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Bei Eggelings war alles zum Empfange der Nachbargäste vorbereitet. Die beiden Töchter, die achtzehnjährige Frieda und die fünfzehnjährige Susanne rüsteten den Kaffeetisch. Die Knaben, in dem äußerst liebenswürdigen Alter von acht, zehn und zwölf Jahren hatten das Vertrauen, das ihre Mutter Wilhelmine Eggeling in sie setzte, indem sie ihnen zu Ehren des Besuches frisch gewaschene, weiße Matrosenanzüge anzog, bis jetzt eigentlich glänzend gerechtfertigt. Als aber die Gäste immer noch nicht kamen, wurde den drei das Stillsitzen zu langweilig und zum Entsetzen der ahnungsvollen Mutter waren sie plötzlich still verschwunden.
Gotthold, der kleinste, wollte die Hühnereier aus dem Stalle holen; Gottfried, der älteste, nahm jedoch, da er gerade noch nichts Besseres wußte, dieses Recht für sich in Anspruch. Da der Kleine sich schützend und drohend vor das mit Eiern wohlgefüllte Nest stellte, kam der streitbare Gottfried, dessen Vorname als völlig unzutreffend und verunglückt anzusehen war, wütend angestürmt und gab dem Nestverteidiger einen außerordentlich leidenschaftlichen Stoß. Gotthold konnte diesem wuchtigen Anprall keinen Widerstand leisten; da es keinen andern Ausweg gab, fiel er hin und setzte sich genau auf die zehn frischen Hühnereier, das Tagewerk der pflichtbewußten Pfarrershennen.
»So, da hast Du's!« rief Gottfried befriedigt. »Jetzt kannst Du meinetwegen die Eier absuchen!«
Gotthold zerdrückte mannhaft eine Träne und erhob sich.
Die Eier trieften von seiner frisch geplätteten, kurz vorher noch weißen Rückseite, die jetzt durchaus gelb gefärbt war.
Er machte einige gewissenhafte und schüchterne Versuche, sich mit den Händen zu reinigen, erreichte aber dadurch nur, daß er das Eigelb schön gleichmäßig nach oben und unten verteilte und auch seinen Händen das nötige zukommen ließ, die nun Gelegenheit hatten, die gelbe Masse im Gesichte und anderswo zu verbreiten.
Gottfried freute sich seines Sieges, ging in den Garten und begann dort unter erheblichem Freudengeheul einen frisch gemähten Grasabhang hinunter zu rutschen, was eine lebhafte und saftige, dauernde Grünfärbung seines Hinterteils zur Folge hatte.
Gottlieb, der mittelste, der im allgemeinen ein verhältnismäßig sinniges Wesen zur Schau trug, hatte, von einer Geschichte, die er kurz vorher gelesen hatte, inspiriert, beschlossen, Bergmann zu spielen und einsam in den Kohlenschacht einzufahren. Er suchte zu diesem Zwecke den Kohlenstall auf. Daß sein weißer Matrosenanzug gerade zu diesem schwarzen Berufe eigentlich wenig geeignet sei, ahnte er in seinem phantasievollen und fleißigen Gemüte nicht. Er ging in den Stall, nachdem er sich selbst »Glück auf« zugerufen hatte, wie es in der Bergmannsgeschichte zu lesen war, und machte die Tür fest zu, um die Täuschung des dunklen Schachtes vollkommener zu machen. Dann nahm er ein Beil als Haue und hieb emsig im Dunkeln auf die größten Kohlenblöcke los, wobei er sich als »Häuer« fühlte. So arbeitete er angestrengt im dunklen Schoße der Erde, in eine Wolke von Kohlenstaub gehüllt, und hieb in seinem Wahne große Kohlenmengen los. Als er müde wurde, setzte er sich befriedigt auf seine Kohlen, indem er annahm, daß auch die richtigen Bergleute das so gewohnt seien; ferner bildete er sich ein, er habe ein Grubenlicht in der einen Hand und in der andern eine Blechflasche mit Kaffee, außerdem äße er ein Vesperbrot. Leider hatte er keins. Im übrigen war es aber ganz so, wie er es in der Erzählung gelesen hatte. Danach wandelte ihn das Gelüste an, wieder das Licht des Tages zu sehen, und er fuhr aus seinem Schacht.
Als er auf den hellen Hof trat, sah er schon viel bergmannsmäßiger aus als bei seinem Einfahren in den Schacht. Gottfried und Gotthold, die gleichfalls auf den Hof gegangen waren, betrachteten ihn mit der gebührenden Bewunderung, und als sie ihn mit seinem Vornamen anredeten, erklärte er, er sei überhaupt ein Bergmann, ein Häuer. Sachverständig erzählte er ihnen einiges aus seinem reich bewegten Bergmannsleben.
Das gefiel den andern außerordentlich. Sie wollten morgen alle zusammen Bergmann spielen.
Vorläufig verabredeten sie sich, daß sie, wenn Rautenstrauchs auf den Hof kämen, sich alle drei auf den Kopf stellen und »Glück auf« rufen wollten. Zu diesem Beschlusse war es die höchste Zeit gewesen, denn schon kamen die Erwarteten. Auch die Haustür öffnete sich, und die beiden alten Eggelings stellten sich zum Empfange auf.
Jetzt war der richtige Augenblick für die drei gekommen. Von zwei Seiten beobachtet, hofften sie entschieden zur Geltung zu kommen und den erwarteten Eindruck zu machen.
»Glück auf!« riefen sie, indem sie eine männliche Tiefe ihrer Stimmen vorzutäuschen versuchten, wodurch der Ruf jedoch mehr wie eine nachdrückliche Drohung klang und ebenso gut hätte bedeuten können:
»Schlagt ihn tot!«
Mit akrobatenhafter Behendigkeit standen sie dann plötzlich alle drei auf den Köpfen und zeigten den ankommenden Rautenstrauchs ein gelbes, ein grünes und ein schwarzes rundliches Plakat an den weißen Anzügen, wozu sich noch zebraartige Streifen von Kohle an Gottliebs Bergmannsanzug gesellten.
Die vier Rautenstrauchs brachen in ein dankbares Gelächter über diese farbenfrohe Huldigung aus, und Pastor Rautenstrauch rief:
»Schwarz – gelb – grün, ein anmutiges Farbenspiel! Guten Tag, Herr Amtsbruder! Ich freue mich, Sie und Ihre Herrn Söhne wohlauf zu finden!«
Gottfried, Gottlieb und Gotthold waren schon wieder auf den Füßen, brüllten noch einmal »Glück auf« und standen im Handumdrehen zum zweiten Male auf den Köpfen, wobei sie jedoch dieses Mal ihr farbenprächtiges Hinterteil den glücklichen Eltern zeigten, denen nunmehr ein rasches Verständnis für Rautenstrauchs Anruf aufging.
Frau Pastor Wilhelmine Eggeling rang die Hände, so gut sie es mit ihren kurzen, dicken Fingerchen vermochte.
»Schämt euch, o, schämt euch, ihr schamlosen Kinder!« rief sie gellend in heller Verzweiflung.
Dieses machte jedoch keinen Eindruck auf die Akrobaten. Sie huldigten dem weit verbreiteten Aberglauben, daß man alles Gute mindestens drei Mal tun müsse und wiederholten deshalb nochmals ihr Glückauf und die schwierige Kopfstellung, diesmals wieder nach der Rautenstrauchschen Seite ihre Farben zeigend, wo sie mehr Verständnis zu finden hofften. Als sie jedoch ihren Vater laut räuspern und husten hörten, rissen sie mit verblüffender Geschwindigkeit aus und verschwanden im Garten, denn dieses Getöne des Vaters war ein sicheres Zeichen, daß sich ein Sturm erhob, der mit den üblichen Schlägen zu enden pflegte.
Einen Augenblick noch sah man den gelben, den grünen und den schwarzen Hosenboden sich rasch bewegen, dann war alles verschwunden.
»Was werden Sie denken, Herr Pastor! Diese ungezogenen Knaben, in dieser unanständigen Stellung! Ich weiß gar nicht, ich hatte sie eben erst rein angezogen.«
»Aber ich bitte Sie, Verehrteste, wir haben alle, wie Sie sehen, selten so prächtig und natürlich gelacht wie eben«, sagte Pastor Rautenstrauch, und Großvater Schulte unterstützte ihn.
»Muntere Knaben hat man, Gott sei gelobt! Lassen Sie doch das lustige Volk. Man wird die lieben Jungen doch nicht strafen? Jugend hat nicht Tugend, und was diese eben taten, war keine Schlechtigkeit und keine Bösartigkeit!«
Die Eggelings aber fuhren fort, sich wortreich zu entschuldigen, und besonders Frau Wilhelmine in ihrer prüden Art schien anzunehmen, Rautenstrauchs wüßten nicht, daß Knaben einen Hosenboden haben und daß überhaupt die ganze Menschheit, so weit sie normal ist, mit einer oft sogar sehr schönen Rückseite versehen ist.
Pastor Eggeling, der sich bemühte, die Zornesfalten von seinem feisten, glattrasierten Gesichte wegzustreichen, sah sonst recht würdig aus mit seinem ziemlich langen, nach hinten gekämmten, dunkel glänzenden Haupthaar, das dem schwarzen Rockkragen unschwer einen etwas fettigen Schimmer verlieh. Er war nicht viel größer als seine kleine Frau Wilhelmine, und wenn er in Zorn geriet, glich er unbedingt einem schwarzen Zwergcochinchinahahne, wie er zum Überfluß und zum Vergleiche einige auf seinem Hofe umherlaufen ließ. Frau Wilhelmine, die sich meist ebenfalls in Achtung gebietendes Schwarz kleidete, war die dazu passende Henne.
Der Nachmittag verlief im wesentlichen so wie alle Nachmittage, an denen sich Pastorenfamilien besuchen. Es gelang auch Rautenstrauchs nicht, eine über den Durchschnitt gehende Unterhaltung zu erreichen. Es ist immer so: Die Männer rauchen unermeßlich, tadeln den Superintendenten und witzeln über das Konsistorium; die Frauen stricken und häkeln und vertiefen sich in allgemeine weibliche Gespräche, die weder neu noch unterhaltsam sind, vielfach aber mehr oder weniger giftig, wovon jedoch die Sprecherinnen nichts wissen und sich deshalb sehr wohl dabei fühlen.
Frieda, die achtzehnjährige, und Susanna, die fünfzehnjährige, hatten sich an Grete Rautenstrauch angeschlossen, die in ihrer stillen und klugen Schönheit einen großen Eindruck auf sie machte, ohne daß sich diese kleinen, runden, niedlichen Pastorentöchter in Ahlenstedt dessen bewußt waren.
Frieda war es nach langem Werben gelungen, die Nachbarstochter auf ihr Zimmer zu ziehen, wo sie eine intime Unterhaltung mit ihr erhoffte, vielleicht derartig, wie sie es mit ihren Schul- und Pensionsfreundinnen gewohnt gewesen war.
Zuerst fing sie an, über Paul Heyse und seine »reizenden Liebesgeschichten« zu sprechen; Grete müsse sie unbedingt lesen! Dann ging sie dazu über, aus ihrer verschlossenen Kommode einen zerlesenen Band von Heinrich Heine hervorzukramen und in kindischer und verständnisloser Art einige recht bedenkliche Gedichte vorzulesen, über die Grete verwundert den Kopf schüttelte, denn sie fand diese Gedichte einfach langweilig, häßlich und geschmacklos und begriff nicht, wie man das Poesie nennen könne. Der Begriff »pikant« war ihrem reinen und natürlichen Empfinden völlig unbekannt.
Beim Blättern fiel plötzlich ein rosenroter Briefbogen aus dem Buche. Frieda hob ihn mit halb verlegenem, halb selbstbewußtem Kichern auf und legte ihn in das Schubfach. Sie sah danach Grete erwartungsvoll an und schien zu hoffen, daß sie nach Art und Herkunft des Briefes fragen solle; der aber fiel das durchaus nicht ein, sondern sie fand das ganze Gebahren höchst albern und unverständlich. Sie hatte überhaupt kein Verständnis dafür, daß man ein Verhältnis von zwei jungen Menschen zueinander versteckt und heimlich auffassen könne. Sie, die schon als Kind mit ihren Eltern, je nach ihrem kindlichen Verständnis, über alles rein, frei und natürlich gesprochen hatte, wußte nicht, was sie dazu sagen sollte.
Als Frieda Eggeling nun gar anfing nach der Bibel zu greifen, die auf einem Wandbrettchen neben einem Kruzifixus über ihrem Bette lag, um daraus Stellen vorzulesen, die oft schon bei zwölfjährigen Kindern als interessant gelten, da fühlte sich Grete Rautenstrauch angewidert, und indem sie der andern deutlich ihr Mißfallen zu erkennen gab, ging sie gelassen die Treppe hinunter in den Garten.
»Dumme, scheinheilige Gans«, murrte die Ahlenstedter Pastorstochter hinter der Drömlinger her und verschloß ihre sämtlichen Kostbarkeiten wieder in der Kommode, auch den Liebesbrief ihres Husaren.
Im Garten fand Grete ihren guten alten Großvater, der mit den drei Knaben sein Wesen trieb. Er hatte sich eine alte Pfeife von Eggeling geben lassen, da ihm die Zigarre nicht schmeckte, rauchte und war sehr vergnügt und zufrieden. Die Jungens mußten ihm eine Art von Zirkus vorführen, was sie mit großem Eifer taten. Er hatte sie mit ausdrucksvollen Namen bezeichnet, da er ihre Gottesnamen immer durcheinanderwarf; sie hießen bei ihm der Laubfrosch, der Bergmann und der Eiermann, womit die Besitzer der gefärbten Hosenboden sehr einverstanden waren. Übrigens hatten sich die drei Farben beim Spielen und Balgen schon hübsch untereinander vermengt und malerisch farbensymphonisch verteilt, sodaß die drei Knaben einen prächtig bunten Anblick gewährten, hinter dem man alles vermuten konnte, nur keine weißen Matrosenanzüge.
Als Grete dazwischen trat, hielten sie mit ihrem Springen und Toben inne, und der Älteste, der Laubfrosch, sah ihr mit einer gewissen andächtigen Scheu in die klaren Augen; er mochte wohl schon den Zauber fühlen, der von diesem schönen Mädchen ausging. Die beiden andern sahen in ihr mehr einen Störenfried und blickten fragend auf ihren Leiter mit Samtkäppchen und Pfeife.
»Immer munter weiter, kleiner Eiermann«, ermunterte der, »an Dir ist die Reihe!«
Eiermann stellte sich zum Bockspringen zurecht, so daß man sein grellgelbes, wunderhübsches Hinterteilchen sah, und der Bergmann sprang mit kunstvollem Satze hinüber.
»Gretelein«, rief der alte Pastor, »man sehe hier in mir einen würdigen Greis, wie er sich nach seiner Art mit der Jugend vergnügt! Überall, wo lustige Kinder sind, ist das Himmelreich! Man sehe diese prachtvollen Bengels hier. Ich bleibe hier draußen. Das feierliche Geklöne da vorn im Hause will kein Ende nehmen.«
Grete lachte und sah ebenfalls lachend dem fröhlichen Toben zu.