mit einem Tribunen plaudert.

– Weil dieser Tribun, antwortete Talagrand, der einzige von uns allen ist, der sich für den Prinzen den Hals abschneiden ließe. Höre nur, wie das Wort »Sire« ihm die Lippen versüßt.

– Aber, Sire, sagte Rudenty, Belleville Arbeiterviertel im Nordosten von Paris. ist nur ein Sprungbrett gewesen, um mich zur Macht hinaufzuschwingen; ich habe das Unrecht gehabt, mich für eine Reaktion unmöglich zu machen und …

– Warum, fragte der Prinz, fahren Sie fort, den Leuten Danton vorzusetzen?

– Weil ich Geister beherrschen, führen muß, Massen mit meiner Stimme packen muß. Ich habe noch zu dieser Stunde die zwölfhundert stolzesten Schurken in der Hand, die es von Charonne bis Grenelle gibt: in unruhiger Zeit ist das die Schar für einen kühnen Handstreich; in normaler Zeit habe ich das Recht, zu jeder Stunde am Kanal Saint-Martin Fast 2 km lang überwölbt. spazieren zu gehen. Doch, wer die Buhlerinnen von Ludwig XIV. beklagt, weiß nicht, was ein Buhler des Volkes leidet. Die Macht, das ist mein Verlangen und mein Laster.

– Bei einem König, sagte Quéant, weiß man, wem man zu gefallen und an wen man sich zu halten hat. Da ist nur ein Mann in seinen Neigungen und seinen Lastern zu studieren: man weiß schließlich auf ihm zu spielen wie auf einem wohl temperierten Klavier.

– Wenn ich in Wirklichkeit Sire wäre, fragte der Prinz Rudenty, würde ich Sie also zum Gegner haben?

– Ich, Sire, ich würde meinen Leuten zeigen, ob mein Rücken viel Schatten wirft, wenn ich laufe. Offen gestanden: mein großer Wunsch als Demokrat wäre, Herzog zu sein. Alle Köpfe der anarchistischen Partei verlangen nur in die Rangordnung einzutreten.

– Die Sache des Volkes ist also nicht wert, daß man sie fördert?

– Das Volk ist unglücklich, also interessant; aber ich habe es immer nur als ein Werkzeug angesehen.

– Ich glaube, sagte Courtenay, daß das Volk nichts für sich selbst machen kann. Man muß ihm gegen seinen Willen Gutes tun; es ist ein Kind, das die Macht nicht zu halten versteht; es macht ein Spielzeug daraus, das es zerbricht, oder eine Waffe, mit der es sich verwundet. Guizot Da Guizot als Minister jede Wahlreform ablehnte, rief er die Bewegung von 1848 hervor, die sich zunächst gegen seine Person richtete. hatte recht: Nichts durch das Volk.

– Wer hat die bürgerliche Moral gelesen? fragte Gadagne ironisch.

Ein verächtliches Schweigen entstand.

– Dieser Vivisektor, sprach Merodach, weiß also nicht, daß die ganze Partei der Vergangenheit, die einzige, der die Zukunft gehört, seine Ideen wie Mauern behandeln wird? Wenn der Atheismus mächtig ist, muß man die heilige Liga predigen; und die Zeit ist nahe für das doppelte Kreuz und die katholische Muskete.

– Fronden und Revolutionen, bravo! rief Saint-Méen. Ich liebe die Unordnung in meinem Zimmer, in meinen Ideen, in meinem Lande. Ich bin Anarchist von Temperament! Und Sie, Erlon?

– Ich? Wenn die Gemälde brennen, sehe ich rot.

– Die Kunst ist Ihre ganze Tugend.

– Aber die ist stark!

– Meine Zoten verbergen mir nicht Raffael: ich würde mich töten lassen an einer Tür des Salon Carré. Saal im Louvre, der die Hauptwerke der italienischen Kunst vereinigt.

– Gut gesagt, lobte Merodach. Das Leben der Meisterwerke hat mehr Wert als das der Menschen. Das Meisterwerk beweist die Seele und spiegelt Gott.

– Armes Frankreich! sagte Courtenay auf eine Bemerkung von Mérigneux.

– Oh, begann Tisselin, seit der großen Dummheit von 1870/71 ist man nur weiter in den Sumpf geraten: man hat sich von kleinen Catilinas oder schlechten Journalisten führen lassen. Nichts macht so stagnieren wie die Ehrlichkeit: die Tugenden schlummern, während die Laster handeln … In Politik muß man zuerst die Harmlosen und die Schwätzer, die Menschen mit Grundsätzen und die Menschen mit Pathos, die Pedanten und die Advokaten über Bord werfen …

– Sie sind nicht praktisch, unterbrach ihn der Prinz.

– Ich bin nur das. Ich erlaube keinen Grundsatz … Es gibt persönliche Interessen, die allgemeine Interessen mit sich fortreißen, das ist alles … Rodin Der höllische Jesuit in Sues »Ewigem Juden«, nicht der Bildhauer. ist eine schöne Lehre … Ich habe es Ihnen schon gesagt, Sire: die allgemeinen Interessen existieren nur für die Handbücher des Studenten … Ein Ereignis, das ist ein Mann, oder zwei, oder drei: es verkörpert sich immer. Die einzige Massenverkörperung ist der Eid im Ballhause. Die Abgeordneten des dritten Standes schworen am 20. Juni 1789 im Ballhause von Versailles, fest zusammen zu halten. Nun, Carlyle hat gezeigt, daß man dieses Ereignis in einigen Minuten töten konnte. Die Türen der Marställe der Marie Antoinette standen denen des Ballhauses gegenüber: Kanonen waren in den Höfen! Diese rollen, sie laden, die Konstituante bombardieren, bevor sie konstituiert war: die Revolution wäre gescheitert! Waren nur die Köpfe abgehauen, hatte man Zeit, die Arme abzuhauen … Sechs Nullen, das ist nichts; setzen Sie eins davor, haben Sie eine Million … In der Politik, wie in der Arithmetik, ist die Einheit alles: nehmen Sie die Persönlichkeit fort, findet das Ereignis nicht mehr statt. Was ist das, das erste Kaiserreich? … Bonaparte. Statt Soldaten gegen seine Armee, mußte man Mörder gegen seine Person schicken … Zwanzig Dolchstöße durch die Weltgeschichte … und sie ist geändert.

– Wenden Sie diese Lehre auf 1870 an.

– Sehr einfach … Drei Dolchstöße: Bismarck, Moltke, Wilhelm. Wenn es sich um Revanche handelte, würde ich den Krieg des Meuchelmordes predigen, den einzigen, der weiß, wen er trifft. Karl der Große hatte die heilige Feme eingesetzt.

– Wieviel Meuchelmorde sind in der Geschichte versäumt worden! bemerkte Beauville.

– Der Meuchelmord ist eine Kunst, die man nicht lehrt, die aber gelernt werden kann. Uebrigens, wandte er sich an Pouancé, es liegt mir nichts am Eisen: mir gefällt das Gift …

– Abscheulich! sagte der Prinz einfach.

– Abscheulich: drei Menschen, die dem göttlichen Worte nichts hinzuzufügen haben, in den Hades schicken. Aber ruhmvoll, nicht wahr: vierhunderttausend tapferen Leuten, die unschuldig sind, den Bauch aufschlitzen, zweihunderttausend Müttern den Sohn, zweihunderttausend Frauen den Gatten rauben! Seltsames Gefühl, noch seltsamere Ehre, den Mord Ruhm zu nennen und zu feiern, wenn er im Großen begangen wird. Eine Schlacht, das ist vorher Dummheit, nachher Dreck!

– Haben Sie das preußische Heer in Paris einziehen sehen? fragte Courtenay.

– Ja, und ich habe gedacht, daß drei Dolchstöße es verhindert hätten.

– Oh, welch ein Morden, Tisselin, erklärte die Nina.

Er wurde lebhaft.

– Im Meuchelmord, im Vergiften liegt alles: Geist, Barmherzigkeit, Kunst! Dieser Richelieu jenseits des Rheins, der uns bewacht, muß zuerst weggeräumt werden. Dann muß man die anarchistischen Gärungen, die Deutschland enthält, fördern. Man hat behauptet, Offenbach sei von Preußen ausgesandt worden, um Frankreich zu entmannen. Das schwebt in der Luft, drückt aber gut aus, daß man ein Volk, bevor man es angreift, syphilitisch machen muß, wenn nicht im eigentlichen Sinne, so wenigstens im bildlichen. Wenn man in der barbarischen Zeit einen Häuptling tötete, hatte man nur einen Menschen getötet. Tötet man heute ein Haupt, so hat man alles getötet. Wenn ich einen Kriegsruf ausstoßen müßte, würde es dieser sein: »Zu den Giften! zu den Dolchen!« Und dann würde ich keinen Schrei ausstoßen, ich würde im Geheimen treffen, wie ein Verhängnis.

– Was würden die Menschen dazu sagen? fragte der Prinz.

– Was sie auch sagten, ich würde antworten: Finger Gottes. Wozu diente denn diese geniale Idee der Vorsehung, wenn sie nicht jede Verantwortung, die der höhere Mensch nicht wünscht, auf sich nähme. Nichts Abstraktes für die Politik: ein Ereignis, das ist ein Mann. Beseitigt man den Mann, ist auch das Ereignis beseitigt.

– Wenn das Ereignis zehn Verkörperungen hat wie Wischnu? Um Götter oder Menschen von einem Uebel oder Unheil zu befreien, nahm der indische Gott Wischnu zehn verschiedene Gestalten an.

– Zehn! verkündigte Tisselin, mit seinem Messer die Gebärde machend.

– Ich habe die Geschichtsbücher Tisselins in Händen gehabt: die Ränder sind besäet mit dem Druckerzeichen des Austilgens, dem Monogramm seines Gedankens.

Rudenty flüsterte Talagrand zu:

– Ich will es dem Prinzen nicht sagen, aber der Patriotismus scheint mir ein Vorurteil zu sein. Wie, ich soll auf einen Befehl den Bewohner von Ventimiglia für einen Feind halten? …

– Es ist eine Idee, die dem Staat dient, sagte Talagrand mit foppendem Ernste.

– Der Staat!

Rudenty zuckte mit seinen starken Schultern.

Talagrand lächelte wie eine Katze, der man den Kopf krault.

– Was sagen Sie dort Unanständiges? rief die Nina sie an.

– Rudenty spricht mir von dem Vergnügen, Soldat zu sein.

Der Tribun trat ihm auf den Fuß.

– Du bist dumm, diesen Hasen aufzujagen. Das französische Bild ist farbiger als der deutsche Ausdruck: diese Sache zur Sprache zu bringen.

– Etwas söhnt mich mit meinem Geschlecht aus, erklärte die Nina: daß ich bis zum vierzigsten Jahre kein Sklave bin.

Der Herzog von Nimes erzählte eine abscheuliche Verderbtheit, die er sich unter dem Gelächter der Tafel beilegte.

– Tartüff muß neu geschrieben werden, bemerkte Antar: die Heuchelei der Tugend hat dieser Ungeheuerlichkeit, der Heuchelei des Lasters, Platz gemacht.

– Man wird mir nur glauben, wenn ich vors Schwurgericht komme, rief der Herzog.

– Nicht einmal dann, sagte Quéant: Sie sind zu einem guten Rufe verdammt.

Ich habe meine Vaterlandsliebe in der Kaserne gelassen, sagte Rudenty.

– Oh! rief der Prinz.

– Ich habe eine unauslöschliche Erinnerung an die Untersuchung bewahrt, half Merodach. Von Leuten, die nicht eine Minute meines Denkens wert waren, in meiner ephebischen Nacktheit gesehen, studiert, berührt, befühlt werden …

Das Auge der Nina glänzte.

– Sie, der Mann der Pflicht, Sie empören sich?

– Sire, die Gesetze sind nicht »Das Gesetz«, und dies verlangt niemals die Passivität vom Menschen. Ich sollte den Papst gefangen nehmen oder ein Kloster aufbrechen? Eher stürze der Staat zusammen, als daß ich an einer Gotteslästerung teilnehme.

– Ich bewundere, rief die Nina, daß hier jeder den Strang verdient. Auch unser Benoit Labre, Merodach, hat sich soeben für hängenswert erklärt. Nur Sie allein, Herr Marestan, vertreten noch die Tugend.

Der Provenzale errötete.

– Man ist darauf verfallen, sagte Erlon, daß die Quattrocentisten Talent hatten. Etwa zehn Leute haben sich einen Namen daraus gemacht, dieses Amerika zu entdecken.

– Der Franzose, boshaft geboren, sagte Ligneuil, schuf die Kritik der Kunst, so etwas wie die Fuge. Man nimmt ein Motiv, das heißt ein Bild, und man führt die Variationen des Karnevals von Venedig aus: das Lächeln der Mona Lisa zum Beispiel.

– Sie lächelt mit den Augen.

– Sie scheint Kinder gehabt zu haben, bemerkte die Nina.

– Wahrhaftig, sie hat alles und zu viel gehabt. Heute haben wir alle das Lächeln der Mona Lisa.

– Doch wir sind weit entfernt, von allem zu viel gehabt zu haben, warf Ligneuil ein.

– Mir hat Tabak gefehlt, sagte Talagrand. Sie lächeln. Wenn ich Ihnen sagte, mir hat Brot gefehlt, würden Sie nicht lächeln. Nun, eine Gewohnheit ist schlimmer als ein Bedürfnis: wenn Sie dem Bandwurm nichts zu fressen geben, frißt er Sie auf.

– Und wenn wir, sagte Beauville, durch den Gedanken von allem gehabt haben?

– Die Wirklichkeit ist nicht notwendig für das Gefühl, betonte Gadagne; die Kunst ist unbegrenzt und die Phantasie berührt alles.

– Gewiß, sagte Mérigneux, in einer Stunde wird mir Merodach als gefallener Erzengel erscheinen, und der Prinz als Nebukadnezar, ein Künstler-König. Es heißt in seinem Lobgesang: »Ich habe Tag und Nacht an den Wiederaufbau des Palastes und des Turmes gedacht.« Man weiß nicht, daß Herr Zola ein Kollege der Assyriologen Ledrain und Oppert Ledrain und Oppert leiteten seit 1884 die »Revue d'Assyriologie«. ist. Das selbe Lied enthält dies: »Ich habe der großen Göttin Nana, die meinen Lenden Freude gibt, einen Tempel aus Ziegeln und Erdpech errichtet.«

Merodach plauderte mit Ligneuil.

– Ein denkwürdiger Augenblick im Schicksal der Semiten ist der, als die Kasdim in Babylonien ankommen: sie sind ohne Schwert und halten den Barbaren Stand. Das sind die Magier.

– Da kommt die andere Welt.

– Sie ist dieser wert.

– Sie ist mehr wert, sie ist nicht da.

– Und unser Königreich?

Merodach unterbrach sich, um Talagrand zuzurufen:

– Sie leben von Ihrer Entartung, sieben Franken der Band: Sie stimmen einen Hymnus auf Nero an! Nero, ein Künstler? Gehen Sie! Der Künstler ist der Schöpfer, nicht der Genießer. Nero steht tiefer als ein Tier!

– Renan ist nicht Ihrer Ansicht.

– Die Eigenart Renans ist, keine Ansicht zu haben: er hat die Schaukel der Auslegung erfunden. »Renan, der Badende«, schwebt über den Voraussetzungen. Er pendelt ebenso sehr nach vorwärts, dem Glauben zu, wie er eben nach rückwärts, dem Zweifel zu, gependelt hat. Wenn man das Buch schließt, merkt man, daß man geschaukelt hat, aber literarisch, und darum vergißt man, böse zu werden. Lästern ist edler als dieser widerlich süße Zweifel. Renan ist ein Abtrünniger, der das lateinische Gehirn den deutschen Ideen verraten hat. Ein wahrer Perrinet Leclerc des Wortes, der eine ehrliche Regierung zu diesem Erlaß gezwungen hätte: »Es ist verboten, Schmutz gegen das Evangelium zu werfen.«

– Ich hege keinen so düstern Groll, sagte Gadagne, aber ich weigere diesen Dilettanten der Exegese den Namen von Philosophen, weil sie eine Theogonie wie einen Sorbet schlürfen. In unserer Zeit träumen die Gehirne, schweifen die Ideen, und Renan ist nur der Boulevardier eines höheren Boulevards.

Selbstgespräche bildeten sich, die sich mit dem allgemeinen Gespräch verschmolzen oder sich davon lösten.

– Wir haben alle in Gedanken getötet! …

– Tisselin hat einen Campo Santo für sich ganz allein, und Sie, Doktor?

– Ich, ich habe an meinen Kranken genug.

– Ich habe nicht in Gedanken getötet, sagte die Nina.

– Auch keinen Bojaren oder Lord? fragte Merodach.

Er sah sie etwas erbleichen und flüsterte Marestan zu:

– Sie hat einen Leichnam.

Auf eine Grille des Herzogs von Nimes antwortete Merodach:

– Die Tugend ist auf dem Gebiet der Moral ebenso selten wie das Meisterwerk auf dem Gebiet der Kunst. Aber ebenso wie es mehr mittelmäßige als abscheuliche oder ausgezeichnete Werke gibt, so haben die meisten Leute ein gemäßigtes Laster oder eine gemäßigte Tugend. Der ganz schlechte Mensch ist ebenso selten wie der durchaus gute: bei vielen laufen die Laster und die Tugenden parallel.

– Ja, sagte Marestan, man kann unkeusch sein und doch die Keuschheit bewundern.

– Bei den blutdürstigen Politikern werden Sie immer ein wenig Idylle finden. Nun, die Faser des Guten bei den Bösen, die Faser des Bösen bei den Guten ist der Ariadnefaden, der durch das Labyrinth der Leidenschaft führt. In der Zeit des Verfalls ist niemand einfach, und es gibt keine Uebereinstimmung zwischen Gedanken und Taten. Schlecht denken und gut handeln, gut handeln und schlecht denken, sind in gleicher Weise allgemein.

– Meine Herren, sagte der Prinz, in einiger Zeit werden wir Sardanapal nachbilden können: Marcoux …

– Marcoux, unterbrach ihn Merodach, ist ein Träumer, der Sie durch seinen monarchischen Quietismus verführt hat. Sie werden verlieren, was Sie ihm anvertrauen. Oh, ich halte ihn für rechtschaffen. Da man aber Tisselins Lehre der Vertilgung nicht auf die Rothschilds anwenden kann, so wird das »Neue Frankreich« scheitern, und Sire, ein ruinierter König …

– Ist zum Tode verurteilt, ich weiß es, sagte Courtenay; die Lilien spinnen Franz. Wortspiel: filer und défiler. nicht.

– Sie welken Franz. Wortspiel: filer und défiler., flüsterte Gadagne Beauville zu.

Merodach fiel es auf, daß die Nina über dieses Thema schwieg.

– Ich habe Ihnen meinerseits zu verkünden, daß »Der Gleichgültige« im Februar von der Komischen Oper gespielt wird.

– Darin ist das Laster von Gomorrha, Herr Marestan, sagte Ligneuil.

– Aber, fragte die Nina, warum denn immer Sodom und Gomorrha als Muster des Verbrechens? Was haben denn diese Städte so Schreckliches getan? Ein Beispiel!

– Ein Beispiel? antwortete Ligneuil. Nun, ich blicke Sie an: das Feuer des Himmels ist um nichts Anderes gefallen.

– Oh, Sie sind fürchterlich, rief die Nina lachend.

– Wie wäre es, wenn wir über die Frau plauderten, schlug Talagrand vor.

– Ein Beweis, wie hoch wir stehen, ist, daß uns dieser Gedanke erst so spät gekommen ist.

– Die Frau, sagte Merodach, ist die Wollust, und die Wollust ist für die schon entnervten lateinischen Rassen wie für den Mann des Gedankens der Feind.

– Oh, protestierte Saint-Méen, nicht nur die Frau ist die Wollust.

– Ihre Definition der Frau, Merodach? fragte die Nina.

– Eine Allegorie ist immer eine Frau, ob man nun die Entartung oder den Ackerbau, die Moral oder die Geometrie darstellt. Nun, die Frau ist selbst nur die praktische Allegorie der Begierde. Sie ist die hübscheste Form, die ein Traum annehmen kann. Sie ist das Modell, nach dem ein Dante, ein Ochsentreiber, ein Perückenmacher ihr Ideal formen. Sie ist das einzige Verfahren, dessen sich der Körper bedient, um seine Chimäre zu materialisieren und zu besitzen.

– Die Frau ist mehr als das, Jungfrau und Mutter, sagte der Prinz.

– Die Jungfrau und die Mutter sind göttlicher Art, Sire: zu deren Füßen kann man nie genug Lilien entblättern. Ich habe nur von der Frau gesprochen, die man liebt; von der Geliebten, die im Leben die Stelle der Pflicht einnimmt. Ist sie ergeben, kann sie erhaben sein, indem sie ihre providentielle Rolle als Mond des Mannes übernimmt. Wenn sie ihm aber gleichwerden oder ihn übertreffen will, kurz, ihn für sich in Anspruch nimmt, wird sie verhaßt und verachtet Gott und die Gesetze der Schöpfung.

– Die Pflicht, sagte Beauville, ist persönlich. Sagt Jean Paul nicht, daß die Pflicht des Schriftstellers darin besteht, einen Band jährlich zu schreiben?

– Wahrlich ja, rief Merodach, wenn ich die Pflicht der Kaserne weigere, erfülle ich eine andere, die des göttlichen Wortes.

– Aber, warf Gadagne ein, wenn jeder Richter über seine Pflicht wird, so wird der Sonettendichter finden, daß seine sehr erhabene Pflicht ist, Sonette zu schreiben.

– Er wird recht haben: ein schönes Sonett von Soulary Dichter in Lyon, wo Peladan 1859 geboren wurde. ist ein Ruhmesstrahl für ein Volk. Wer an der Ewigkeit seines Vaterlandes arbeitet, tut mehr, als wenn er dessen Grenzen erweiterte. Frankreich dagegen zu verteidigen, daß es von den Menschen vergessen und von der Zeit ausgelöscht wird, das ist die höchste Art, es zu lieben und ihm zu dienen. Homer, Iktinos und Phidias sind die größten Patrioten Griechenlands, denn sie haben ihm für immer das menschliche Gedächtnis erobert. Das ist die einzige Eroberung, die Frankreichs würdig ist.

– Die Liebe, die moderne Liebe besteht darin, daß sich der christliche Glaube auf das Geschöpf neigt.

– Die Liebe! rief Antar und schwieg.

Er hatte dieses Wort in einem so beißenden Ausruf hinausgeschleudert, daß es Schweigen verursachte. Ein Groll war in seinem Blick zu lesen, der auf seinen Champagnerkelch geheftet war. Ob sie nun die Hölle der Leidenschaft erblickt oder dort hinunter gestiegen waren, alle hatten dasselbe Gefühl: erlittene oder geahnte Leiden: einstimmig erhob sich eine stumme Verwünschung.

– Jeder, der das Unmögliche sucht, erfährt eine Enttäuschung, sagte Quéant. Wir verlangen von derselben Frau Laster und Tugend, Unzucht und Scham. Wir suchen in ihr das Unendliche, und sie kann nur den Taumel geben. Man muß das Gynäzeum In Athen war das Leben der Ehefrau auf die Verwaltung des Hauses, weibliche Handarbeit, die Pflege der Kinder begrenzt; in der Oeffentlichkeit sah man nur die Hetäre. Vgl. Strindberg, Sokrates. und die Hetäre wieder herstellen, sonst fahren unsere Gattinnen fort, Hetären für die Andern zu sein, und unsere Hetären werden uns leider ein gemeines Gynäzeum bereiten.

– Sieh, sagte Merodach zu Marestan.

Die Haltung ließ sich gehen. Man warf sich Ideen an den Kopf, von dem einen Ende des Tisches zum andern, Ideen, die auf gut Glück wie Zettel aus einem Hut gezogen wurden: sie hingen nicht zusammen, sondern das Gehirn eines Jeden war davon besessen. Die scharfen Stimmen perlten Triller, die tiefen hatten Orgelpunkte am Ende der Sätze.

Courtenay hörte zerstreut auf etwas, das ihm die Nina mit kurzem Auflachen erzählte.

– Das ist die schlimmste Orgie, Marestan, die Orgie ohne Frau. Ueber der Unordnung des Tisches siehe die Unordnung der Gedanken. Der Prinz hat große Seiten, aber der Reiz, der ihn an die Nina fesselt, ist wider die Natur. Was sie betrifft, sie ist die angewandte Entartung, bis hin zum Meuchelmord. Der Herzog von Nimes spielt Falstaff und behängt sich mit falschen Lastern, während er der beste Kerl ist, den es gibt. Quéant hat ein besonderes Laster erfunden, das in der verlängerten Erregung besteht. Cadenet hat die immaterielle Kunst, die Musik, unzüchtig gemacht. Antar ist vom Androgyn besessen. Mérigneux lacht nicht und weint nicht im Leben, wie ein Kritiker im Theater: er würde keinen Schritt tun, um ein Verbrechen zu verhindern, und eine gute Handlung begehen, falls sie ihn nicht störte. Iltis würde sich in die Luft sprengen, wenn die Tugend Paris ergriffe; das ist der Mistkäfer des Dunghaufens der Dekadenz: er interessiert sich nur für das Böse, ohne es zu tun. Tisselin, ein Robespierre der Monarchie, fähig, seine Lehre auszuführen. Rudenty, der Südländer im Innern, der den Staat in Brand stecken würde, um auf seinen Ruinen zu herrschen. Erlon, ein Cadenet als Maler, mit dem mildernden Umstand, daß er etwas von Rops hat. Talagrand, dieser blonde Träumer, hängt Schönheiten ersten Ranges zwischen eine Albernheit und eine Schändlichkeit: sieh, er hat sich seinen Strick, das letzte Halsband seiner Geliebten, einer Giftmischerin, um den Hals gelegt. Saint-Méen, der Düstere des Geschlechtstriebes, ein Sadist: er hat die Vergewaltigung in einer Dichtung von dreizehn Gesängen verteidigt. Pouancé ist zu allem fähig, nur nicht, Stickstoff ins Gespräch zu tun. Beauville, ein Atheist, das sagt alles. Gadagne, der sanfteste Zweifler, ein seltener Metaphysiker. Ligneuil, der Autor der »Seltsamen Berufe«. Da kannst du ihn hören.

– Es ist hübsch bei Ihnen, sagte Ligneuil zu der Nina. Sie kennen die Worte: man sieht nicht aus wie ein Wörterbuch, das sich öffnet. Denn die Technik hat mich verdorben: ich bin ein Opfer des passenden Wortes. Wenn ich einige von diesen Napoleons hätte, die man Louisdors nennt, was die Legitimität der Bourbons beweist, nichts würde der geheimen okkulten Kraft meiner Vokabeln gleichkommen. Ich träume die Revanche durch die Sprachneuerung.

Plötzlich rief der Herzog von Nimes:

– Es fehlt hier an Laster!

Ein schallendes Gelächter machte die Runde um den Tisch.

– Er braucht Orgien mit Frauen, Priapusfeste.

– Aber, Herzog, Leute, die zu viel gespeist und alle Sorten Wein getrunken haben, würden, wenn sie neben ausgeschnittenen und etwas wilden Frauen säßen, ihnen bald, wie die Grisetten sagen, »die Hand auf den Busen« legen.

– O hört, das Tier, das Tier mit zwei Rücken! sang die Nina.

– Sie werden immer tugendhaft sein, edler Herzog!

– Tugendhaft sind Sie selbst! Um mir die Entartung zu erhalten, muß ich mich von Ihrem Gespräch absondern.

– Da der Herzog die christliche Vollkommenheit erreichen will, bitten wir ihn um seinen Beichtzettel.

– Setzen wir ein Laster auf den Tisch, sagte Saint-Méen.

– Armes Tischtuch!

– Es wird weiß vor Ihnen sein, Mylady.

– Ich gebe das Kompliment an den Herzog weiter.

Dieser rief:

– Ich schlage eine Prüfung des öffentlichen wie des allgemeinen Gewissens vor, wie es die Trappisten machen, und ich beginne.

– Man knebele ihn! … Morgen würden wir noch zuhören.

Sie waren berauscht, von einem nervösen und hellsichtigen Rausch, und mehr von Ideen als von Weinen.

Diese Idee von der Prüfung des Gewissens gefiel ihnen.

– Man zähle die Laster auf. Die sie haben, werden ihr Messer erheben.

– Das würde den Arm zu sehr ermüden! Wir werden ihn nur erheben, um zu protestieren.

– Merodach ist zum Großinquisitor bei den Sechzehn ernannt, verkündete der Prinz.

Der Magier hatte ein Lächeln ironischer Befriedigung, als er dieses Recht, sie zu peitschen, annahm.

– Sagen Sie die Litaneien der Sünde her …

– Stellen Sie uns in die neun Kreise Dante, Inferno: Federn, Dante, gibt S. 209 Pochhammers Skizze! …

Diese ganze schlechte Gesellschaft belustigte sich sehr.

– Unkeusch seid ihr alle, begann Merodach, die drei Stufen der Sünde Dante entlehnend.

Iltis erhob sein Messer.

– Sie genießen das pariser Laster ganz und gar, ohne die Ermüdung und den Ekel zu empfinden, die den Handlungen folgen.

– Sie sind alle boshaft.

Marestan erhob sein Messer.

– Du, das ist wahr, ich vergaß deine Anwesenheit.

– Ihr seid alle brutal.

Die Nina erhob Einspruch.

– Sie vergessen Ihren Lord, sagte Merodach.

Dieses Mal erbleichte sie noch mehr, als sie sah, dass der Magier den sadistischen Mord an Lord Astor ahnte.

– Folgen wir Dante in die Hölle, in uns selbst. Dieser Orkan von verworrenen Rufen, der einen Samum von Verwünschungen entrollt, das sind die, welche weder das Gute noch das Böse getan haben, die Gleichgültigen, Mérigneux und die Bürger! Die Barmherzigkeit noch die Gerechtigkeit wollen etwas von diesen menschlichen Pflanzen wissen, die in der Ewigkeit Larven sein werden. Sie, Ligneuil, der Sie schreiben, sagen gut, von der Höhe des Buches wie von einer Kanzel, daß die Trägheit die unverzeihliche Sünde ist. Sehen Sie diese Engel, die weder für noch gegen Gott Partei nahmen. Dante, Inferno III, 40:
Der Himmel Schönheit hätten sie getrübt,
auch nimmt die tiefre Hölle sie nicht auf,
weil etwas Ruhm sie den Verdammten brächten.
Sehen Sie diesen König, den Bremsen stechen: statt für sein Recht zu sterben, hat er seinen Verfall mit dem mystischen Mantel bedeckt! Gadagne, Beauville, Sie haben nicht das Recht auf den ersten Kreis, noch auf das Lichtschloß der Heiden, welche die Wahrheit gesucht haben. Dante, Inferno IV, 106. Aber ich sehe Sie alle im Schwindel erregenden Wirbel des Sinnlichen, Sklaven der Geschlechtlichkeit …

– Sie verdammen uns mit einem Vergnügen, unterbrach ihn Courtenay, das mich an diesen Charon des Michelangelo erinnert, der den Verdammten so wütende Ruderschläge gibt.

– Aber, rief Saint-Méen, es gibt Sinnliche außerhalb der Geschlechtlichkeit.

– Die Knabenschänder, sagte Beauville.

– Ich protestiere, sagte der Prinz.

Die Nina lächelte innerlich.

– Ihre Hölle ist altmodisch, warf Rudenty ein.

Merodach fuhr ernst fort, lebhafter werdend.

– Fühlen Sie nicht auf Ihren Schultern den schweren Regen des dritten Kreises Dante, Inferno VI, 7., da Sie aus Ihren Sinnen gefräßige Götzen, schändliche Gaben gemacht haben? Ihre Münder, die zum Gebet geschaffen sind, das erhebt, und zum Wort, das Gott verherrlicht, haben Bockküsse auf infamen Lippen geplündert. Ihre Lippen kennen statt des heiligen Abendmahls nur die entweihte Hostie, Mistkäfer, nur das Wort, das lästert, und den Kuß, der stinkt.

Nach und nach wurde Merodach selbst von dem Schrecken seiner Beschwörung erfaßt, der die sechzehn stumm und erstaunt hielt.

– Sie sind im vierten Kreise, Prinz! Rudenty! Sie alle, die den Eitelkeiten des Ruhmes nachjagen! Die Steckenpferde des Ehrgeizes haben sich in Felsen verwandelt, den Sie auf Ihre Nebenbuhler stoßen, und den Ihre Nebenbuhler auf Sie stoßen!

– Im fünften Kreise, fuhr er fort, erwartet Sie, Quéant! Ligneuil! der stinkende Sumpf. Sie sind nur zornig geworden über die Hindernisse, die sich Ihren Lastern entgegenstellten, nicht über das Böse. Ihr, feige Geister, Willen ohne Mühe, die das Vermögen träge machte, ihr werdet verfaulen in diesem Sumpfe, der nicht so stinkt wie die Fäulnis eures Lebens … Beauville! Pouancé! schlechte Denker der Lästerung, ihr seid gebettet in euere Todeslehren, Gräber, in denen ihr erstickt, verpestet durch euer Wort … Die drei Abgründe der Gewalt fordern Sie, denn sie haben dem Nächsten Gewalt angetan, Saint-Méen! Sie haben sich selbst vergewaltigt, Herzog von Nimes, um Ihren moralischen Sinn zu töten! Sodomiten, ihr lauft lächerlich auf einem brennenden Sande. Gotteslästerer, ihr habt die Tatsache geleugnet: ihr werdet auf Feuer gebettet werden, und ein eisiger Regen wird euer Gesicht erfrieren. Verführer, ihr werdet gegeißelt werden! Schmeichler, ihr werdet in die Traufe eurer Worte versenkt! Zauberer, ihr habt den Namen Jehovas verkehrt geschrieben: ihr werdet ewig rückwärts schreiten! Verleumder, der Aussatz eurer Reden wird sich an eure Haut heften und dort scheußlich blühen!

– Blendwerk! rief Beauville gereizt. Das Böse trägt die Welt auf seinen schwarzen Flügeln; das Böse ist der planetarische Mittelpunkt des Menschen, dessen Anziehungskraft unbesiegbar ist. Das Böse ist Gott, weil es herrscht! Das Böse ist Gott, weil es allmächtig ist! Das Böse ist Gott, weil es unbestraft ist!

Ein tiefes Schweigen stimmte dieser wilden Lästerung zu, und alle Augen richteten sich auf Merodach. Der erhob sich, wie ein Medusenhaupt, und sprach mit strenger Stimme, wie ein Seher die falschen Propheten vernichtend.

– Im Namen der Magie, welche die Wissenschaft von den Gesetzen der Seele ist, sage ich Ihnen dies: die Gerechtigkeit beherrscht die Welt, nichts bleibt unbestraft, denn die Hölle ist in dem Verbrecher. Seien Sie darüber Richter! Beauville, ist die Lästerung nicht eine Erstickung des Geistes? Warum dieses beständige Runzeln der Brauen, dieses schmerzliche Verziehen der Lippen? Wollen Sie mir sagen, daß Ihr Gedanke friedlich und daß Sie glücklich sind? Herunter die Maske! Ihre Verneinungen quälen Sie: ich fordere Sie heraus, es zu leugnen! … Gadagne, warum ist Ihr Studium der Philosophen so fieberhaft, daß Sie von einem Buche zum andern eilen? Und diese Traurigkeit des Blickes: ist das die Festlichkeit Ihrer Seele, die hindurchscheint? Sie haben gegen sich, über sich die Tradition, das Wort aller Jahrhunderte, das Sie verdammt … Ligneuil, suchen Sie nicht die Zoten Ihres Werkes heim? Sie waren kein Wüstling, bevor Sie Ihre Bücher schrieben: diese haben die Moral an Ihnen gerächt … Antar, Sie wissen, was Besessenheit ist: das Phantom des Androgyn verfolgt Sie … Rudenty, Ihr ehrgeiziger Egoismus zerfrißt Sie! Sie glauben an das Glück der Egoisten: das Glück gehört nur den Ergebenen … Tisselin, bringen die Gedankenmorde niemals blutende Halluzinationen hervor? … Erlon, sagen Sie uns Ihre erotischen Alpträume … Cadenet, sagen Sie uns, ob Sie nicht eine Beute der schlechten Begierden sind, die bei Ihrer Faunmusik aufquellen? … Quéant, wie bezahlt sich die Erfindung eines Lasters? … Saint-Méen, Talagrand, leugnen Sie die trübe Langeweile Ihres schlechten Lebens? … Herzog von Nimes, ist es Ergötzen, sich zum Bösen zu zwingen? … Mérigneux, finden Sie die Ruhe, die Sie suchen? … Iltis, Sie haben mir gestanden, daß Ihr krankhafter Beobachtungswahn Ihnen das Nervensystem in Aufruhr bringt … Sie selbst, Mylady, sehen Sie nie ein Gespenst? … Ach, ich möchte nicht euer Höllenleben haben, Krotoniaten: ihr habt etwas von euch selbst in den Rachen eines Lasters versenkt. Ihr werdet an diesem Laster sterben, nicht eines Tages, sondern alle Tage eines vielleicht langen Lebens! Unverletzbar schließt das metaphysische Gesetz euch ein, und kein Mensch entgeht ihm. Ihr schmeichelt euch, den Gewissensbiß getötet zu haben: aber, Unwissende, der Gewissensbiß ist eine physische Tatsache. Wie, Vernünftler, Gott hätte auf das körperliche Vergehen die Strafe der Krankheit gesetzt und das Verbrechen des Geistes ohne Züchtigung gelassen? Ich verkünde euch: die Besessenheit ist das göttliche Gesetz, das Gott rächt, und ihr seid alle Besessene, Teufel!

– Wenn Sie wenigstens »wir« sagten, rief der Prinz.

– Ich, rief Merodach, habe am Wort des Bösen Gefallen gefunden: deshalb werde ich vielleicht dahin kommen, es zu tun!

Ein furchtbares »Amen« brach los.

– Der Kaffee ist serviert, sagte die Nina und erhob sich.


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