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1.
Im Drömlinger Walde

Drei Husarenpferde schlichen schläfrig und schlaff in der Mittagssonne der Frühlingsmitte durch den Staub des weichen Sommerweges der Landstraße. Kaum hoben die drei müden braunen Tiere die Hufe, denn sie hatten einen frühen und langen Ritt hinter sich; tief wühlten sie die von vielen Sonnentagen getrocknete Erde auf, und der feine, weißgraue Staub stieg in hoch und niedrig wogenden Wolken auf. Dicht lag er überall auf dem braunen Pferdehaar, das durch den weißen Schweiß hier und da zu Strähnen Zusammengeklebt war, dicht lag er auf den Stiefeln und aus den schwarzen Husarenjacken mit gelben Schnüren, auf den Bärenmützen mit dem Totenkopfe, deren heißer Druck die sonnenbraunen und bestaubten Gesichter der Reiter von feuchtem Schweiß erglänzen ließ. Träge und glanzlos hingen die Säbel an den Sätteln, und nachlässig und gleichgültig ruhten die Stahllanzen mit den blaugelben Fähnchen in den schwarzen Faustriemen.

Die drei Husaren schliefen fast, auch der Einjährig-Gefreite Westphal, der die Patrouille führte. Sonst gehörte er durchaus nicht zu den Schläfern, aber heute konnte er nicht mit vollem Erfolg gegen den Schlaf ankämpfen. Nach einer durchzechten Nacht früh mit dem ersten Morgenglänzen zu einer Felddienstübung ausrücken – da mochte der Teufel wach bleiben!

Da war der Husar Wilhelm Peggau, der als letzter der drei ritt, der kleinste und dickste der ganzen Schwadron, ganz anders geartet; dem war das Schlafen, soweit es irgend anging, zur wichtigsten Daseinsform geworden, und er brachte es in seiner göttlichen Ruhe fertig, bei den wütendsten Flüchen seines eifrigen Wachtmeisters mit offenen Augen und völlig dienstlichem Gesichte zu schlafen. Jetzt hing er mit unendlicher Ruhe auf seinem Pferde und träumte von Knackwurst, hart gekochten Eiern und einem mäßigen Kruge kühlen Bieres; denn sein Durst war auch im Schlafe groß.

Das müde Pferd des Gefreiten stolperte über einen halbverborgenen Stein im Wege, und der Reiter schreckte auf von dem harten Klange und dem Ruck. In dummem Unmute riß er an den Zügeln und fluchte:

»Verdammte, schlafmützige Kuh!«

Er war munter geworden und sah sich nach den beiden andern um.

»Himmelkreuz, es wird Zeit, daß wir weiter kommen! Siedentopf, Peggau! Knochen zusammen!«

Pferde und Reiter wachten auf. Munterer wurden die Bewegungen, dichter und höher die Staubwolken.

Vom goldblauen Himmel schickte die hohe, fröhliche Sonne ein helles, glänzendes Lachen herab auf den kleinen, schweißtriefenden Trupp, den der Weg jetzt durch einen frischen Laubwald führte, unter dessen hellgrünen Blättern, in zartem Grase und altem trocknem Laube weich gebettet, der müde Mittag schlummerte. Kein Vogel sang, um seine heilige Ruhe nicht zu stören, kaum, daß ein leise und lose flatterndes Blatt, von irgend einem Hauche wer weiß woher getrieben, schüchtern in seine Träume flüsterte.

Keine Quelle redet oder regt sich laut, kein Tier bewegt sich und kein Baum, wenn der schöne, ernste Mittag ruhig und müde im Walde schläft. Die Sonne hütet mit schützenden, warmen Liebesaugen seinen Schlaf.

Auch die fünf oder sechs Arbeitsleute auf der Waldwiese, der sich die Husaren jetzt näherten, feierten und ehrten den Schlummer des Mittags und lagen lang ausgestreckt mit den Gesichtern im kühlen Grase. Nur der jüngste der Männer schlief nicht; er saß abseits von den andern an einem grünen Grabenrande, wo eine lautlose Quelle floß, und schien in einem Buche zu lesen. Er sah die Husaren reiten und hob die Augen, gleichgültig erst, dann aufmerksam. Mit lachender Lässigkeit winkte er dem Gefreiten zu und rief mit heller Stimme:

»Guten Morgen! Kopf hoch, Westphal!«

»Ach, Sie sind's, Sievers! Hat sich was! Leicht gesagt: Kopf hoch! Wer ihn in der Nacht so lange hoch gehabt hat, muß ihn am Tage manchmal niedrig halten!«

»Warum sind Sie nicht zur rechten Zeit mit mir gegangen? Ich habe es Ihnen genug gesagt!«

»Wie kann man das, wenn's gerade erst lustig wird!«

Sievers war nahe an die Husaren herangetreten und gab dem Gefreiten die Hand.

»Alte Weisheit, Westphal! Das Zechen lähmt die Willenskraft und schaltet die Hemmungen aus.«

»Was wissen Sie davon, Sie alter Wasserheiliger!« lachte der Einjährige und schob sich die Bärenmütze tiefer in die Stirn. »Wenn Sie mir jetzt einen Trunk kalten Wassers geben könnten, wollte ich mich verdammt gern bei Ihnen bedanken. Aber was Sie hier zusammengraben und herauswühlen, das mag dieser und jener wissen. Trinkbar ist es sicher nicht!«

»Äußern Sie sich etwas vorsichtiger! Wir finden, was wir wollen. Die Haupt- und Residenzstadt soll keine Wassernot leiden. Heute habe ich allerdings noch nichts zum Trinken für Sie. Sie müßten sonst hier mit der hohlen Hand aus dem flachen Graben schöpfen, und ich bin nicht sicher, ob Sie nicht dabei eher einen Frosch fangen!«

»Danke tausend Mal, so schlimm ist's noch nicht mit dem Verdursten. Noch eine Stunde, dann sind wir vor der Hagenschenke. Ich werde bei der ersten Blume aus dem kühlen Steinkrug an Sie denken. Wie ist es übrigens, kommen Sie heute Abend in den schwarzen Walfisch? Bis dahin werden Sie schließlich durstig geworden sein!«

Sievers schüttelte den Kopf und ging zurück.

»Ich glaube kaum. Es wird auch hier draußen heute vielleicht spät werden.«

»Wie Sie wollen! Dann also bis zum nächsten, unbestimmten Abend. Leben Sie wohl, Sie trefflicher Wassersucher!«

In einem etwas gequälten Trabe ritt der Husar von der Waldwiese; Peggau und Siedentopf folgten behaglich im Schritt. Der dicke Peggau hatte sich während des kurzen Aufenthaltes seine letzte Zigarre angesteckt und wollte sich diesen Sechspfenniggenuß nicht durch unnötige Eile trüben lassen. Er vermied überhaupt jede überflüssige Anstrengung mit großer Gewissenhaftigkeit, weil er seine drei Jahre freiwillig abdiente und der Sohn eines der reichsten Bauern aus dem nahen Dorfe Drömlingen war.

Der Gefreite sah sich ärgerlich um.

»Wird's bald, Peggau?«

Der hob den Kopf nicht und knurrte leise:

»Ik hebbe Tiet!«

Was ging ihn überhaupt dieser Einjährig-Gefreite an? So viel Geld wie der hatte er schon längst! Und um das bißchen einjährige Zeugnis? Darauf brauchte sich Westphal nichts einzubilden. Lieber Gott, wenn er sich so lange hätte pressen lassen wollen! Vierundzwanzig, fünfundzwanzig Jahre alt war der Westphal dabei geworden, und er? Kaum Neunzehn! Wenn man so alt war wie Westphal, konnte man beinahe schon Großvater sein. Und Gefreiten spielen? Auf die Ehre verzichtete er für eine Zigarre! Das war zu anstrengend! Übrigens sollte er sich nur vorsehen, der Westphal, der leichtsinnige Bruder! Der Rittmeister hatte ihn längst auf dem Striche, und er hielt sich nur noch durch sein gutes Reiten« – – –

Peggaus brauner Wallach »Salomo« fing an, aus freien Stücken zu traben, als er die beiden Stuten »Sidonie« und »Sarah« – alle drei Pferde waren aus einem Jahrgange – vor sich zockeln sah. Der weise Salomo hielt es nicht für zweckmäßig, sich von seinen Freundinnen zu trennen, mit denen er unzählige heiße und kalte Tage und Nächte seines rühmlichen Husarengauldaseins durchlebt hatte.

Die Husaren trabten weiter den Waldweg entlang und kamen bald wieder auf die Landstraße, von wo sie schon die Türme der Stadt sehen konnten; besonders ragten die hohen Doppeltürme der Andreaskirche hervor.

Zu zweien und einzeln begegneten den Reitern junge Dorfmädchen mit weißen oder bunten Kopftüchern; sie gingen zum Heuwenden auf die Wiesen, denn schon hatten die Bauern angefangen, hier und da an besonders üppigen Stellen das Gras zu mähen.

Der Gefreite blinzelte nach seiner Art jedem Mädchen unter das Kopftuch und fing gleichgültige, abweisende oder ermunternde Blicke auf; er stammte von einem großen Bauerngute und wußte nach seiner Überzeugung mit allem vortrefflich umzugehen, was Kopftücher und Holzpantoffeln trug. In ländlicher Ungebundenheit, ohne den Zwang und Drang zur Selbstzucht aufgewachsen, niemals umweht von dem vornehmen Hauche echter Sittlichkeit, war er einer von den Zahllosen, die in jedem Weibe nur das körperliche Widerspiel, die leibliche Erfüllung und Ergänzung des männlichen Prinzips sehen. Diese Zahllosen sehen auch im echtesten Weibe nicht die schönste, reinste Blüte der Menschheit; ihnen ist das Weib nur Frucht und eine rasch lockende Blüte nur dann, wenn sie bald gute und volle Frucht verheißt. Es liegt eine nüchtern bäuerliche Anschauung darin: dem Alltagsbauern wird das Kornfeld erst dann wertvoll, wenn sich schwer die Ähren neigen; das Grünen und zarte Blühen sagt ihm nicht viel, und über die bunten Blumen im Korn sieht er hinweg.

Der Drömlinger ließ sich durch die Begegnenden nicht aus seiner glückseligen Schlummerstimmung bringen, schon deshalb nicht, weil er sie fast alle kannte, denn sie kamen aus seinem Dorfe. Er drehte sich noch nicht einmal um, als ein außergewöhnlich groß gewachsenes Mädchen, das ihn trotz Bärenmütze, Staub und Schmutz erkannt hatte, hinter ihm her laut rief:

»Kiek, dat is Willem!«

Von den Mädchen aber war keines, das sich nicht nach den Reitern umgedreht hätte; jedes sah ihnen mit mehr oder weniger bewußten Wünschen nach, wenn auch vielleicht nur einen Augenblick. Das macht der glückliche und unausrottbare Hang zur Kraft und Gesundheit, der dem natürlich empfindenden Weibe innewohnt, jener schöne und reine Trieb, den die kluge Natur schon in jede kindliche Mädchenseele legt, wo er – ach so oft – von falschen Gärtnern im sonnenlosen Garten des Aberglaubens und der Vorurteile gepflegt, entweder zu einer ungehemmt wuchernden Pflanze wächst oder in kümmerlicher Dürftigkeit untergeht.

Karl Sievers arbeitete bis zum Spätnachmittag fleißig mit seinen Arbeitern, die kurz vor sechs Uhr nach Hause schlenderten. Ihn selbst aber hielt der Juniabend auf der Waldwiese fest; noch wollte er nicht zurück in die staubige, klingelnde, rasselnde Stadt, wo in Dunstwolken und Dampf, in Eisen und Steinen das schöne Naturleben langsam erstickt und erdrückt wird, das Leben, das doch in Sonnenfreiheit atmen und mit Blättern und Blüten grünen und lachen sollte.

Die Sonne stand noch hoch, und ihr Licht lag breit und sicher auf Bäumen und Gras, aber der Einsame ging nicht in den Schatten; er legte sich mitten in das hohe Waldgras und scherzte und lachte mit den Sonnenstrahlen, die auf sein junges, glattes Gesicht brannten.

Noch eine andere Sonne hatte er in der Tasche, auf deren Glanz er sich schon den ganzen Arbeitstag hindurch gefreut hatte: er zog eine neue Auswahl Goethischer Gedichte hervor, und seine dunkelblauen Augen leuchteten und glänzten, als er anfing, darin zu lesen. Der ganzen Erde süßeste Schönheit und herrlichste Weisheit quoll ihm in schrankenlosem Reichtum aus dem kleinen Buche entgegen, und er nahm von den gütigen Gaben des größten und schönsten Menschengottes und Gottmenschen, der je gelebt, und seine junge, dankbare Seele jubelte und lachte, sie sann und feierte wie im Gebet in dieser Fülle von Glück und Schönheit, Klugheit und Güte.

Abendsonnenschwere Stille ging hernieder, aber in dem Lesenden brauste das Leben und dröhnte die Welt; dann wieder feierte er lange in leisen Träumen, spielte mit den duftenden Grashalmen, die sich reich und satt dem Sensenschnitte neigten und atmete den starken Lebensdunst des Waldwiesenbodens.

Einmal hörte er ein leises, flüchtiges, streifendes Rascheln ganz in seiner Nähe; er hob langsam den Kopf, und seine Augen suchten; sie sahen am Grabenrande, nicht weit von der fast lautlosen, zierlichen Quelle ein schlankes, braunes Wiesel hasten und huschen. Als das behende Raubtierchen den spähenden Menschenblick sah, hielt es halb erschrocken, halb mit übermütiger Frechheit in seinem hurtigen Huschen inne und schaute mit den scharfen Funkelaugen nach dem Feinde, den es in dem harmlosen Mute der Unwissenheit nicht fürchtete. Dann verschwand es plötzlich hinter dem Grabenrande, um gleich darauf mit wundervoller Behendigkeit wieder aufzutauchen und, unbekümmert um den Mann im Grase, suchend und spielend hierhin und dorthin zu huschen.

Eifrig betrachtete Sievers das Tierchen, das sich eine Maus zur Abendmahlzeit zu suchen schien, und hütete sich, es zu stören. Minutenlang währte das anmutige Spiel des Tieres vor seinen Augen. Als ob es aus Gummi gebildet sei, drehte und schlängelte, dehnte und wand es sich, dann verschwand es rasch in seiner nimmermüden Rastlosigkeit und kam nicht wieder.

»Wie so mancher Mensch,« dachte Karl Sievers. »Das huscht und lauscht, späht und hastet hierhin und dorthin, schlängelt und dreht sich durch das Leben, elastisch und oft anmutig, aber es wird nichts Ernsthaftes daraus; es bleibt ein leichtes Spiel, und die dehnbare Weichheit wird nie zu schaffender Festigkeit und ernstem Beharren, das auf wohlgegründetem Boden steht und fördernde Spuren und schaffende Zeichen hinterläßt. Ein spärliches Anstreifen überall und zuletzt ein erinnerungsloses Verschwinden!«

Karl Sievers war keiner von denen, die leicht und spurlos, glatt und elegant durch das Leben huschen wie ein Wiesel; trotz seiner dreiundzwanzig Jahre ging er fest und breit, und wenn er auch hier und da anstieß, und wenn ihm auch hier und da jemand in den Weg trat, so war er doch stark genug, um einen Anprall auszuhalten und wieder einen Gegenstoß auszuteilen.

Schon in früher Jugend hatten ihn verständige Eltern gelehrt, sich nicht auf in Traumwolken ruhende, nebelhafte Kräfte zu verlassen. Statt Jahrtausende alter Gedanken, die wie der Dunst aus alten Katakomben in die frische Entwickelung der Zeit hinein dünsten und wie Spinnengewebe alten, morschen Gemäuers alle neuen Triebe einengen und umspinnen, hatte er sich des Stärksten und Sonnigsten Worte zur Richtschnur seines Lebens erwählt:

»Feiger Gedanken
Bängliches Schwanken,
Weibisches Zagen,
Ängstliches Klagen
Wendet kein Elend,
Macht Dich nicht frei:
Allen Gewalten
Zum Trutz sich erhalten,
Nimmer sich beugen,
Kräftig sich zeigen,
Rufet die Arme
Der Götter herbei.«

Er begriff oft nicht, warum diese Wunderworte nicht an jeder Stelle, wo Menschen erzogen und unterrichtet werden, in großen und leuchtenden Buchstaben prangen!

Statt dessen wurde dort überall in Sprüchen und Bildern gelehrt, daß der Mensch von Kindheit an bis zum Tode in Demut und Furcht und unselbständigem Erlösungswahn sich ducken soll und auf erdichteten Krücken durch das Leben schleichen – – – War das nicht ein köstliches, helles Singen, das dort vor ihm, nicht allzu weit, zwischen dem Walle von Stämmen und Unterholz ertönte?

Welch' reicher, wundersamer Tag war das heute! Erst die lange, heiße Arbeit auf sonniger Wiese, dann ein blühendes Denken und Träumen mit Goethe, dazwischen ein spielendes, munteres Wiesel, – und nun? Das konnte nur ein fröhliches, blütenjunges Mädel sein, das von langweiliger Grämlichkeit und dürrem Alter so weit entfernt war wie die Verwandtschaft eines Rosenbusches von einer Tabakstaude.

Mit lachender Aufmerksamkeit betrachtete er den Waldesrand, und seine Ohren lauschten leichthin dem trillernden Gesange, der keine bestimmte Melodie oder ein bekanntes Lied brachte. Je länger er zuhörte, desto mehr dünkte es ihn, als ob das unsichtbare Mädchen sänge wie ein unbekannter Vogel, der neue Lieder singt, die noch niemals jemand vernommen hat.

»Fliege heraus, du fröhlicher Vogel,« dachte er und legte das Buch, das vom Leben sang, hin in das Gras, denn er hörte nun das Leben selber singen. Lauter und heller wurde das Stimmchen, das aus Büschen und Waldlaub drang, bis es plötzlich in halblauter Klarheit frei über die Waldwiese klang und der geheimnisvolle Vogel sich zeigte.

Karl Sievers sah ein blondes Mädchen anmutig und langsam über die Gräser gehen; ein leichtes, helles Kleid streifte flüchtig und schonend die Wiesenblumen; in ausgelassener Regellosigkeit umgaben krause Haare Stirn und Schläfen, und die Sonne gab ihnen schimmernd einen spielenden Glanz. In der einen Hand hing ein bunter Strohhut, der wohl auf dem engen Waldwege dem frischen Gesichte hinderlich gewesen war, und die andere Hand trug Blumen und hellgrüne Zweige, die morgen das liebe, alte, heimatliche Pfarrhaus sonntäglich schmücken sollten.

Die Singende ging gerade in der Richtung auf den Mann im Grase, aber als sie ihn liegen sah, unterbrach sie kurz ihren Gesang und bog nach rechts ab; dann sang sie ganz leise weiter, wie erschrocken, verschüchtert und verträumt. Es klang gerade so, wie wenn ein bunter Stieglitz plötzlich in seinem kunstlosen Getöne gestört wird, aber dennoch halblaut und halbleise weiter singt, weil er dem Störenfried nicht recht geben und ihm seinen Willen nicht lassen will. Wie aber der Stieglitz sich nach dem störenden Feinde umsieht, so unterließ es auch das Mädel nicht, einige spähende Blicke nach dem Manne im Grase zu schicken, der nun aufgesprungen war und mit dem Buche in der Hand schlank und stattlich dastand.

Ihr zweiter Blick galt dem braunen Buche, und sie sagte sich, daß ein Mann mit solchem Buche ungefährlich, jedenfalls kein Wegelagerer sei. Karl Sievers aber nahm den lieben Goethe unter den Arm, und ein Spürchen Goethischen Geistes wurde in ihm lebendig. Er ging mit nachlässiger Schnelligkeit auf den singenden Krauskopf zu und bot ihm höflich guten Abend. Das Singen verstummte beim nickenden Erwidern des Grußes, und zwanglos ließ sich von des Angreifers Seite aus die passende Bemerkung anknüpfen, daß es an einem solchen Juniabend herrlich im Walde sei. Da kein Widerspruch erfolgte, schloß sich die nicht unebene Betrachtung an, daß die Aussicht auf den morgigen Sonntag an einem solchen Abend gleichfalls nicht zu verachten sei, und infolge der lebhaften Beistimmung machte es sich ganz von selbst, daß die beiden nebeneinander gingen, als ob sie sich schon längst ehrliche zu einem sittsamen Waldspaziergange verabredet hätten. Karl Sievers fuhr zuversichtlich fort, seine Gedankenblitzchen aufleuchten zu lassen, indem er hoffte, daß auch gelegentlich einer davon einschlagen möge.

»Sie haben da, mein Fräulein, einen reichen Blumenstrauß gesammelt. Sind Sie eine Blumenfreundin?

»Ja, Die Blumen bringe ich in meines Vaters Studierstube.«

»Sie gehen also zurück in die Stadt! Wir könnten denselben Weg haben!«

»Nein, ich gehe in mein Dorf.«

»Ich liebe zuweilen die Umwege.«

»Ganz wie Sie darüber denken. Ich gehe jetzt hier diesen Feldweg entlang. Guten Abend!«

Dieser plötzliche Sprung kam ihm unangenehm überraschend. Es war ihm unmöglich, sie schon jetzt allein gehen zu lassen. »Guter, großer Goethe, hilf mir,« dachte er und preßte das braune Buch fest an sich, indem er schnell der Eilenden folgte. Er mußte jetzt irgend etwas sagen, und da sein Blick auf den seitwärts gesenkten Blumenstrauß fiel, rief er fast überlaut, wie in lächerlichen, hilflosen Nöten:

»Noch einen Augenblick! Kennen Sie diese Blume?«

Mit erstauntem, zurückgehaltenem Lachen hielt die Hastende wieder an und besah ihre Blumen.

»Welche von den vielen meinen Sie?«

Er kam sich übermäßig töricht vor, denn augenblicklich hatte er noch gar keine gemeint. Deshalb zeigte er aufs Geratewohl in den ungeordneten Haufen. »Diese da?« lachte das Mädchen. »Roter Klee? Kuhfutter? Diese Blumen kennen bei uns schon die kleinsten Kinder. Haben Sie besondere Teilnahme für diese schöne Blume?«

Karl Sievers wurde dunkelrot.

»Nein, nein! Ich meine diese hier! – Nein, diese, nein, die da« – –

War denn keine Blume dabei, die den Anspruch erheben konnte, unbekannt zu sein? Er bemerkte, wie die Kraushaarige anfing, ein wenig die Stirn zu runzeln und ein ernsthaft-bedenkliches Gesicht zu machen, denn sie schien ihm jetzt nicht mehr zu trauen.

Da sah er in der höchsten Not eine nicht ganz alltägliche Pflanze im Strauße: dunkelpurpurrot, wie mit zwei Flügeln und grünlichen Augen, duftend und leuchtend. Er griff zu und zog sie aus der Hand des Mädchens, wobei er aufatmend sagte:

»Ich meinte diese hier! Aber Sie werden sie kennen, ganz sicher.«

Die Blonde blieb stehen und bewegte die vollen roten Lippen, als ob sie sich besinnen und sprechen wolle.

»Nein«, sagte sie dann zögernd,« ich wollte meinen Vater danach fragen. Er hat es mir früher einmal gesagt, aber ich habe es wieder vergessen.«

»O, es ist nur die Fliegenblume,« meinte er bescheiden und durchaus nicht lehrhaft, »weil sie – sehen Sie sie sieht aus wie« – – –

Lebhaft fiel ihm das Mädchen in die Rede:

»Ich weiß, jetzt weiß ich wieder! Sie gehört zu den Orchideen. Wie konnte ich so zerstreut sein! Sehen Sie doch, die Blüte sieht aus wie ein kleiner bunter Schmetterling. Sie lockt Bienen und Fliegen und Schmetterlinge damit an, durch die die Befruchtung der Blüten vermittelt wird.«

Sievers machte jetzt ein ziemlich töricht-erstauntes Gesicht, als er sie so reden hörte, so lebhaft, harmlos offen und wissend. Sie merkte das und meinte lächelnd, indem sie ihn fragend ansah:

»Das wissen Sie nun wohl nicht?«

Er beeilte sich, ihr Vertrauen zurückzuerobern und zeigte auf die hellgrünen Augen der Blüte.

»O bitte, das hier sind die Klebdrüsen der Ophris muscifera, die von einer Blüte zur andern gebracht werden.«

»Wenn Sie lateinisch anfangen, sind Sie mindestens Botaniker von Beruf.«

»Durchaus nicht. Ich lebe aber ebenfalls von dem, was die Pflanzen am nötigsten zum Leben gebrauchen.«

Sie schaute ihn fragend und lächelnd an, und er sah die blanken, regelmäßigen Zähne.

»Sie glauben es nicht?« fuhr er fort, »ich lebe nur von Wasser.«

Da lachte sie kurz auf, wandte sich ab und ging weiter. Schnell war er wieder neben ihr und setzte seine Erklärungen fort.

»Ich bin kein Botaniker, sondern ein Wassermann.« »Das ist mir ebenso unverständlich wie Ihr Latein.«

Sie machte ein sehr abweisendes Gesicht und Karl Sievers glaubte, daß jetzt der Augenblick gekommen sei, um gesellschaftlich ernsthaft zu werden. Er nannte seinen Namen und fügte hinzu: »Ingenieur am städtischen Wasserwerke.«

Sie lachte übermütig und verneigte sich spöttisch, was ihm ein wenig albern vorkam, weil sie seine junge Würde so wenig zu schätzen schien.

»Also tatsächlich ein Wassermann! Daß ich ein Dorfmädchen bin, habe ich Ihnen wohl schon gesagt! Mehr brauchen Sie nicht zu wissen!«

»Wenn ich es aber durchaus wissen will?«

»Dann sehen Sie zu, woher Sie es erfahren!«

»Ich werde Ihre Blumen fragen.«

»Die sind stumm und blind, Herr Wassermann.«

»Stumm vielleicht, aber nicht blind. Wissen Sie nicht, daß die Pflanzen Augen haben?«

Sie sah ihn wieder an mit ihren klaren blauen Augen, die etwas eigenartig Warmes und Leuchtendes hatten. Sie wußte offenbar nicht, ob er im Ernst oder im Scherz redete. Deshalb versicherte er:

»Es ist wahr! Die Pflanzen haben Augen. Ein englischer Professor hat sie gefunden. An der Außenseite mancher Blätter sind Sehlöcher, ähnlich wie die Sehorgane vieler Insekten. Ich kann es Ihnen nur heute nicht so genau auseinandersetzen, weil ich kein Botaniker bin. Aber Sie dürfen es ruhig glauben, und wenn ich Ihnen einen kleinen Aufsatz darüber zu lesen geben soll« – –

»Ich werde zu Hause fragen. Ich traue Ihrer – Wasserweisheit doch nicht so recht!«

Sie lachte schon wieder, und er bedankte sich mit scherzender Förmlichkeit. Da hob sie den breiten, bunten Strauß und hielt ihn vor ihr schönes, frisches Gesicht, wobei sie sagte:

»Die Blumen sollen mich sehen. Sie aber sollen mich nicht mehr sehen. Ich gehe nach Hause. Gutenacht, Herr Wassermann!«

Da wußte er nichts mehr zu sagen. Er stand und sah der flüchtigen Gestalt nach, wie sie so leicht und hell, so fest und schlank zwischen den grünen Halmen ging, während der Saum des kurzen Kleides an Gras und Blumen streifte.

Welch' ein wundervoller Schönheitszauber und Lebensreiz geht von einem schlank und fest dahinschreitenden Mädchen aus!

Eine lachende Freude erfüllte ihn, und er wußte doch nicht, warum. Ein glänzendes Leuchten brannte in seiner Seele auf, und er wußte doch nicht, woher. Eine schimmernde Hoffnung flog mit silbernen Flügeln vor ihm her, und er wußte doch nicht, wohin.

Ruhig stand er und fühlte, wie der laue Abendhauch über die Roggenhalme streifte, die bald blühen wollten. Er hörte, wie eine Grille ganz nahe bei ihm zirpte. Er sah, wie die Sonne tiefer gegangen war. Die helle Gestalt in dem schmalen grünen Feldwege war verschwunden; da kam plötzlich wieder äußeres Leben in Herrn Karl Sievers. Mit langen Sätzen sprang er in dem weichen Grase vorwärts, wobei er selbst lachend dachte: »Wie ein Grashüpfer!« Er sprang und lief, als ob er etwas Kostbares verloren habe, und dabei entfiel ihm das braune Goethebuch, das er unter dem Arme gehalten hatte. Er ließ es liegen, denn es war ihm unverloren.

Als die Kornfelder zu Ende waren, ließ er nach in seinen wilden Sprüngen und blickte spähend eine grasige Trift hinab. Dort ging sie, da, auf einem holperigen Wege zwischen Steinen und kurzem Grase, zwischen Kirschenbäumen, deren Früchte anfingen, rot zu leuchten. In mäßiger Schnelligkeit eilte sie den Berg hinab, und der Strauß mit den Blumen, die Augen haben, hing lässig in ihrer linken Hand.

Mit merklichem Herzklopfen stand der Verfolger und ließ keinen Blick von dem hellen Kleide und von dem bunten Hute, der jetzt auf dem krausblonden Kopfe saß, ein wenig schief und ein wenig reichlich nach hinten gerückt, wie es so fröhlicher Mädchen Art ist.

Dort unten lag ein Dorf. Rote Dächer lugten aus dichtem Baumgrün, und ein kurzer, dicker Kirchturm enthüllte kaum seine hellrosigen Ziegelsteine aus der satten Farbe des Lebens.

Ob sie in jenes Dorf dort gehörte?

Er selbst war noch niemals da gewesen; er kannte diesen Landesteil nicht genau. Aus dem Herzogtume stammte er freilich, aber aus einem andern, fern gelegenen Kreise. So viel wußte er dennoch, daß das Dorf Drömlingen heißen mußte.

Im schönen Drömlinger Baumgrün war die helle Gestalt verschwunden.

Jetzt hörte er, wie eine helle Glocke vom roten Kirchendache her den Sonntag vorläutete. Es war ihm, als ob der warme Frühlingsabend eine gewaltige Welle von Segen und Glück über das grüne Dorf hinwegspüle; langsam kehrte er um und suchte zwischen den Roggenfeldern seinen Goethe. Bald fand er ihn; das Buch lag aufgeschlagen, mit den Blättern im Grase, und als er es aufhob, blickte ihn ein Bild Goethes aus seinen jungen Jahren an. Glänzten dem herrlichen Manne nicht die Augen in sieghafter, furchtloser Lebensfrohheit? Sprachen die Lippen nicht von Mut, Wahrheit und Schönheit?

Und als Karl Sievers immer länger und länger in dieses wundervolle Menschenantlitz sah, da war es ihm, als ob der Freund alles Lebens und aller Liebe ihm lächelnd zunicke.

Fröhlich aufatmend steckte er das Buch in die Tasche und fing an Blumen zu pflücken. Er wählte nur solche Blumen, die das Dorfmädel aus Drömlingen in ihrem Strauß gehabt hatte, roten Klee, Fliegenblumen, Gräser und kleine Farnkrautblätter und mancherlei, rings umgeben von hellgrünem Buchenlaube.

Als er in seiner Stube in der stillen Gaußstraße ankam, stellte er seinen Strauß in frisches Wasser.

Der Strauß war ebenso groß und genau ebenso beschaffen wie der, den um dieselbe Stunde Grete Rautenstrauch in einer bunten Blumenvase in der Arbeitsstube ihres Vaters, des Pastors Adolf Rautenstrauch in Drömlingen, zu seiner Freude und Erbauung auf den langen, gelben Tisch aus Eschenholz stellte.


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