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2.
Der grüne Pfarrgarten

Sonntag war es, und ein Sonntagmorgen, wie ihn das sonnige Jahr nur im letzten Frühlingsmonat so schön schenken kann.

Nach einer kurzen, dämmerigen Nacht ein drängendes Aufatmen des Tages, ein lichtfrohes, weites Augenöffnen! Sehnend dehnt und streckt die grüne Erde ihre Glieder der Sonne und ihrem Lichtsegen entgegen. Und doch, trotz allen üppig flutenden Lebens, welche Ruhe, welch' eine weihevolle Stille trotz aller treibenden Lichtfülle, trotz allen frühen Vogeljubels!

Nur ein ganz leiser Hauch geht über die hohen Bäume des Drömlinger Pfarrgartens. Das Dorf ist still vom Werke der Woche. Kein Peitschenknallen, kein Wagenrattern, kein Schmiedehämmern, kein hastiges Schaffen und keuchendes Arbeiten, – denn es ist ja Sonntag, Sonntagmorgen!

Grete Rautenstrauch war wie immer als die erste im Pfarrhause aus ihrem luftigen und leichten weißen Bettchen aufgestanden, denn ihre Arbeit konnte und wollte auch Sonntags nicht warten. Eine Magd war jetzt im Rautenstrauchschen Haushalte nicht vorhanden, denn der Pastor huldigte dem berechtigten Grundsatze, daß vom Arbeiten noch selten jemand krank geworden sei und lud deshalb in einträchtiger Gemeinschaft mit seiner Gattin Karoline die nötige Tätigkeit in Haus, Hof und Garten seiner fröhlichen, schlanken Grete auf. Nur für die gröbsten und schwersten Werke war eine willige Frau aus dem Dorfe als regelmäßige Helferin bestimmt.

Müde war freilich das junge Gretelein noch oft am frühen Morgen. Ach, so müde mit ihrer köstlichen Jugend von kaum neunzehn Jahren; aber sie überwand die Schlaflust mit ihrer fröhlichen Willenskraft. Heute jedoch plagte sie keine Müdigkeit mehr. Wie ein großer weißer Vogel flog das Hemdchen in hohem Bogen durch die Schlafstube, und dann begann vor dem alten Waschtische ein langes, übermütiges und nachdrückliches Plätschern, Waschen und Begießen, das die letzten Schlummergedanken mit seiner kühlen Rücksichtslosigkeit vertrieb.

Zahlreiche Sperlinge, die ihre ungeschickten Nester so recht liederlich unter das weit überhängende Dach hineingeschmuggelt hatten, lärmten vor dem offenen Fenster, nachdem sie nach ihrer ruhelosen Art schon im ersten Morgengrauen in der alten Dachrinne ein kleinliches Kraspeln und Rascheln verübt hatten. Niemand störte sie, und der Pastor hatte oft sogar seine Freude an diesen wundervollen Naturflegeln, die in der Menschheit so manchen Mitläufer und Genossen haben, weil überall so viele zu finden sind, die ihre Spatzenhaftigkeit und Naturflegelei ihr ganzes Leben hindurch nicht ablegen, weil sie mit dem schönen Segen der echten Kultur nichts anzufangen wissen. Ein wunderliches, lächerliches Völkchen, dachte der Pastor oft, diese gehirnschwachen Naturflegel, die da glauben, sie müßten, wie die wilden Urmenschen, lange Bärte und lange Haare tragen, halbnackt auf Sandalen laufen und im Verzehren von nichts als Korn und Kohl und womöglich im Essen von rohen Kartoffeln ihr Heil suchen!

Von dem roten, moosbewachsenen Ziegeldache hüpften die Sperlinge auf den Birnbaum, der seine Zweige ganz dicht darüber neigte. Im Baume haschten sie sich lärmend in lustigem Liebesjagen, und Grete Rautenstrauch sah ihnen lachend zu, denn sie wußte in fröhlichem, harmlosem Wissen recht gut, warum die Sperlinge so ausgelassen und übermütig waren.

»Freut euch, fangt euch, ihr verliebtes Volk!« dachte sie, als sie vor dem Spiegel stand und ihre langen blonden Haare kämmte und flocht. Und dann kam ihr, ohne daß sie es eigentlich wollte, eine rasche Erinnerung an ihren gestrigen Weg durch den Wald und an die Begegnung auf der Waldwiese. »Keine Sperlingsnatur, der Wassermann von gestern,« dachte sie dann. »Eher eine ruhige, verständige Drossel, die vielleicht aber auch einmal recht wild und übermütig singen kann, wenn der Geist so über sie kommt«.

Als sie leise die ausgetretene, knarrende, weiß gescheuerte Treppe hinunterging, kamen ihr die Blumen in den Sinn, und alles das, was ihr der Fremde davon erzählt hatte. Sie kehrte noch einmal um und ging in ihres Vaters Arbeitszimmer. Dort roch es noch nach Pfeifenrauch, und sie öffnete weit alle Fenster, daß der jubelnde Junimorgen hineinlachen mußte.

Die Blumen standen in ihrem Glase auf dem Tische und sahen matt und verschlafen aus. Da stellte sie die Trübseligen auf die weiß gestrichene Fensterbank, daß sie auf den Hof mit seinem Grasplatze und seinem großen Nußbaum blicken konnten, und tröstete sie mit halblaut gesprochenen Worten:

»Ihr sollt Wasser haben und Sonne und Morgenfrische; ihr sollt euren lieben Wald nicht ganz vergessen. Und wenn ihr wirklich Augen habt, sollt ihr so viel Schönes vom Fenster aus sehen, wie ich euch zeigen kann.«

Auf dem Pfarrhofe glänzte alles grün und licht in Tau und Sonne, und als Grete das sah, konnte sie sich noch nicht an die Hausarbeit zwingen. Leise singend nach ihrer Art ging sie leicht aus der Haustür und sprang drei Stufen hinab auf den Hof. Dadurch kam sie ins Laufen, nahm ihr luftiges, helles Morgenkleid zusammen und rannte lustig und emsig durch das feuchte Gras, dreimal in weitem Bogen um den Nußbaum herum. Dann blieb sie stehen, als ob sie einer zauberhaften Musik von oben lausche. Wie mußte es wohl heute früh im Garten sein?

Schnell an der alten Scheune vorbei, durch die hohe Lattentür hinein in die grüne, dichte Pracht! Wuchs es da nicht wie lauter Ewigkeit und Unsterblichkeit?

Auf Kieswegen und im Grase ging das fröhliche Mädchen mit leuchtenden Augen, mit frischen Wangen, die oft an niederhängende Zweige und hellgrünes Gebüsch streiften und mit den Lichtstrahlen um die Wette glänzten.

Schön ist's wohl in manchem Garten, aber am schönsten ist es in solchem Pfarrgarten in der Sonntagsmorgenfrühe!

Und dann die Vogelstimmen, das Singen und Suchen, das Lachen und Sehnen von Liebe und Frühlingsglanz!

Grete ließ sich heben und treiben von dieser wunderbaren Morgenstimmung im sonnigen Pfarrgarten, wo alles schwoll und wuchs von Leben und Liebe, wo das kraftvollste Zeugen und Werden in ungehemmtem Glücke lachend und jubelnd in der Morgensonne kämpfte und spielte. Sie verstand diesen ewigen, schönen Kampf und Sieg in der Natur und faßte ihn auf in seiner goldklaren Lebenswahrheit mit kindlich gesunden Sinnen, die nicht verdorben, entartet oder falsch geleitet waren durch Prüderie und Heuchelei. Ihr war das Leben mit seinem ewigen Zeugen und Wachsen nicht durch mystische Schleier heuchlerisch falscher Sittsamkeit verhüllt worden; was rein und klar und natürlich war, das hatte sie, seit sie sehen, denken und sprechen konnte, als rein, klar und natürlich achten und würdigen gelernt.

Sie hatte den besten und den richtigsten Lehrmeister, den die Natur eigentlich jedem Kinde geben soll: Ihren Vater.

In dem weiten Grasgarten, wo alte und junge Obstbäume ihre Früchte angesetzt hatten, fing Grete wieder an zu laufen, weil sie im Gehen ihrer gesunden Kraft und ihrem überschüssigen Bewegungsdrange nicht genug tun konnte. Mit einem fast wilden Satze sprang sie über einen breiten Graben, in den das Wasser aus einem Teiche abfloß, der dort traulich und heimlich von dichtem Gebüsch und Bäumen umgeben lag. In einer winzigen Bucht des Teiches schlief ein kleiner, lebensschwacher Kahn, der schon vor Jahrzehnten den Pastorskindern des Vorgängers seine Dienste getan hatte. Grete sprang hinein, so daß er erschrocken aus seiner Sonntagsmorgenruhe aufwachte, zu schaukeln anfing und von dem grünen Teichwasser trank. Von ein paar breiten Ruderschlägen getrieben, sauste das Boot durch das Wasser hin und her, bis es unter den überhängenden Zweigen einer Riesenakazie stille stand.

Ein ganz leiser Wind strich über den Teich und rührte zart an die krausen Haare des Mädchens; es war, als ob sie dadurch nachdenklicher und ruhiger würde, und wie ein lebengenießendes Träumen kam es über sie.

Wo kann die blühende Jugend wohl schöner vom Leben hoffen und träumen und in das Leben hineinwachsen, als im Wundergarten eines deutschen Pfarrhauses?

Und wie eine schwere, und dennoch hebende und tragende Welle, hoch und breit flutete das reiche Frühlingsleben um sie, dieses reine und kraftschnelle Schwellen der Morgennatur. Es war keine Mittagsschwüle und kein sanfter Abendhauch, es war die Morgenkraft in ihrer vollen Schönheit; und Grete lehnte sich zurück im Kahn und ließ die frische Lebenswelle über sich fluten. Ach, das schöne, kraftvolle Sehnen, das unbewußte Drängen nach Leben und Liebe, nach Liebeserfüllung und Lebenserneuerung, nach neuem Wachsen durch sich selbst! Sie hatte nie etwas Unheiliges und Unreines darin gesehen, und das Stärkste und Heiligste, was die Natur will, war ihr auch immer stark und heilig erschienen.

Gerade über ihr sang ein Vogel, so wie sie noch nie einen Vogel hatte singen hören, so laut und so hallend, als ob ihm davon die Brust zerspringen müsse. Da lauschte sie lange und atmete tief, und auch ihre Brust dehnte und weitete sich, und sie sang stumm und ohne Worte das Lied mit, das namenlose, wortlose Lied von der Liebe zur Kraft und von der Kraft in der Liebe.

Als der Vogel plötzlich zu singen aufhörte und mit raschem Huschen über den sonnenbeglänzten Teich flog, dachte Grete Rautenstrauch wieder an den Nachmittag im Walde und an Karl Sievers' braunes, gutes, kluges Gesicht. Dann trieb sie den Kahn rasch an das Ufer und lief ins Haus, jetzt plötzlich ganz nüchtern und gesetzt an ihre Hausfrauenpflichten durch die Kirchturmglocke gemahnt, und bis in das liebe, trauliche Pfarrhaus hinein begleitete sie noch der Schall der Frühmorgenglocke, die alle Sonntage vom nahen Kirchturme heruntersang.

Um dieselbe Stunde stand Karl Sievers an dem offnen Fenster seiner Schlafstube und blickte in den Morgenglanz eines kleinen, städtischen Gärtchens hinein, denn auch dahin hatten sich die Sonne und die Sonntagsstimmung gefunden.

Heute war Karl Sievers frei, denn heute war Sonntag, und so lieb er auch sonst seine Arbeit und seinen Beruf hatte, heute wollte er nichts davon wissen. Noch keine halbe Stunde war vergangen, da ging er schon vor den Toren der Stadt, die noch in matter Stille und unruhiger Erwartung schlief, als ob sie sich noch schnell erholen und vorbereiten wolle für all das Zwecklose und unruhige Sonntagsgetriebe, das von wirklicher, feiernder Ruhe und edler, fruchtbringender Erholung so weit entfernt ist wie das Klingen einer Ziehharmonika von dem schönen, beruhigenden und stärkenden Gesang einer Geige oder einer Harfe.

Es widerte ihn immer an, daß die Sonntagsruhe unserer großen Städte im Zeichen der Trägheit und des Stumpfsinns, der Niedrigkeit und Plattheit, der Frömmelei, des Alkohols und des Tabaks stand, und er wußte seinen Weg stets herauszufinden aus diesem öden Gemengsel. Dort lag der Wald, wo er am Sonnabend gewesen war, und dorthin zog es ihn wieder.

Er ging quer über einen schmalen Wiesenweg, und weil er seinen unbestimmten Gedanken eine feste Richtung geben wollte, griff er wieder nach seinem braunen Buche; indem er es aufs Geratewohl aufschlug, fand er, was er suchte:

»Wie herrlich leuchtet mir die Natur!
Wie glänzt die Sonne! Wie lacht die Flur!« – – –

Und er las und lebte, lachte und jubelte und betete mit in dem herrlichsten, schlichtesten Jubelliede:

»O Lieb', o Liebe! So golden schön
Wie Morgenwolken auf jenen Höh'n.«

Da lockte ihn irgend etwas Unbestimmtes, da trieb ihn irgend etwas Neues und Starkes, und er ging weiter und weiter, und es zwang ihn auf den Weg, den er gestern gegangen war.

Noch nicht sehr hoch stand die Sonne, da war er schon oben auf der Trift und sah auf das grüne Dorf Drömlingen hinab. Fast immerfort ruhten seine Blicke auf dem dichten Pfarrgarten, und er dachte dabei immerwährend an das Mädchen mit dem bunten Strauße aus Feld- und Waldblumen. Wie tausendmal verklärt stand ihr blühendes Bild vor seiner Seele.

Noch keine Viertelstunde war vergangen, da stand er an dem alten hölzernen Gartenzaun und spähte durch das Grün und strich hierhin und dorthin wie ein rechter, törichter Junge, der etwas sucht und nicht einmal weiß, was er sucht.

Schließlich wurde er des Umherstolperns in dem trocknen, ausgefahrenen Feldwege müde, und er setzte sich, der Gartenpforte gegenüber, auf den grasgrünen Grabenrand, von dem aus ein schmales Feld mit Luzerne und Klee sich nach der Trift hinaufzog.

So saß er lange in der Morgensonne und sah abwechselnd nach dem Garten und lesend in das braune Buch hinein.

Im Pfarrgarten, nicht weit von der Pforte, bemerkte er jetzt eine Lindenlaube, und es war ihm, als ob ein lebendes Wesen darin verborgen sei. Stieg jetzt nicht ein Rauchwölkchen auf? Kam ihm nicht ein leiser Geruch von Pfeifentabak in die Nase?

Nun fing es an, in der Lindenlaube zu husten und zu krächzen, und eine schwarze Gestalt zeigte sich gleich darauf. Kaum mittelgroß, vom Alter gebückt, in sanfter Wohlbeleibtheit, mit schwarzem Käppchen, unter dem spärliche, halblange weiße Haare wie vergessen hervorsahen, kam es aus der Laube heraus und blies mächtige Dampfwolken aus der langen Pfeife.

Die Glocken fingen an, voll zu läuten. Die Kirche begann, und der Mann aus der Lindenlaube nahm einen Augenblick die Pfeife aus dem Munde und rückte an dem Samtkäppchen.

»Das kann doch der Pastor nicht sein!« dachte Karl Sievers. »Warum geht er nicht in die Kirche, wenn er doch ein Pastor ist? Wie kann der Mann hier in so heidenmäßiger Seelenruhe seine Pfeife rauchen, die noch nicht einmal gut riecht? Was soll er aber anders sein als ein Pastor?«

Der alte Herr näherte sich gemächlich, in bequemen Schuhen über den Kiesweg schlürfend, der Gartenpforte. Als er sich auf den wackeligen Türpfosten lehnte und nach dem Kleefelde und der Trift ausschaute, erspähte er mit seinen alten, aber noch hellen Augen den Auswärtigen, der ihn mit fragender Verdutztheit ansah.

»Guten Morgen!« rief der alte Herr ermunternd über den Holperweg hinweg und stieß mit der Pfeifenspitze grüßend nach dem Käppchen. Karl Sievers empfand einen höflichen Schreck und sprang auf, den Gruß mit Hutabziehen erwidernd.

»Schöner Sonntagsmorgen!« fuhr der alte Herr fort. »Da geht man wohl nicht gern in die Kirche? Was ich sozusagen keinem verdenken kann. Ich war auch einmal jung!«

»Ja ja«, sagte Sievers, weil er wirklich weiter nichts zu der freundlichen Anrede zu sagen wußte. »Ja ja, Herr Pastor!«

»Pastor emeritus, wenn man will! Ich bin nicht der Pastor loci. Der ist in der Kirche und waltet seines Amtes. Ich esse das Gnadenbrot und rauche meine Gnadenpfeife. Ich bin alt und mürbe, emeritus, mox moriturus, me Hercle, zweiundachtzig, man denke!«

Karl Sievers war höflich näher gegangen und stand an der Gartentür, mit zuvorkommender Anerkennung nickend. Das gefiel dem alten Herrn, der gleich darauf weiter sprach:

»Man ist nicht aus dem Dörfchen? Ich kenne hier mit der Zeit jedes Gesicht. Nicht alle hier sind angenehm und erfreulich. Warum soll ich nicht gern einmal mit einem Fremden sprechen? Man wird entschuldigen! Senectus est natura loquacior! Cato maior de senectute. Man kennt es doch noch? Man sieht so aus, als ob man sich nolens volens eine gewisse klassische Bildung angeeignet hätte.«

»Ein wenig! Ich erinnere mich,« sagte Karl Sievers mit Hülfe eines schwachen klassischen Schimmers.

»Freut mich, freut mich! Ist sonst jetzt nicht mehr viel zu machen mit der altrömischen und griechischen Erziehung. Alles geht seinen Weg weiter. Andere Menschen, andere Zeiten. Mag auch wohl kein Fehler sein, daß es bald anders wird. Da ist mein Schwiegersohn, der Pastor loci! Auch kein Jüngling mehr, nimmt's aber noch mit jedem auf. Wie oft sagt er: Ein wunderliches Volk, diese lieben Deutschen! Seit Jahrtausenden lassen sie sich beherrschen vom römischen Recht, von griechischer Bildung und griechischem Denken, und von orientalischer Religion. Ja, ja, der Pastor loci weiß im Reiche der Welt mindestens ebenso gut Bescheid wie im Reiche Gottes. Ich kann es ihm nicht verargen. Unser Herrgott muß es wohl so haben wollen. Oft tut's mir fast leid, daß ich nicht mehr mitmachen kann. Aber ich bin zu alt dazu. Olen Hunnen is quad bellen lehren, sagt der alte Großvater Peggau immer, wenn jemand ihm irgend etwas erzählt, das er noch nicht kennt, oder irgend etwas von ihm verlangt, das ihm nicht paßt. Dann nimmt er seine kurze Pfeife aus dem Munde und spuckt weit weg, als ob er die ganze neue Zeit bespucken wollte. Ist aber nicht richtig. Unser Herrgott will keinen Stillstand.«

Der andere nickte wieder, bescheiden zustimmend, worauf der alte Pastor die Tür öffnete und ihn am Ärmel des hellen Sommeranzuges hereinzog.

»Man wird müde sein! Man kommt gewiß aus Braunschweig und ist früh aufgestanden. Im Garten sind Bänke für müde Wanderer, und nachher wird man, wenn man will, vielleicht auch ein Frühstück finden. Herberget gern, sagt der Apostel. Wenn die Kirche zu Ende ist, nimmt der Pastor loci ein kleines Frühstück unter dem Apfelbaum, mit Frau und Tochter, das ist nämlich die Grete, meine Enkelin, und ich gehe dabei hin und her, während sie unter dem Apfelbaum sitzen. Ich rauche meine Pfeife weiter. Mir taugt das viele Essen nicht mehr.«

Er zog nachdrücklich am Ärmel, als Karl zögerte.

»Man komme, man ziere sich nicht. Warum will man einem alten Manne nicht Gesellschaft leisten?«

Der Eingeladene gab jetzt mit auffallender Schnelligkeit nach, und nun ging die Wanderung mit vielen Fragen und Antworten im Garten hin und her. In zehn Minuten hatte der alte Pastor Schulte schon die halbe Lebensgeschichte seines neuen Freundes herausgeholt, zwischendurch auf seinen eigenen Lebensgang kurze Streiflichter werfend. Zuletzt blieb er mit neugieriger Wissenslust an Karls Beruf hängen und ließ sich lange Vorträge halten über Einrichtung und Betrieb des großstädtischen Wasserwerkes, das sein Staunen und seine Teilnahme im höchsten Grade erregte.

Drei Mal drei Schläge schlug das Glöcklein vom Turme, zum Zeichen, daß der Gottesdienst zu Ende sei, und die beiden im Pfarrgarten sprachen immer noch über des Wasserwerkes Herrlichkeit und Großartigkeit, wobei des alten Herrn jugendfrische Lernbegeisterung nicht müde wurde.

Dem Städter kam sein unbeabsichtigter, aber doch sehr erstrebter Aufenthalt im Drömlinger Pfarrgarten bereits ganz selbstverständlich vor, und als er durch die ruhende Gartenstille vom Apfelbaum her ein verheißungsvolles Klappern von Tellern vernahm, wurde es ihm noch gastlicher und traulicher zumute, und mitten in seine fachmännische Schilderung des Ozonisierungsverfahrens flog wieder der Gedanke an Grete Rautenstrauch hinein und verminderte die Klarheit und Anschaulichkeit ein wenig.

Auch der alte Herr hörte das Tellerklappern und rief laut nach der Richtung hin, wo der Apfelbaum stand:

»Grete, Gretelein, Margretlein, man stelle noch einen Teller dazu! Ich habe einen Gast, einen Hungrigen aus der Stadt!«

Grete lachte still vor sich hin, ohne zu antworten. Sie kannte schon ihres guten Großvaters kindlich vertrauensselige Neigung, gelegentlich einen fremden Gast, mit dem er sich gut unterhalten konnte, vom Feldwege weg durch die Gartenpforte einzufangen. Sie hatten sich beide gegenseitig oft damit geneckt.

Auf dem kurzen Wege in das Haus, der zwischen mannigfachem, hellgrünem Gebüsch hindurchführte, begegnete ihr die Mutter.

»Mutter, Großvater hat wieder eine Entdeckung gemacht und will noch einen Teller für seinen Gast haben!«

Frau Pastor Rautenstrauch lachte fein mit dem gütigen Munde und mit den ruhigen Augen. Wie sollte die Tochter die liebenswürdigen Absonderlichkeiten ihres Vaters nicht kennen!

Nach vollbrachter Arbeit kam der Pfarrer Rautenstrauch, um sich seines wohlverdienten Frühstücks zu bemächtigen, und Grete fing an, die beiden noch Fehlenden im Garten zu suchen. Sie ging der Stimme nach und hörte schon von weitem begeisterte Ausrufe ihres guten Großvaters:

»Herrlich! Unvergleichlich! Groß sind Gottes Werke, auch die Wasserwerke!«

Sie schienen eilig hin und her zu gehen. Wo waren sie denn nur? Halt, dort hinter jenem dichten Gebüsche! Sie zwängte sich hindurch und stand plötzlich vor den lebhaft Sprechenden.

Wenig glücklich gewählt war der Gesichtsausdruck, mit dem sich die beiden Jugendlichen betrachteten.

Das frühlingsfrohe Gretelein faßte sich zuerst und fing an, ziemlich rücksichtslos zu lachen, worin ihr Karl Sievers sogleich mit einiger Verlegenheit nachfolgte.

Großvater Schulte trennte seine Lippen von der Pfeife und zeigte mit ihr höflich nach seinem glänzenden Käppchen, was bei ihm der höchste Ausdruck von Höflichkeit war, wie er ihn auch seinem lieben Gott gegenüber anwendete, denn er setzte das Käppchen niemals ab. Zugleich begann er eine förmliche Vorstellung:

»Herr Karl Sievers, Wasserwerk aus Braunschweig. Meine Enkelin, Fräulein« – – –

Er sah, wie Grete dem Fremden die Hand reichte, und hörte erstaunt auf zu sprechen. Bald aber sagte er:

»Es scheint, man kennt sich bereits? So kommt denn meine Ankündigung zu spät? Wo hat man schon Bekanntschaft gemacht? In der Tat, klein ist die Erde und eng wohnt zusammen, was darauf wandelt!«

»Eine ziemlich namenlose Bekanntschaft, wenigstens meinerseits, Großvater. Sie stammt von gestern, von Wiese und Wald. Herr Sievers erteilte mir vorübergehend Anschauungsunterricht in der Pflanzenkunde.«

Und Grete erzählte kurz noch einiges vom gestrigen Abend.

»Es ist die Möglichkeit, wie Gott die Menschen zusammenführt durch seine Allmacht! Aber man lerne sich nun heute besser kennen, und mir erzähle man noch mehr von der edlen Wasserkunst,« rief der lebhafte alte Herr. Dann faßte er mit jedem Arme eins der beiden jungen Menschenkinder, ließ seine Pfeife kunstreich aus dem Munde hängen, wobei er sie vorsichtig im Gleichgewicht halten mußte, und schleppte alles zusammen unter den Apfelbaum an den Frühstückstisch.

»O Adolf, Pastor loci, einen herrlichen Fang habe ich heute getan! Während Du nur versucht hast, in Deiner Kirche Seelen zu fangen und nicht weißt, ob es Dir gelungen ist, habe ich wirklich eine lebendige Seele gefunden oder gefangen. Wie sagt jener Dichter? Wenn ich nicht irre, war es Lessing: Ich habe getan, was Du nur maltest! Und wie sagt jener andere klassische Dichter? Eine schöne Menschenseele finden ist Gewinn! Ich bringe eine klare, erfrischende, reine Seele, ich bringe ein ganzes Wasserwerk an den Tisch!«

Sie klang ein wenig unglücklich durch die Pfeife hindurch, diese lange Anrede, und der alte Herr hatte dabei die größte Mühe, die Pfeife unterdessen nicht aus dem Munde fallen zu lassen. Als alle fünf am Tische saßen, ging das lustige Sprechen und Lachen weiter, wobei der Zweiundachzigjährige die größte Tätigkeit entwickelte, schon deshalb, weil er nichts aß.

»Pastor loci, ich rate Dir, Dich in die Tiefen des Wasserwerkes zu versenken. Eine neue Erkenntnis wird Dir dann aufgehen. Viel hast Du Dich freilich der Naturwissenschaften beflissen, aber dieser Zweig der Wasserkunst ist Dir doch fremd. Ahnst Du, wie herrlich es ist, wenn beim Enteisenungsverfahren die Wasserstrahlen rauschend auf die Kokssteine brausen, um rein und goldklar wieder abzufließen?«

Pastor Rautenstrauch sah mit lächelndem Erstaunen von seinem Teller auf, zu dem ihn der Hunger niedergezwungen hatte. Dann winkte er seiner Gattin fröhlich zu, wischte sich mit dem weißen Tuche den bartlosen Mund und aß weiter.

Großvater Schulte sprach weiter:

»Das wunderbarste aber ist das Ozonisieren. Es muß unbeschreiblich schön sein! Riecht Ihr nichts? Auch hier ist Ozon! Köstlich, dieses Ozon! Welch' eine wunderbare, gesunde Luft in solchem Wasserwerke! Ah, ah!«

Er sog an der Pfeife, holte tief Atem und führte seinen Lungen in seiner Phantasie nichts wie reines Ozon zu.

»Ein frisches, selbstgelegtes Ei und einige Radieschen dazu, Herr Sievers,« ermunterte die Hausfrau.

Der Wasserjüngling aß mit recht gesundem Bestreben, und Grete gab ihm darin nicht viel nach. Sie saß ihm gegenüber und erfreute sich an seiner ruhigen, vornehmen Sicherheit, für die sie durch ihre gute Erziehung viel Sinn und Verständnis hatte, und er wiederum freute sich, wie gut sie schon am Vormittag angezogen war, und nicht minder auch die Frau Pastor, obgleich sie doch keinen Besuch erwarten konnten. Auch Karl Sievers war in seinem Vaterhause nicht in dem unausrottbaren Aberglauben aufgezogen, daß für die Angehörigen jeder nachlässige Anzug gut genug sei, während man sich für einen beliebigen Fremden schmücken müsse. So oft hatte ihm sein kluger Vater gesagt: »Sich den Menschen, die man am liebsten hat und die man am höchsten achten soll, stets in vernachlässigter und minderwertiger Kleidung zu zeigen, das ist auch eine von den vielen unbegreiflichen Kulturlügen, wegen derer uns spätere Jahrhunderte mit Recht verspotten werden. Sich für die Gassen schmücken und für fremde Menschen zieren, die man oft sogar verachtet – ein wunderliches, aber sicheres Kennzeichen des deutschen Bürgerstandes!«

Zwischen Landbrot, Butter, Eiern und Radieschen wurde nach und nach die ganze moderne Wasserversorgungstechnik aufgerollt und vorgetragen, und der alte Herr ozonisierte sich selbst, seine Umgebung und den halben Garten mit Tabak.

Durch die dichten Zweige des hohen Apfelbaumes drangen nur wenige Sonnenstrahlen, trotzdem wurde es sehr warm ringsum.

»Noch ein Radieschen, Herr Sievers,« bat Grete und hielt dabei eine weiß und rot glänzende Wurzel in die Höhe.

»Ich danke, mein Fräulein.«

»Noch ein einziges, ganz ohne Brot. So recht frisch!«

»Ja, wenn es denn das sein darf, das Sie in der Hand halten!«

»Warum nicht?«

Er griff schnell zu, und sie kam ihm mit der Hand entgegen. So kam es, daß er statt des Radieschens die ganze Hand erfaßte, und es durchzuckte ihn. Auch Grete fuhr zusammen, und langsam zog ein feines Rot über ihr frisches Gesicht. Während Karl das Radieschen aß, sprach Pastor Rautenstrauch, der endlich satt geworden war:

»Nur kein Salz zu dieser schönen Frucht! Damit geht der ganze innere Wert, die ganze Reinheit verloren! Nur wer auf immer neue Reizmittel angewiesen ist und seinen abgestumpften Geschmack aufstacheln muß, wälzt die Radieschen in Salz umher. Ebenso ist es mit dem Ei. Ich begreife nicht, warum die Menschen jedes Stückchen Ei erst mit Salz bestreuen müssen! Die ganze Zartheit wird durch diese stumpfe und gedankenlose Salzesserei getötet.«

»Man mag Recht haben oder auch nicht, Pastor loci, – was ist mir das alles gegen meine Pfeife! Mir schmeckt im Vergleich dazu kein Ei und kein Radieschen, einerlei, ob mit oder ohne Salz.«

»Deine Geschmacksnerven sind schon ganz zu Tabak geworden; auf etwas anderes antworten sie überhaupt nicht mehr«, scherzte Rautenstrauch.

»Du magst hierin Recht haben! Man kommt nicht mehr davon los. Gott mag es wohl so wollen!«

Während dieser Reden hatte Karl Sievers mit einem langen Blicke in Gretes Augen gesehen, die so seltsam glänzend und träumerisch leuchtend in die Ferne blickten.

Da hatte er erkannt, daß sie Sonnenaugen hatte.

Er wußte diese Augen nicht anders zu benennen und konnte sie nicht anders beschreiben.

Und als Grete fühlte, daß er sie anschaute, da sah auch sie langsam zu ihm hin und erkannte seine Seele in ehrlicher Reinheit und verlangender Ehrlichkeit.

Als alle vom Tische aufstanden, wollte sich der Gast verabschieden.

»Mit nichten, junger Freund«, hinderte ihn Großvater Schulte. »Man bleibe! Man esse bei uns auch zu Mittag und weihe uns weiter ein in die Schönheiten des Wasserwerkes. Am Nachmittag erst wird es behaglich im Pfarrhause, wenn der Pastor seinen Dienst getan hat.«

Karl zögerte, bis Rautenstrauchs mit fröhlichem Lachen zustimmten, wenn sie innerlich auch vielleicht nicht so sehr von des Großvaters fortgesetzter Harmlosigkeit erbaut waren.

In echter Güte aber hüteten sie sich, den guten Alten zu kränken. Mochten sie denn auch schließlich ihre Gastlichkeit an einen Unwürdigen verschwendet haben! Sie kannten ihn nicht; am Abend würde er wieder gehen, vielleicht ein paar Tage über die einfältigen Dorfpfarrersleute lachen – und am nächsten Sonntag schon war alles vergessen! Großväterchen aber hatte wieder seine Freude gehabt und eine neue Anregung für sein lebhaftes Alter gewonnen.

Nur Grete schwieg still und sah wie lange fragend sonnig zur Sonne hinauf.

Als Karl sie so still und schön stehen sah, entschloß er sich fest zum Bleiben.

Der Pastor zog sich in sein Arbeitszimmer zurück und die Frauen trafen Anstalten, in das Haus zu gehen. Großväterchen erklärte sich plötzlich für müde, denn das außergewöhnlich viele Reden und Fragen hatte ihn angestrengt, und bat den Fremden, ihn bis zum Mittag zu beurlauben.

»Man ergehe sich hier nach Herzenslust im Pfarrgarten! Wie sagt der selige Mathisson? Einsam wandelt Dein Freund im Frühlingsgarten! Es singt's keiner mehr, dies wundervolle Lied, das mir in meiner seligen Jugend heiße Tränen edler Rührung und wonnevoller Schwärmerei entlockte! Jetzt lacht man wohl über dergleichen. Man ergehe sich und schwärme, wenn man nicht zu nüchtern dazu ist, aber man verspreche mir, – bei den Gebeinen meines Rollers schwöre man – nicht auszureißen, junger Mann!

Karl lachte und schwur, auf den Scherz eingehend:

»Bei den Gebeinen Ihres Rollers, ich will Sie heute Nachmittag nicht verlassen!«

Er versprach das gern und mit voller Überzeugung.

Als er aber dann so lange Zeit und so allein durch den Garten hin und her wanderte, kam ihm zuweilen sein Sonntagserlebnis halb lächerlich, halb ärgerlich vor, bis er dauernd an Grete dachte und seine Gedanken nicht wieder von ihr losmachen konnte.

Die Mittagsschwüle lag über dem großen, dicht bewachsenen Garten, der kein Ende zu haben schien, weil er sich nach allen Richtungen hin ausdehnte.

Zuletzt streckte sich Karl am Rande des kleinen Teiches in das Gras und nahm das braune Buch aus der Tasche. Aber er konnte nicht gleich etwas Passendes finden. Warum sollte er lesen, wo ihm doch das blühende Leben so nahe war?

»Grete«, sagte er halblaut, und dann noch einmal, als ob er prüfen wolle, wie es klänge. Und er horchte lange auf den Nachhall seiner eigenen Stimme.

Da, wo der Gemüsegarten war, sah er plötzlich durch einen schmalen Spalt zwischen zwei Büschen ein helles Kleid sich bewegen. Das mußte Grete sein!

Er sprang auf und ging näher hinzu. Ja, dort waren die wohlgepflegten Gemüsebeete. Grete pflückte Salat zum Mittagessen. Karl Sievers stand vor ihr.

»Soll ich helfen?«

»Warum nicht? Wenn Sie es können?«

Er nahm sein Taschenmesser heraus und schnitt einen Salatkopf ab.

»Nein! Der ist zu groß, zu hoch aufgeschossen! Solche sind für die Hühner bestimmt. Nehmen Sie die jungen und zarten, solchen wie diesen da!«

Er stimmte lachend zu, schnitt von neuem und reichte ihr den Kopf hin, den sie in den Korb tat, nachdem sie sorgsam eine kleine Schnecke von einem äußeren Blatte abgenommen hatte.

Unvermittelt fragte er plötzlich:

»Was denken Sie über mich sonntäglichen Eindringling?«

»Wenig oder nichts«, antwortete sie, indem sie die Salatköpfe im Korbe zählte.

»Ich danke herzlich! Halten Sie mich für anmaßend oder für töricht?«

»Vier, fünf, sechs, sieben – – sieben Köpfe sind genug.«

»Bitte, antworten Sie mir doch!«

»Habe ich mich auch nicht verzählt? Eins, zwei, drei vier« – – –

»Wollen Sie mir nicht antworten?«

»Fünf, sechs, sieben.«

»Bitte, antworten Sie doch!«

»Warum nicht? Ich habe nichts dagegen einzuwenden, wenn es Ihnen in unserm Garten gefällt.«

»Sie müssen sich doch wundern, wie ich hierher komme!«

»Das ist möglich. Übrigens muß ich jetzt in die Küche.«

Sie ging mit dem Korbe davon, was ihn veranlaßte, hinterher zu gehen.

»Wollen Sie denn nicht hören, was ich sagen will?« sagte er eindringlich, weil er durch ihren Widerstand immer hartnäckiger wurde.

»Wenn Sie es durchaus für nötig halten, jetzt etwas zu sagen, – warum nicht?«

Sie stand stille, stellte sich vor ihn hin und sah ihn an. Die Mittagssonne schien senkrecht in ihr schönes, warmes Kindergesicht; die Augen hatten alles Sonnenlicht aufgenommen, das durch den Garten brannte; sie spiegelten es wieder und gaben es an Karl Sievers weiter.

Er wollte sprechen, aber er wußte jetzt nicht, was er sagen sollte, und war doch zuerst so reich an Mut gewesen.

»Ich warte!« sagte sie.

Was sollte er sagen? Warum war er heute morgen aus der Stadt nach dem Dorfe gegangen? Wußte er es denn?

Er dachte noch eine Weile nach. Und dann sah er das Mädchen mit einem langen Blicke an, bei dem es wie ein großes, erhabenes, reiches Wissen über ihn kam, als ob er einen ungeheuren Sieg erringen würde über sich selbst, über alle Menschen, über das ganze Leben.

»Ich weiß es, und ich will es sagen«, sagte er kühn, langsam und fest. »Ich bin heute morgen mit der Sonne in den Wald gegangen, dorthin, wo ich Sie gestern traf. Dann ging ich denselben Weg wie gestern, weil ich an Sie dachte. Eine Stunde habe ich an der Trift hinter dem Pfarrgarten gesessen, bis mich Ihr Großvater hereinrief. Ich wollte, ich mußte Sie wiedersehen!«

Sie sah ihn wiederum groß an und um ihre Lippen zuckte es. Niemand hätte sehen und sagen können, ob es wie ein Lächeln oder wie ein Weinen war.

Da sprach er weiter:

»Weil Sie mich gefragt haben, habe ich es gesagt. Und jetzt stehe ich hier, und ich sehe Sie an, weil Sie Sonnenaugen haben, und weil ich das helle Licht und die Sonne liebe. Ich will nicht lügen und mich nicht verstellen. Und wenn ich jetzt fortgehen soll, so sagen Sie es mir!«

Grete wendete sich langsam und ging zwischen den grünen Sträuchern dem Hause zu. Ihr Gesicht brannte.

War denn die Mittagssonne gar so heiß? Konnte so viel Glut von der schönen Bläue dort oben kommen?

Er rief noch einmal:

»Soll ich gehen?«

»Nein«, antwortete sie, drehte sich halb um und lachte, weil sie sich schnell wieder zurecht gefunden hatte. »Es wäre schade um den schönen Kopfsalat. Ich habe zwei Köpfe für Sie bestimmt. Denken Sie, zwei Köpfe!«

Sie verschwand hinter der grün angestrichenen Tür des Pfarrhauses, die sie halb offen ließ.

Er schwieg und sah ihr nach.

Lange stand er in der Sonnenglut und wußte nicht, ob er verzaubert war, ob er träumte oder ob das alles echtes Leben war. Dann ging er in Licht und Schatten durch den Garten, hierhin und dorthin, ohne Plan und ohne Wahl, und wie Licht und Schatten wechselte es auch in seinem Innern. Was war er noch gestern, als er auf seiner Waldwiese in der Mittagssonne lag, und was war er heute? Wie ein siegessehnsüchtiger Stolz war es über ihn gekommen, und er fühlte sich so schwebend und hoch, wie ihn das Leben bisher noch nie getragen hatte.

Das Mittagessen unter dem Apfelbaum war harmlos und fröhlich.

»Man hat einen köstlichen Hahn gebraten!« sagte der alte Herr und zwinkerte seiner Enkelin zu. »Möchte man nicht ein Glas Wein dazu trinken?« wendete er sich dann an den Gast.

Der Pastor fiel ihm in die Rede, als er höflich dankend ablehnen wollte.

»O gewiß, ich vergaß ganz! Sofort gehe ich in den Keller.« Er kam bald zurück mit einer verstaubten Flasche, und bald glänzte das Sonnengold im Golde des Weines.

» Gaudeamus igitur, juvenes dum sumus! Man lache nicht! Man kann noch jung sein, wenn man zweiundachtzig ist, und man kann ein trauriger Greis sein, wenn man zweiundzwanzig ist. Es lebe die ewige Jugend!«

Alle freuten sich über den fröhlichen Alten und stießen leise mit den Gläsern an, die alt und wunderlich geformt waren. Karl Sievers hatte die Empfindung, als ob er gänzlich trunken sei von Sonne und Frühling, Sonntag und Liebe.

»Man hat leider nicht studiert«, fragte Großvater Schulte bedauernd, »und nicht den Hieber geschwungen, wie wir einst?«

»Wie man es nennen will«, sagte Karl bescheiden. »Auf den technischen Hochschulen wird es so ähnlich getrieben wie auf den akademischen.«

»Mir scheint, Herr Sievers hat einmal einen Hieb mit der Stirn aufgefangen«, lachte Grete und zeigte die entsprechende Stelle an ihrer Stirn, wo an Karls Stirn eine feine Narbe steil herunterlief.

Alle sahen ihn forschend darauf an und fanden, daß sie recht hatte.

»Wunden zieren den Mann, wenn sie in ehrlichem Kampfe erworben sind. Man sehe den Pastor loci an! Man sehe den roten Streifen, der seine würdige Nase in zwei quere Hälften getrennt hat. Auf unserer lieben Landesuniversität Göttingen hat man immer eine gute Klinge geschlagen. Auch der Theologus muß sich wehren. Erzähle doch, mein lieber Pastor loci, unserm Gaste die treffliche Geschichte, wie du jene Narbe an deiner köstlichen Nase erwarbst!«

Und der wackere Rautenstrauch erzählte mit behaglicher Breite, wie er vor fünfunddreißig Jahren mit einem gewaltigen Fechter auf der Mensur gestanden hatte, der ihn gar rücksichtslos in seine Nase traf. Wie er dann noch das Mißgeschick hatte, daß ihm der unerfahrene Paukarzt den Nasenflügel an die Nasenscheidewand annähte, so daß wiederum eine schmerzhafte, künstliche Trennung und nochmalige Naht erfolgen mußte. Wie er vor Begierde brannte, ein zweites Mal mit dem gefürchteten Gegner die Klinge zu kreuzen und wie es ihm dann nach heißem Kampfe gelang, dem Gegner die linke Wange zu spalten. Und dann kam der Schluß, den er stets in derselben Weise erzählte, wenn die Geschichte vom Stapel gelassen wurde:

»Ich legte meine ganze Seele in den Hieb! Wahrhaftig, das tat ich. Meine ganze Seele! Und was tat der arme Kerl? Was glauben Sie, daß er tat?«

Der Erzähler sah sich nachdrücklich fragend im Kreise um. Niemand antwortete natürlich.

»Sie können es sich nicht vorstellen! Es tat mir leid, wirklich, aber es war nicht zu ändern. Er drehte sich um und spuckte drei Zähne aus. Drei Zähne! Seit der Zeit hieß man mich in Göttingen den Zahnbrecher. Und doch, was meinen Sie, wir sind nachher die besten Freunde geworden! Der Mann lebt noch und ist Notar in Helmstedt.«

Kurzes, andächtiges Schweigen und bewundernde, fröhliche Zustimmung folgten der Erzählung, bis Karl sagte:

»Ist auch das Fräulein auf der Mensur gewesen? Ich sehe eine Narbe von der Nase bis zur Oberlippe.«

»Ich bin als Kind in eine Sense gefallen; als mein Vater mähte, dort hinten am Teiche unter der hohen Akazie.«

»Ein unschätzbares Kennzeichen«, sprach Großvater Schulte dazwischen, »wenn man verloren geht. Sichtbare Narben trägt die Jugend gern, bis ihr das Leben tiefe, unsichtbare Wunden schlägt, die schwerere Narben hinterlassen. Hoffen wir, daß diese den beiden Kindern die einzigen Narben sein und bleiben werden. Gaudeamus igitur!«

»Noch etwas Kopfsalat, Herr Sievers«, nötigte die Frau Pastor.

»Zwei Köpfe muß ich essen«, sagte Karl mit scherzender Wichtigkeit.

»Warum gerade zwei?« fragte die Hausfrau.

Grete und Karl sahen sich an und lächelten wie mit plötzlicher Vertrautheit.

»O, ich meine nur so! Weil mir das so vorgeschrieben ist. Und er ist wirklich so schön frisch und grün«, sagte Karl ein wenig ausweichend.

Die Hausfrau ging nicht weiter darauf ein.

Nach Tische nahm der alte Pastor Schulte seinen Gast wieder ganz in Beschlag.

»Was für Pläne hat man für den Nachmittag? Hat man Verabredungen in der Stadt? Oder will man hier bleiben? Im Wasserwerke ist doch Sonntags nichts zu tun, oder rinnen auch für Sie dort die nassen Wogen der Begeisterung am Sonntagnachmittag?«

Karl wußte nicht recht, was er sagen sollte. Dieser Sonntag wurde immer absonderlicher. Fremd hineingeraten in ein fremdes Pfarrhaus, würde er vielleicht nicht mehr so fremd hinausgehen.

Grete trug die Teller in's Haus, und er sah ihr nach.

Fremd? Nein, er war schon jetzt nicht mehr fremd.

Er war in einen Wundergarten geraten, nach dem er sich schon lange unbewußt in seinem ganzen jungen Leben gesehnt hatte, und es war ihm jetzt, als ob er schon einmal hier gewesen sei, als ob er manches in ähnlicher Weise schon einmal erlebt habe. So lebhaft und deutlich waren die Bilder, die er hier sah und im Innersten erlebte!

Ein jeder, den die klare Welle des Geistigen ein wenig höher hob, sehnt sich unbewußt sein ganzes Leben hindurch nach dem schönen Wundergarten, wo die sanfte, weiche und doch so stark duftende Blume des Gemüts wächst und blüht, wo die festen, hohen und gewaltigen Bäume der Treue wachsen und wo die reinste Natur der Liebe in ihrer frohesten Schönheit sich dehnt und streckt. Aber wie wenige nur kommen in diesen Wundergarten hinein! Vor dem Tore pflücken sie ihr Lebenlang die scharfen Disteln des Neides, die übeln Wucherblumen der Erwerbssucht und die schwülen Giftblumen der versteckten und abirrenden Sinnlichkeit; und stolz und selbstgefällig wandeln sie auf den dürren Grashalmen ihrer öden Nichtigkeit, und weil sie nicht hinein können, werfen sie Steine und übele Kräuter in den schönen Wundergarten. Aber die Steine tun dort keinen Schaden, und die bösen Kräuter verdorren und schlagen keine Wurzeln.

Karl Sievers glaubte, er sei in dem Wundergarten, und darum wollte er bleiben. Er wußte nicht, wann er je wieder hineinkam.

»Wenn ich darf, Herr Pastor, will ich gern noch eine Stunde bleiben.«

»Man darf! Selbstverständlich darf man, lieber Freund! Warum soll man nicht dürfen? Eine derartige Lizentia soll man niemand versagen, junger Freund. Nur lasse man mich jetzt ein Weilchen auf mein Zimmer gehen. Man sehe, dort, hinter jenem Giebelfenster ist es, wo der Nußbaum seine Zweige hinaufstreckt. Gar traulich ist's da oben, wenigstens für mich alten Weltabgeschiedenen. Man kennt den weisen Spruch: Post coenam stabis aut mille passus meabis, nach dem Mahle sollst du stehn, oder tausend Schritte gehn. Ich halte es noch weniger mit dem Gehen als mit dem Stehen, wohl aber mit dem Ruhen. Man möge als Vertreter der Jugend die tausend Schritte wählen, oder auch zweitausend. Der Garten ist weit, weit wie das Gefilde um Troja, nur schöner und fruchtbarer, und nirgends lauert ein mörderisches Eisen. Deinos und Phobos haben keinen Platz an dieser friedlichen Stätte. Man entferne sich jedoch nicht zu weit und sammle sich wieder unter dem Apfelbaum, wenn die Pastorin zum Kaffee ruft« – – –

Mit eiliger Langsamkeit ging der alte Pfarrer davon, nachdem er noch einmal grüßend mit der Pfeifenspitze nach dem Käppchen gezeigt hatte. Flüchtige Tabakswolken von sanftem Geruche umzogen ihn und entschwebten leicht in die heiße Sommergartenluft hinein.

Karl Sievers ging wieder wie am Vormittage im Garten umher, blühende Träume lachenden Lebens mit sich tragend. Er sprach mit Blumen und Sträuchern, mit Bäumen und Vögeln; er lag am Teiche in der Sonne und suchte nach schönen weißen Wolken, die selten und einsam am lichtblauen Himmel glänzten in ihrer stillen und vornehmen Schönheit, in ihrer schwanengleichen Reinheit und ihrer schimmernden Anmut. So ruhig und heiß war die blaue Luft, daß die weißen Wölkchen über den ganzen Himmel zogen, ohne ihre flüchtige Gestalt zu ändern. Sie zogen vorüber wie ein schöner, ernster Gedanke durch die Seele eines Menschen zieht, ein Gedanke, dessen Reinheit und Wahrheit der zerstörende Windhauch des Zweifels nicht erreichen und verändern kann.

Karl blickte lange nach der singenden, stummen Schönheit einer einzigen Wolke und suchte dabei nach einem Gedanken, nach einem hohen Ziele in seiner Seele; ob sie wohl einer solchen Wolke ähnlich sein könnten an Anmut, Reinheit und Schönheit?

Er fühlte, vielleicht würde er in diesem Pfarrgarten finden, was er suchte.

Ein Schmetterling von seltsamer Buntheit zog vor ihm her; er flatterte in wunderlichen Linien vor ihm auf und nieder, und Karl ging ihm nach. Nun flog der Bunte über den hohen Zaun, der den Hof von dem Garten trennte. Karl ging durch die Tür und folgte auf den grünen Hof, weil er seine Freude an dem schweigsamen Hin- und Herflattern hatte. Jetzt aber hörte er vom Hühnerstalle her plötzlich ein nachdrückliches Kakeln und ein lärmendes Hühnergekreisch, und gleich darauf kam eine große, gelbe Henne mit dicht befiederten Füßen aus dem Stalle, mit lächerlich schwerfälliger Behendigkeit und beleidigter Wichtigkeit einhereilend. Sie hatte ein ganz menschliches Gebahren an sich.

Hinter der gelben Henne kam Grete Rautenstrauch, schlank und sonntagsfrisch im hellen, lachenden Sommerkleide. Sie trug einen kleinen Korb, mit gelben und weißen Eiern gefüllt, und lachte mit übermütiger, kindlicher Fröhlichkeit hinter dem gelben Tiere her. Als sie den Gast nicht weit von der Stalltür stehen sah, rief sie ihm zu:

»Wochenlang schon sitzt sie im Stalle umher, diese gelbe Dame, und versucht, mir die Eier anzubrüten! Wer weiß, wie oft ich sie täglich vom Neste jage. Ich darf ihr sonst nichts tun; ich würde sie gern zur Abkühlung in den Keller sperren, in die Besserungsanstalt, nach Bevern, wie meine Mutter sagt, aber ich darf es nicht, denn sie ist meines Vaters Lieblingshenne. Er hat sie die Tradition genannt.«

»Warum?« fragte Karl.

»Weil sie so außerordentlich fett und schwerfällig ist! Mein Vater sagt, die Tradition ist wie eine alte Henne, die über jedes neu gelegte Ei kakelt und sich zuweilen auch auf neue Eier setzt und sie ausbrüten will. Aber sie drückt meist die guten Eier tot und sitzt vergebens auf den tauben Eiern. Selten, daß sie einmal etwas Lebensfähiges ausbrütet. Immerhin, solange die Tradition so fett ist und zuletzt eine gute Suppe gibt, muß man sie noch pflegen und sie in gewissem Sinne hochhalten!«

Karl Sievers konnte vor glückseliger Fröhlichkeit nicht antworten, als er das liebe, lustige Mädchen sah.

Der flatternde Schmetterling war ganz vergessen; das bunte Phantom, das ihm den Weg gewiesen hatte, war verflogen vor dem gesunden, blühenden Leben.

Die ungeschickte Henne, von Grete lachend weiter gejagt, flatterte gegen seine Kniee.

»Vorsicht!« rief Grete lachend, »die Tradition will Sie umwerfen!«

Nun fing auch Karl an zu lachen und griff nach dem gelben Riesenhuhne, ohne es fangen zu können.

»Lassen Sie die Tradition in Ruhe, Herr Sievers!«

»Ich fürchte mich nicht davor, Fräulein Rautenstrauch.«

Er stand jetzt dicht vor ihr und sah sie wieder lange an, und das Leuchten von vier jungen Augen ging hin und her; was von lichtverlangenden Keimen da war, das wuchs rasch und sehnsüchtig auf unter dem starken Zauber von Gretes Sonnenaugen.

Karl Sievers fürchtete sich nicht; er kannte wohl eine Scheu, aber nicht eine Furcht.

Und wenn es auch am hellen Sonntagnachmittage mitten auf dem Pfarrhofe war, und wenn er auch das Pastorsmädel seit kaum einem Tage kannte, und wenn er auch nicht wußte, was sie dabei tun oder sagen würde, – er hätte sie furchtlos und fest in die Arme genommen und sie treu gehalten und auf den Mund geküßt, denn nach allem diesem stand sein Sinn, – aber es war nicht möglich. Ganz unmöglich war es; ein schweres Hindernis war vorhanden, gefährlich durch seine Empfindlichkeit, Zerbrechlichkeit und traditionelle Nachgiebigkeit:

Der Eierkorb!

Was wäre wohl aus dem Eierkorbe geworden?

Unausdenkbarer Gedanke!

Hätte er wohl sagen sollen:

»Mein Fräulein, bitte, setzen Sie ihren Eierkorb nieder?«

Nein! Dadurch wäre der schöne Zauber der Stimmung entwichen.

Er wollte auf eine andere Stunde warten, wo Grete mit den Sonnenaugen ohne Eierkorb vor ihm stehen würde. Ja, auf diese Stunde wollte er sich von jetzt an freuen; mit heißer Hoffnung wollte er ihr schon jetzt entgegenlachen. Seiner raschen Liebe sollte ein rascher Sieg folgen!

Scherzend verbeugte er sich.

»Mein Fräulein, soll ich Ihren kostbaren Eierkorb in die Küche tragen?«

»Nein, mein Herr, ich traue Ihnen darin nicht. Wer weiß, was Sie damit tun! Gehen Sie unter den Apfelbaum. Das Pfarrhaus versammelt sich dort.«

Sie ließ ihn stehen und er sah ihr wieder nach, bis sie die drei Stufen zur Haustür hinaufgegangen war, schlank und grade, mit sicherm, freiem Schritte. In ihrem Gange war nicht das hastige, suchende, unsichere Trippeln und das kleinliche, wie zerfahren aussehende Auftreten so vieler junger Mädchen, deren Seele niemals sicher gehen gelernt hat und deren Füße deshalb gleichfalls unsicher bleiben. Was den meisten Mädchen Schule und Elternhaus geben, das genügt nicht, um sie fest stehen und ruhig gehen zu lassen; es ist meist nur ein Drehen und Schwanken, ein suchendes Tasten und Trippeln.

»Grete,« sagte Frau Pastor Rautenstrauch zu ihrer Tochter, die sie im Hausflur traf, »was hältst Du von Großvaters Gast?«

Grete sah ihrer lieben Mutter ein Weilchen in die schönen, ruhigen Mutteraugen, als ob sie erst von dort die Antwort holen müsse; dann sagte sie langsam und ernst:

»Mutter, ich weiß es nicht.«

Dabei blickte sie nach oben, nach dem hohen Flurfenster, durch das ein helles Licht hereinflutete, und als die Mutter diesen glänzenden Blick sah, dachte sie:

»So glänzen die Augen unserer Grete, wenn sie recht glücklich ist und doch nicht weiß, warum. Diesen Blick an ihr kannte ich schon, als sie noch ganz klein war. Es war mir so, als ob sie schon in ihrer ersten Lebensstunde mich so angeblickt habe, als sie zum ersten Male die Augen öffnete. So sah sie aus, wenn sie sich an meiner Brust satt getrunken hatte und im Einschlafen glücklich zu mir emporblinzelte. Ach, daß ich das sonnige Glück, ein Kind an der Brust zu haben, nur einmal genießen konnte! So sah sie später aus, wenn sie ein armes Kind oder eine arme alte Bettlerin beschenkt hatte, oder wenn sie ein schönes Bild sah oder in eine lebendige Landschaft schaute, wenn sie sich über eine Blume, einen Baum, eine sonnenbestrahlte Wolke freute, wenn sie ein schönes Gedicht gelesen hatte oder ein reines, hohes, freies Lied gesungen – immer sah sie so aus, wenn sie eine große, reine Freude hatte. Warum leuchten ihre Augen so, wenn ich nach dem Fremden frage?«

Still gingen die beiden in die Küche.


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