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Das zweite Heft
der
Aufzeichnungen des Filmoperateurs
Serafin Gubbio

 

§ 1

»Grossvaters Haus« – süsses kleines Landhaus voll unaussprechlichen Duftes alter Erinnerungen! Darin alle Geräte nicht tote Dinge waren, sondern ein inniges Teil des Daseins seiner Bewohner. Und wie geheimnisvoll der Hauch des Lebens, der um sie durch diese Räume strich!

Noch sehe ich den dunkeln, etwas zerfallenen Saal vor mir mit den Stuckwänden, die viereckig abgeteilt, so taten, als wären sie aus Marmor. Immer ein rotes und ein grünes Quadrat und ein jedes sorgsam eingerahmt von einer Girlande, die auch aus Stuck war. Und mit der Zeit waren die Quadern auch müde geworden und hier und da angeschwollen oder geborsten. Doch die Risse schienen mir freundlich zuzuflüstern: Bist du auch arm und hast einen zerschlissenen Rock? Ja, siehst du, auch wir – in den Häusern der Reichen ...

Der Fussboden aus richtigem Marmor war schon etwas vergilbt und die zwei Fruchtkörbe, die in den Ecken darauf gemalt waren, spiegelten sich in den geneigten Wandspiegeln wider, als seien es vier und nicht zwei. Die ganze reglose Ruhe des Hauses schien aus diesen Spiegelbildern zu sprechen.

Dann war da der Gartensaal – mit dem abgenützten Schachbrettfussboden aus bunten Tonfliessen, mit der beblümten, verblichenen Tapete und den ebenso beblümten und verblichenen Vorhängen an Fenster und Glastür, durch die man auf die kurze Holztreppe mit dem grünen Geländer und auf den Laubengang des kleinen in lichtem Schweigen verzauberten Gärtchens sah.

Grün und heiss dringt das Licht durch die Spalten der Fensterläden, aber es kann sich nicht im Zimmer verbreiten, das immer in kühlem Halbdunkel bleibt und doch voll ist von den Düften des Gartens.

»Giorgio! Giorgio!« Wer ruft so aus dem Garten? Die Grossmutter – Nonna Rosa nennen sie alle – die sich mit ihrer grossen Gartenschere vergeblich müht, den Jasmin von der hohen Gartenmauer herunter zu schneiden.

So war dies kleine Häuschen – »Grossvaters Haus« – in sich abgeschlossen und unberührt von dem, was draussen geschah, hinter seinen grünen Hügel geduckt, als habe es gar kein Verlangen nach dem schönen, weiten Blick über Meer und Bucht.

Früher war an dem Torpfeiler einmal ein Marmorschild gewesen, das den Namen des Besitzers trug: Carlo Mirelli. Aber Grossvater Carlo entfernte es, als der Tod zum erstenmal bei ihm Einkehr hielt und ihm den dreissigjährigen Sohn raubte, der selbst schon Vater zweier Kinder war. Glaubte der Grossvater wohl, wenn man das Namensschild wegnehme, werde der Tod seinen Weg nicht mehr hierher finden? Obwohl er doch seinen Horaz ebenso gut kannte wie seine Bibel und wohl wusste, dass der Tod aequo pede an alle Türen schlägt, ob sie ein Namensschild tragen oder nicht!

Oder wollte er, als er das Schild fortnahm, vielleicht nur andeuten, dass es nun, nach dem Tode des Sohnes, doch mit dem Leben hier für immer zu Ende sei?

Doch bald darauf hielt der Tod wiederum Einkehr. Eine Lebendige war es, die jede Nacht nach ihm rief und verlangte: die junge Witwe, die nach dem Tode des Mannes sich fremd fühlte im eigenen Haus. So blieben die Kleinen als Waisen zurück: Lydia fast fünf und Giorgietto drei Jahre alt, unter der Obhut der Grosseltern.

Und diese beiden, Grossvater Carlo und Grossmutter Rosa, vollbrachten nun das Wunder, dass sie ihr eigenes Leben, das schon abnehmende, gleichsam von vorne begannen. Dass sie alle Andacht der ersten Kindheit bei der Sorge um die beiden Kleinen wiederum empfanden; dass sie handelten, dachten und sprachen, als wüssten sie noch nichts darüber hinaus und besässen noch das Staunen der ersten Anschauung. Sie taten wohl mehr für die Kleinen, als Vater und Mutter – selbst noch jung und eigenen Lebens bedürftig – jemals hätten tun können, wären sie am Leben geblieben.

So lebten die beiden Alten ihr Leben mit den Kindern gleichsam von neuem und vergassen alles, was draussen gewesen, auch den Tod. Jenseits des Gartengitters gab es keine Welt mehr für sie, sollte es keine mehr geben.

Und doch stand jenseits schon eine, die wartete und war viele Meilen weit hergekommen und niemand wusste, wie sie den Weg hatte finden können zu dem versteckten Häuschen hinter dem grünen Hügel: eine Frau, für die der Friede und die Liebe, die dort herrschten, unverständlich bleiben mussten und unerreichbar.

Sie war nicht vor das Gartentor hingetreten, von dem Grossvater Carlo einstmals das Schildchen hatte entfernen lassen. Sie hatte auch nicht die Hand gehoben, um an der Klingel zu ziehen, dass man das Gitter öffne. Aber in einiger Entfernung hatte sie gestanden und gewartet, dass ein schöner Knabe, bis dahin ängstlich an Leib und Seele von den beiden Grosseltern bewacht, glühend und mit traumbeschwingter Seele aus dem Tor trete, voll Verlangen – dem Leben entgegen.

Ach Nonna Rosa, und da ruft Ihr noch immer in dem Gärtchen nach ihm, dass er Euch helfe, mit der langen Gartenschere Eure schönen Nachtjasmine zu pflücken: Giorgio! Giorgio!

Noch klingt mir Eure Stimme in den Ohren, Nonna Rosa. Damals habt Ihr noch nichts geahnt von allem was geschehen sollte, damals, als ich in den Sommerferien allmorgentlich von Sorrent hinaufstieg, um Enkel Giorgio für die Oktoberprüfung vorzubereiten. Der aber wollte nichts wissen von Latein und Griechisch und bekritzelte jedes Fetzchen Papier, das ihm unter die Finger kam, mit Zeichnungen und Karikaturen, jeden Buchrand, jede Schreibtafel und sogar die Platte des Arbeitstisches. Dort auf dem Schreibpult findet sich gewiss auch noch eine Karikatur von mir.

»Ach, Herr Serafin«, so stöhnt Ihr, Nonna Rosa, indem Ihr mir im altmodischen Schälchen den Kaffee reicht, der mit Zimt gewürzt ist, so wie ihn die Nonnen oben in der Abtei bereiten, »Ach, Herr Serafin, Giorgio hat sich schon wieder Farben gekauft! Und er will fort von hier! Will ein Maler werden!«

Und hinter Eurem Rücken blitzt die kleine Lydia – Lydiuccia, wie Ihr sie rieft, oder auch Duccella – mit ihren blanken Augen und errötet ein über das andere Mal. Warum wohl?

Ja warum wohl – – weil schon dreimal aus Neapel ein junger Herr heraufgekommen war – ein schöner, ganz parfümierter junger Herr, mit einer Samtweste und kanariengelben Wildlederhandschuhen und mit einem Monokel im rechten Auge und einer Freiherrnkrone im Taschentuch und auf dem Portefeuille. Er kam von seinem Grossvater, dem Baron Nuti, der früher eng mit Grossvater Carlo befreundet gewesen, bevor dieser sich von Neapel aufs Land zurückgezogen hatte. Ihr wisst noch davon, Nonna Rosa. Doch das wisst Ihr nicht, dass der junge Herr aus Neapel Euren Giorgio eifrig bedrängt hat, mit ihm hinunter zu kommen und ein Künstler zu werden. Aber Duccella weiss es, denn während der junge Herr Aldo Nuti so glühend von der Kunst spricht – wie seltsam! – da sieht er gar nicht Giorgio an, sondern sieht immer ihr in die Augen, als wollte er sie ermutigen und nicht Giorgio, ja wirklich, sie ermutigen, mit ihm nach Neapel zu kommen und dort immer bei ihm zu bleiben.

Deshalb errötet Duccella ein über das andere Mal hinter Eurem Rücken, Nonna Rosa, sobald sie Euch davon sprechen hört, dass Giorgio Maler werden will.

Und auch er, der junge Herr aus Neapel, möchte gern Künstler werden. Freilich nicht Maler, nein – aber Schauspieler! Zum Theater! Ach so gern! Wenn es nur der Grossvater nicht so missbilligte – –

Ich möchte wetten, Nonna Rosa, die kleine Duccella missbilligt es nicht minder!

 

§ 2

Das war ein idyllisches Leben. Etwa vier Jahre später – – – aber ich kenne die Geschichte nur in ganz grossen Zügen:

Ich hatte bei Giorgio Mirelli Nachhilfestunden gegeben. Ich war damals ein armer Student in vorgerücktem Semester und lebte immer noch in der Hoffnung, meine Studien doch einmal beenden zu können. Die ständigen Opfer, die meine Eltern dafür brachten, hatten in mir einen fast wütenden Eifer und unermüdlichen Fleiss erweckt, wenn schon Jahr um Jahr das ersehnte Ziel sich hinausschob.

Vielleicht war es doch keine verlorene Zeit. Ich begann für mich Latein und Griechisch zu treiben. Ich wollte vom technischen zum humanistischen Lyzeum umsatteln in der Hoffnung, mir so leichter den Weg auf die Universität zu bahnen. Mit Leidenschaft versenkte ich mich in die Arbeit, und als ich mit sechsundzwanzig Jahren unverhofft eine kleine Erbschaft machte – ein Onkel von mir, der Priester in Apulien war – und dessen Existenz meine Familie schon lange vergessen hatte – war gestorben – und mir nun der Weg zur Universität offen stand, da blieb ich lange unentschieden, ob ich nicht das technische Diplom ruhig in seinem Schubkasten weiter schlummern lassen und jetzt noch statt dessen die humanistische Matura absolvieren sollte, um mich in die philosophische Fakultät einschreiben zu können.

Aber ich folgte doch dem Rat der Eltern und ging nach Lüttich, wo ich mit allen Maschinen, die der Mensch für seine Glückseligkeit sich erfunden hat, eine ebenso gründliche wie qualvolle Bekanntschaft machte. Daneben aber trug ich ständig den Hang zur Philosophie im Herzen.

Dies wurde mir vielleicht zum Vorteil. Mit instinktiver Abscheu entfernte ich mich mehr und mehr von dem, was die andern als Wirklichkeit sahen und mit Händen griffen, ohne doch von mir aus eine eigene Realität dagegenstellen zu können, die in mir und um mich hätte gelten dürfen. Denn noch waren meine gleichsam entgleisten Gefühle nicht fähig, meinem halt- und liebelosen Leben Sinn oder Kraft zu geben. Nun sah ich alles, auch mich selbst, wie aus weiter Ferne. Und von nirgends kam mir ein liebreicher Wink, dem ich vertrauend und hoffnungsvoll hätte folgen können. Ich wusste nur: wer nicht trösten kann, der wird auch nicht getröstet.

Als ich einige Jahre später nach Neapel zurückkehrte, war ich arbeitslos. Solange noch die letzten Reste meiner kleinen Erbschaft ausreichten, führte ich ein Vagabundenleben mit den jungen Künstlern. Dann fand ich, wie ich schon berichtete, zufällig durch einen alten Freund, meinen jetzigen Posten. Und ich kann wohl sagen, ich fülle ihn zur Zufriedenheit aus und werde auch gut für meine Arbeit bezahlt. Ja, man hält mich allgemein für einen glänzenden Operateur: aufmerksam, gewissenhaft und dabei von vollkommener Teilnahmslosigkeit. Bin ich Polacco Dank schuldig, so ist er's gewiss auch mir, denn er hat beim Commendatore Borgalli, dem Generaldirektor der »Kosmograph«, nur Ehre mit mir eingelegt. Der Herr Gubbio ist ja bei keiner der vier Gesellschaften fest angestellt, sondern man beruft ihn bald hierhin, bald dorthin, um besonders lange und schwierige Filme zu kurbeln. Der Herr Gubbio leistet ja mehr als die fünf Operateure zusammen, und für jeden Film bekommt er auch eine schöne Gratifikation. Ich sollte eigentlich ganz zufrieden sein. Wenn nur die Sehnsucht nicht wäre, nach jener Zeit des Hungers und der tausend tollen Streiche, der Zeit mit den jungen Künstlern in Neapel.

Gleich nach meiner Rückkehr aus Lüttich traf ich Giorgio Mirelli wieder, der schon seit zwei Jahren in Neapel lebte. Er hatte kürzlich von sich reden machen durch zwei seltsame Bilder, die auf einer Kunstausstellung viel Widerspruch bei der Kritik hervorgerufen hatten. Er hatte noch immer Ungestüm und Glut eines Sechzehnjährigen. Genialisch gekleidet, mit wehenden Haaren, stoppeligem Kinn und eingefallenen Wangen, erschien er wie ein Kranker. Ein Kranker – freilich von einer göttlichen Krankheit besessen. Er ging wie unter einem Bann, der ihn mit geheimnisvollem Ruf zu fernem Ziele trieb.

Ich fragte ihn nach seiner Familie. Der Grossvater sei vor kurzem gestorben, erzählte er mir, und ich war erstaunt über seinen gleichgültigen Ton. Erst vor meinem Blick überkam ihn neue Trauer und er sagte: »Armer Grossvater!« und zeigte ein seltsames, von innen glühendes Lächeln.

Und Nonna Rosa? – Nonna Rosa ginge es gut soweit. Armes Mütterchen! Zwei Jasminsträusse musste sie nun jeden Morgen winden, einen für ihren Jungen und einen für ihren alten Toten.

Und Duccella! Duccella? Die sei schon seit einem Jahr mit dem jungen Baron Aldo Nuti verlobt. Die Hochzeit sei nur wegen des Grossvaters Tod verschoben worden. Aber der Bruder war gar nicht einverstanden damit. Aldo Nuti sei nicht der rechte Lebensgefährte für seine Schwester. Und dabei gestikulierte er mit beiden Händen in der Luft und rief genau wie damals, als ich mit ihm noch die unregelmässigen Verben studierte: »Verfluchtes Zeug das!« Und damit entwischte er mir rasch, genau wie damals, wenn ich ihn am Arbeitstisch festhalten wollte.

So entschwand er auch bald meinem Gesichtskreis und ich hörte nur von seinen Kameraden, dass er sich nach Capri begeben hätte, um dort zu arbeiten.

– Dort ist er dann Varia Nestoroff begegnet!

 

§ 3

Dass Menschen böser sein können als die reissenden Bestien, das hat sie mehr als einmal bewiesen: Varia Nestoroff.

Eine Jägerin so wie andere – – aber sie jagte nicht auf Wild. Und einer hat sich mit eigenen Händen für sie umgebracht: Giorgio Mirelli.

Und doch: den wilden Tieren mag bei ihrem Geschäfte wohl zumute sein, die Nestoroff aber – nach vielen Anzeichen zu schliessen – ist tief unglücklich. Sie freut sich ihrer Grausamkeit nicht, mit wieviel Kälte und Berechnung sie auch zu Werke gehen mag.

Nun mögt ihr denken, ich sei auch verliebt in sie. Das ist mir gleichgültig. Freilich, ich weiss, dass sie mich nicht leiden kann, aber ich erwidere diese Abneigung nicht, denn ich soll ja teilnahmslos sein, völlig unbewegt, eine »Hand an der Kurbel«! Und da darf ich weder lieben noch hassen, auch nicht die Nestoroff. Ist aber meine Arbeit getan, und ich bin nicht mehr nur die Hand, sondern werde wieder ein Mensch – dann – sind freilich meine Gefühle gegen diese Frau alles andere als liebevoll. Denn Giorgio Mirelli war ja mein Freund und »Grossvaters Haus« ist eine der schönsten Erinnerungen meiner Jugend. Und Grossmutter Rosa und die arme Duccella leben ja noch.

Aber da ich nun einmal eine unverbesserliche Neigung für alles Studieren habe, studiere ich diese Frau, leidenschaftslos und aufmerksam, diese seltsame Frau die sich all ihres Tuns so sicher bewusst zu sein scheint und die doch nicht dem verhassten Schema von Recht und Pflicht, von Gesinnung und Gefühl, von Meinungen und Gewohnheiten gehorcht, das alle anderen Menschen regiert.

Gewiss, sie denkt nur daran, Böses zu tun und alle die andern, die »Schematisierten«, verurteilen sie deswegen, aber ich glaube, sie selbst verurteilt es ebenso. Diese Frau hat etwas in sich, das niemand begreifen kann, auch sie selbst nicht – das man aber vielleicht ahnen kann, wenn man den seltsam heftigen Ausdruck beobachtet, den sie unwillkürlich beim Spielen ihrer Rollen annimmt.

Sie nimmt alle diese Rollen, auch die unsinnigsten und groteskesten, tief ernst, und es ist unmöglich, die Heftigkeit ihres Spiels zu bändigen. Sie allein verdirbt mehr Filmstreifen als alle anderen Schauspieler der vier Gesellschaften zusammengenommen. Entweder sie spielt sich ganz aus dem Gesichtsfeld heraus oder – tut sie das zufällig einmal nicht, ihre Aktion ist so wild und unlogisch, dass in dem Vorführungsraum fast alle ihre Szenen nicht bestehen können und noch einmal gedreht werden müssen.

Jede andere Schauspielerin, die nicht so wie sie Direktor Borgallis Wohlwollen besässe, wäre schon längst entlassen worden. Aber bei ihr, da ruft er nur immer, wenn ihm im Probesaal diese besessenen Szenen vorgeführt werden: »Oh lalala! – nein – wie ist das nur möglich – Gott, wie furchtbar – oh lalala« und dann nimmt er sich Polacco, den Regisseur vor, und kanzelt ihn ab.

Dieser verteidigt sich vergeblich, er habe der Nestoroff die Rolle eingehend erklärt. Der Direktor weiss ja ganz genau, dass den Polacco keine Schuld trifft, so genau, dass er deswegen noch eine erste Schauspielerin engagiert hat, die Sgrelli, damit nicht alle Films zum Teufel gehen. Aber die Nestoroff ihrerseits lässt es kaum zu, dass die Sgrelli spielt. Die andern meinen, sie täte das alles, um Polacco zu ruinieren. Und Polacco glaubt es auch und erzählt es herum. Aber es ist nicht wahr. Die Nestoroff ist selbst verzweifelt über diese unwillkürlichen Ausbrüche und starr vor Schrecken, wenn ihr eigenes Bild ihr so verändert und entstellt auf der Leinwand vorgeführt wird.

Sie sieht eine Frau: das soll also sie sein! Sie kann sich nicht wieder erkennen – – dennoch scheint diese andere einer Bekanntschaft wert.

Kann sein, dass sie schon seit vielen, vielen Jahren durch all die geheimnisvollen Abenteuer ihres Lebens hindurch hinter dieser andern her ist, die ihr immer entrinnt, dieser Besessenen in ihr selbst, um sie zur Rede zu stellen, warum sie sie so quält und nie in Frieden lässt. Wer sie einmal beobachtet hat, wie sie aus dem Probesaal herauskommt, wo ihr eigenes Bild ihr vorgeführt wurde, der kann gar nicht daran zweifeln. Es ist ein tragischer Anblick: diese gejagte Angst in den Augen, wie sie die Sterbenden im Todeskampf haben, und der ganze Leib dabei wie von einem Krampf geschüttelt.

Ich weiss schon, wie die andern das deuten werden, wenn sie darauf achten: »Das ist die Wut! Sie zittert vor Wut!« werden sie sagen.

Gewiss, es ist die Wut. Aber nicht die Wut über einen misslungenen Film, wie ihr meint, sondern eine kalte Wut, kalt und scharf wie eine Klinge, und auch tatsächlich die Waffe dieser Frau gegen alle ihre Feinde. Und Feinde werden alle Männer für sie, denen sie sich nähert, weil sie sie aufhalten bei der Verfolgung jener andern, die vor ihr flieht.

Darum hat sich vielleicht noch nie jemand gekümmert. Alle waren sie nur immer von ihrem herrlichen Körper geblendet und wollten nichts anderes von ihr haben oder wissen. Deshalb straft sie sie kalt und wütend, gerade dort, wo sie am empfindlichsten sind. Sie stachelt ihr Begehren aufs äusserste und wirft sich dann gleichsam fort, wie um zu zeigen, wie verächtlich ihr selbst das ist, was die andern an ihr bewundern. Ich glaube, anders kann man das jähe Hin und Her in ihren Liebesverhältnissen nicht erklären, das auf den ersten Blick unverständlich scheint und auch meist äusserlich nicht zu ihrem Vorteil dient.

Die meisten glauben, das tue sie, um sich »auszuleben«; das »Tier in ihr« treibe sie dazu. Aber wie, wenn gerade das Gegenteil richtig wäre? Wenn sie das Leben, ihr wahres Leben suchte und immer wieder enttäuscht würde von jener Selbstsucht, die nur die eigene liebe Seele pflegt, so dass sie sich dann wegwirft, weil sie sich höher achtet, als die andern – zum Tiere wird, um den Menschen in sich missachten zu können?

Nun lebt die Nestoroff schon seit mehr als einem Jahr mit dem sizilianischen Schauspieler Carlo Ferro zusammen, der auch bei der »Kosmograph« engagiert ist. Sie liebt ihn und steht ganz unter seinem Bann. Sie mag genau wissen, was sie von einem Menschen seines Schlages erwarten darf und verlangt wohl auch nichts anderes von ihm. Und doch scheint es manchmal, als könne er ihr mehr geben, als man glaubt.

 

§ 4

Es wird immer ein ungelöstes Rätsel bleiben, wie Giorgio Mirelli, der sich von allen Konflikten so scheu zurückhielt, sich so an diese Frau verlieren konnte, dass er sich zuletzt ihretwegen das Leben nahm.

Man hat mir berichtet, dass die Nestoroff damals in Capri, wo Giorgio Mirelli sie zum erstenmal sah, in ziemlich schlechtem Rufe stand. Die kleine russische Kolonie, die seit ein paar Jahren auf der Insel bestand, begegnete ihr mit grossem Misstrauen. Ja, man hielt sie sogar für eine Spionin, weil sie sich unklugerweise als Witwe eines früheren Nihilisten ausgegeben hatte, der vor ein paar Jahren in Berlin in der Verbannung gestorben sei. Man zog in Berlin und Petersburg Erkundigungen über sie ein, und es ergab sich, dass ein gewisser Nicola Nestoroff tatsächlich vor einigen Jahren aus Russland ausgewiesen und in Berlin gestorben sei. Ob freilich wegen politischer Vergehen, das stand nicht fest. Dabei ergab sich scheinbar auch, dass dieser Nicola Nestoroff sie als kleines Mädchen aufgelesen habe, um sie erziehen zu lassen und zu heiraten. Er sei später durch sein ausschweifendes Leben völlig verarmt und habe sie dann ausgebeutet, in den gemeinsten Café chantants auftreten lassen, bis er von der Polizei verfolgt, allein nach Deutschland geflohen sei. Aber die Nestoroff selbst leugnet, soviel ich weiss, alles dies ganz entschieden. Sie sei gegen seinen Willen und aus angeborener Neigung für das Theater zur Bühne gegangen und habe in der Provinz in ernsten Stücken gespielt. Als ihr Gatte dann aus politischen Gründen fliehen musste und in Berlin eine neue Heimat fand, sei sie ihm, als sie hörte, dass er krank und pflegebedürftig sei, aus Mitleid gefolgt und bis zu seinem Tod bei ihm geblieben. Was sie dann als Witwe in Berlin und später in Paris und Wien tat – sie schien alle diese Städte recht genau kennengelernt zu haben – darüber sprach sie nie. Und es wagte auch niemand, sie darnach zu fragen.

In Capri dann begegnete ihr Giorgio Mirelli.

Er war, wie ich schon erzählte, in einem ständigen Zustand der Schwärmerei. Und so kam es auch, dass er diese Frau nicht so sehen konnte, wie sie wirklich war, sondern in phantastischer Verklärung, in einem selbsterfundenen Licht. Er allein besass dieses Bild von ihr, und so konnte er auch das Glück, mit dem es ihn erfüllte, nicht auf sie übertragen. Nichts aber reizt uns mehr, als einer lebendigen Freude zu begegnen, von der wir ausgeschlossen sind, und deren Grund wir nicht einmal verstehen können. Hatte sie bisher die alle verachtet, die nichts anderes als ihren Leib begehrten, so stand jetzt einer vor ihr, der zwar auch den Leib meinte, aber nur zu geistiger Lust und einzig sich selbst zur Genüge.

Ich weiss von Giorgio Mirellis Kameraden, dass er damals noch mit keiner Frau verkehrt hatte, nicht etwa, weil er kein Glück bei den Frauen hatte, denn schüchtern war er ganz und gar nicht, sondern weil er instinktiv vor jeder gemeinen Zerstreuung zurückschreckte.

Um seinen Selbstmord, der ohne Zweifel zum grossen Teil mit der Nestoroff zusammenhing, zu verstehen, muss man wohl annehmen, dass sie, in gewissem Sinne vernachlässigt und aufs äusserste gereizt, mit feinster Kunst allmählich ihren Körper vor seinen Sinnen lebendig werden liess, nicht nur vor seinen Augen. Dann aber, als er endlich besiegt und in ihrer Hörigkeit war, erlaubte sie ihm keinen weiteren Schritt. Das, was er bisher einzig begehrt, einzig wert gehalten hatte, musste ihm jetzt genügen.

»Man muss annehmen«, sage ich – – das sieht vielleicht nach böswilliger Deutung aus. Die Nestoroff könnte anführen – und sie tut es wohl auch – dass sie das reine Freundschaftsverhältnis zwischen ihnen niemals habe trüben wollen; dass sie im Gegenteil, als er sich damit nicht mehr begnügen wollte, alles daran gesetzt habe, ihn von seinen Heiratsabsichten abzubringen. Und das ist auch wahr, scheinbar wahr! – Sie wollte heimlich aus Capri verschwinden und nur seine trostlose Verzweiflung hielt sie davon ab.

Aber will man böswillig deuten, so könnte man auch sagen, dass sie diesen ganzen Kampf und die Weigerungen und die Drohung abzureisen, zu verschwinden, nur geschickt in Szene setzte, um den Jungen zur Verzweiflung zu bringen und dann alles das von ihm zu verlangen, was er ihr sonst verweigert hätte, vor allem, dass er sie als seine Braut in das Sorrentiner Landhaus brachte und der Grossmutter vorstellte, der kleinen Schwester und ihrem Bräutigam.

Dieser nun, Aldo Nuti, scheint sich mehr noch als die beiden Frauen der Sache widersetzt zu haben. Die Heirat zu verhindern hatte er keine Macht. Aber dass Giorgio die Frau mit der Grossmutter und der Schwester zusammenbrächte, das wollte und durfte er nicht zulassen. Eine russische Abenteurerin, eine Schauspielerin und vielleicht noch etwas Schlimmeres, musste man sich da nicht mit allen Kräften widersetzen?

Ja, mit allen Kräften – das tat er denn auch. Aber wie veränderten sich diese Kräfte, als er zum erstenmal Varia Nestoroff erblickte, die schüchtern, schmal und lächelnd Grossvaters Landhaus betrat!

Mag sein, dass Giorgio ihr damals etwas erzählt hat von diesem Widerstand »mit allen Kräften«. Mag sein, dass die Nestoroff gerade deswegen Lust verspürte, sich mit diesen Kräften zu messen, sowie sie das Haus betreten hatte. Ich weiss nicht, wie es eigentlich zuging, ich weiss nur, dass Aldo Nuti wie in einen Strudel hineingerissen und verzehrt wurde, wie ein Strohhalm, von einer plötzlich aufflackernden Leidenschaft für diese Frau.

Ich kenne Aldo Nuti nicht. Ich sah ihn einmal als Jungen im Mirellischen Hause, als ich Giorgio Nachhilfestunden gab und fand ihn damals albern. Dem widerspricht so manches, was ich seither über ihn gehört habe und vor allem auch die Tatsache, dass die kleine Duccella ihn wirklich geliebt hat. Aber Liebe ist ja bekanntlich blind. Ob es nun wahr ist oder nicht, was man mir berichtet, dass er ein ernsthaft und tief veranlagter junger Mensch gewesen sei und von leidenschaftlichem Temperament – für mich bleibt er immer jenes alberne Jüngelchen mit der Freiherrnkrone im Taschentuch und auf dem Portefeuille, der junge Herr aus guter Familie, der so gern Schauspieler geworden wäre.

Nun, er hat auch Theater gespielt damals mit der Nestoroff. Freilich wurde es eine Tragödie, eine furchtbare Tragödie auf Kosten des armen Giorgio Mirelli. Sie begab sich in Neapel gleich nach dem kurzen Aufenthalt der Nestoroff in Giorgios Elternhause in Sorrent. Es scheint, dass Nuti die beiden Verlobten von dort nach Neapel begleitete, um ihnen die Stadt zu zeigen und bei der Wohnungssuche zu helfen.

Vielleicht hätte das Drama nicht ein so schreckliches Ende genommen, hätte nicht Nutis Verlobung, oder besser Duccellas Liebe zu Nuti dahinter gestanden. Das aber konnte Giorgio nicht überwinden, und so musste ihn das Grauen und der Widerwillen zermalmen, als er unvermutet den Verrat entdeckte. Nachdem es geschehen, entfloh Aldo Nuti wie ein Wahnsinniger aus Neapel, bevor Nonna Rosa und Duccella herbeieilen konnten auf die Nachricht von Giorgios Selbstmord.

Arme Duccella, arme Nonna Rosa! Diese Frau, die viele Meilen weit herkam, um soviel Wirrniss und Unglück in Euer Häuschen hinter den friedlichen Nachtjasminen zu tragen, – sie habe ich nun Tag für Tag hier unter meiner Kurbel. Und wenn Polaccos Mitteilungen stimmen, wird auch Aldo Nuti bald hier eintreffen, auf die Nachricht hin, dass die Nestoroff erste Schauspielerin bei der »Kosmograph« geworden sei.

Und ich weiss nicht, wie es zugeht, aber mein Inneres sagt mir, dass ich, während ich die Kurbel drehe, dazu bestimmt bin, Rache zu nehmen für Euch und Euren armen Giorgio, liebe Nonna Rosa! Liebe Duccella!


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