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Das sechste Heft
der
Aufzeichnungen des Filmoperateurs
Serafin Gubbio

 

§ 1

Süss und kühl ist das Fleisch der Winterbirnen, und doch findet sich in ihm hie und da ein holziger Knoten. Die Zähne, die lustig hineinbeissen wollen, stossen darauf und treffen ihr Hindernis. So ist es auch mit dem, was uns geschieht, süss und kühl zum mindesten ist es, zweien von uns doch voll heimlicher Härten.

Seit drei Tagen gehen wir jeden Morgen zusammen in die »Kosmograph«, Fräulein Luisetta, Aldo Nuti und ich.

Frau Nene vertraut wohl in Gedanken das Töchterchen Luisetta eher mir an als Nuti. Aber Luisetta selbst tut gerade so, als ginge sie nur mit Nuti und nicht mit mir.

Und da ist es dann so: Ich sehe das Fräulein Luisetta und sehe Nuti nicht – das Fräulein Luisetta sieht Nuti und sieht mich nicht – Nuti aber sieht weder mich noch das Fräulein. Und so spazieren wir selbander alle drei, fast ohne dass einer den andern beachtet.

Dies grosse Vertrauen der Mutter Nene sollte mich eigentlich etwas kränken. Aber es rührt mich nur. Es scheint mir ein Zeugnis für meine Unfähigkeit einerseits und meine Fähigkeit andererseits. Da aber für eine Frau wie Nene ein Mann, der nicht fähig ist, Schlechtes zu tun, überhaupt gar kein Mann ist, so sind die Fähigkeiten, die sie mir damit zuspricht, gewiss nicht auf einem männlichen Gebiet zu suchen. Arme brave Frau! Man muss sehen, wie sie mir jeden Morgen beim Fortgehen hinter dem Rücken ihrer Tochter mit gefalteten Händen und flehenden Blicken verstohlen zuflüstert: »Ihnen – ja Ihnen vertraue ich sie an!«

Sind wir dann auf der »Kosmograph«, so ändert sich das Bild und der Ernst des Lebens beginnt, trotzdem wir vorher noch am Eingang jeden Morgen auf Cavalena stossen, der dort pünktlich mit dem Glockenschlage und vor Angst zitternd seinen Posten einnimmt. Jeden Morgen erzähle ich ihm, was mit seiner Frau vorgeht, aber er macht noch keine Miene, sich wieder daran zu erinnern, dass er eigentlich Arzt ist. Er spielt den Zerstreuten und tut so, als verstünde er mich nicht: »Ach so? Famos – aber für den Augenblick ist es unmöglich. Gehe ich jetzt nach Hause, dann ist alles zu Ende. Ich muss jetzt hier Fuss fassen, muss Luisetta und mir eine feste Position begründen.«

Ach ja, eine feste Position: ist es nicht, als schwebten Vater und Tochter beide gleichsam in der Luft? Wenn man bedenkt, wie leicht, bequem und friedlich ihr Leben sein könnte. Da ist die Mitgift der Mutter, der brave Cavalena könnte ruhig seinem Berufe nachgehen; man brauchte keine fremden Mieter im Hause zu haben und Fräulein Luisetta könnte – so wie ihre Blumen auf dem Fensterbrett – ihre schönsten Mädchenträume in der Sonne pflegen. Aber nun wollen sie sich gar noch eine »feste Position« begründen, die beiden, und irren nun schon zwei Tage stumm und traurig, Seite an Seite zwischen den Ateliers und Apparaten umher.

Cocco Polacco, an den sie sich mit Nutis Hilfe jeden Morgen wenden, gibt ihnen immer wieder zur Antwort, dass für den Augenblick nichts zu tun sei. Aber heute Morgen, endlich, fand sich eine kleine Rolle für Fräulein Luisetta. Es war eine Kostümrolle aus dem achtzehnten Jahrhundert in einem farbigen Film, den der Regisseur Bongarzoni inszenierte.

Ich selbst arbeite in diesen Tagen mit Bongarzoni zusammen. Des Morgens, wenn ich komme, lasse ich Fräulein Luisetta bei ihrem Vater, gehe in die photographische Abteilung, um meinen Apparat zu holen und bekomme Nuti, Cavalena oder Luisetta oft stundenlang nicht mehr zu Gesicht. So wusste ich auch nichts von jener kleinen Rolle und war starr vor Staunen, als sie mir plötzlich in ihrem Kostüm gegenüberstand, wie aus einem Watteauschen Bilde herausgetreten.

Die Sgrelli war bei ihr. Die hatte sie sorgsam und liebevoll kostümiert und nun tupfte sie ihr noch ein Schönheitspflästerchen zurecht. Bongarzoni machte ihr viel Komplimente und die arme Kleine strengte sich an zu lächeln, ohne dabei den Kopf zu sehr zu bewegen, aus Angst, die riesige Frisur könnte herunterpurzeln.

Die kleine Szene war folgendermassen: eine Freitreppe, die in einen verborgenen Winkel eines Parkes führt. Das Dämchen tritt aus einer geschlossenen Glasveranda heraus, kommt zwei Treppenstufen herunter, beugt sich über das Geländer und späht ängstlich in den Park; dann kommt sie eilig ganz herunter und versteckt ein kleines Billet-doux unter einem Lorbeerbaum des Gartens.

»Achtung! Kurbeln!«

Ich glaube, so zart wie damals habe ich noch nie die Kurbel gedreht. Freilich, meine grosse, dreibeinige Spinne hatte das kleine Fräulein schon zweimal unter den Fühlern gehabt. Aber damals, im Bosco sacro, war meine Hand noch ganz ruhig, damals empfand sie wohl noch nichts. Und jetzt? –

Ach Gott, sie darf ja nicht, ich bin ja ruiniert, wenn meine Hand anfängt zu empfinden! Nein, Fräulein Luisetta, Sie sollten nie mehr filmen, es ist ein hässlicher Beruf, auch wenn man solches Talent dazu hat, wie Sie. Ja, das sagen alle, dass Sie grosses Talent haben, und ich habe es bei der heutigen Probe auch gespürt. Oder war sie nicht nur gespielt, diese bebende Angst, mit der Sie über das Geländer in den Park spähten – so natürlich, dass ich einen Augenblick gar nichts anderes glaubte, als die Nestoroff sei gekommen.

Drei Tage leben Sie nun schon in dieser Angst. Wir alle vielleicht, aber Sie ganz besonders. Und tatsächlich kann die Nestoroff auch jeden Tag wieder erscheinen. Seit neun Tagen hat sie sich nicht sehen lassen, aber sie ist in Rom – sie ist nicht abgereist. Nur Carlo Ferro ist allein mit ein paar anderen Schauspielern und Bertini nach Tarent gefahren.

Am Tage von Ferros Abreise – vor etwa zwei Wochen – kam Polacco strahlend zu mir, wie von einer Zentnerlast befreit:

»Sagte ich es dir nicht, du Kind? Er fährt auch in die Hölle, wenn das Weib es verlangt!«

Wenn er nur nicht wieder plötzlich wie eine Bombe zwischen uns platzt.

Aber dass er überhaupt abreiste, das ist schon viel wert und schwer genug zu erklären. Seine Worte klingen mir noch in den Ohren: »Ich kann einem Menschen gegenüber zum wilden Tier werden, ja, aber als Mensch vor einem wilden Tier stehen, das bringe ich nicht fertig!« Und trotzdem er sich dieses Unvermögens bewusst war, hatte er sich damals aus Ehrgeiz nicht zurückgezogen, sich nicht geweigert, vor das wilde Tier zu treten. Jetzt aber floh er vor einem Menschen. Denn seine Abreise, einen Tag nach Nutis Ankunft, war gewiss nichts anderes als Flucht.

Gewiss konnte die Nestoroff alles mit ihm machen, was sie wollte. Aber jetzt, gerade bei Nutis Ankunft, hörte ich doch alle Furien der Eifersucht aus ihm schreien, gerade auch in seiner Wut gegen Polacco. Er argwöhnte, dieser hätte ihn nicht nur zur Tigerszene bestimmt, um sich seiner zu entledigen, sondern auch Nuti gerade in diesem Augenblick hierher kommen lassen, damit er sich wieder der Nestoroff bemächtigen könne. Und dass er selbst der Nestoroff auch nicht sicher war, das wurde mir auch klar. Wie konnte er also abreisen?

Nein, nein! Hinter dieser Abreise steckt ohne Zweifel eine Abmachung, eine heimliche Falle. Die Nestoroff hätte ihn niemals durch die blosse Furcht um sein Leben zur Abreise bewegen können, nachdem gerade ein anderer Mann angekommen war mit dem sichtlichen Vorsatz, sich ihrer zu bemächtigen. Um dieser Angst willen wäre er nicht abgereist. Oder wenn ja, sie hätte ihn begleitet. Dass sie hier blieb und er dem Nuti das Feld räumte, das bedeutet, dass eine Abmachung zwischen ihnen besteht. Sie müssen zusammen ein so dichtes und sicheres Netz ausgespannt haben, dass er trotz aller Eifersucht ruhig fahren konnte. Und nach dieser Abmachung mochte sie wohl als Probe des Vertrauens von ihm verlangt haben, dass er sie hier allein mit Nuti lasse. Tatsächlich kam sie nach Carlo Ferros Abreise während einiger Tage augenscheinlich nur zu dem Zweck in die »Kosmograph«, um Nuti zu begegnen. Sie war selbst zur Zeit unbeschäftigt, so konnte es keinen andern Grund geben. Und als sie dann erfuhr, dass Nuti krank sei, kam sie auch nicht mehr. Und jetzt kann sie jeden Augenblick wieder erscheinen. Und was wird dann geschehen?

Polacco passt beständig auf. Er lässt Nuti kaum von seiner Seite. Und muss er ihn einen Augenblick allein lassen, so verständigt er sich vorher heimlich mit Cavalena. Nuti aber scheint ziemlich ruhig zu sein. Auch die Dumpfheit, die in den ersten Tagen nach seiner Krankheit über ihm lag, scheint von ihm genommen. Er lässt sich von Cavalena und Polacco überall herumführen und zeigt ein gewisses Interesse für die Welt des Films. Polacco schlug ihm auch schon mehrmals eine kleine Rolle vor, aber er lehnte es ab mit der Begründung, dass er sich erst ein wenig eingewöhnen und den andern zusehen wolle.

»Mimik ohne Worte,« bemerkte er gestern zu mir, nachdem er der Inszenierung eines Bildes zugesehen hatte, »ist eigentlich etwas Quälendes und muss jeden Ausdruck übertreiben und verzerren. Beim Sprechen, da kommt der Ausdruck von selbst; aber ohne Worte –«

»Nun dann spricht man für sich!« fiel ihm die kleine Sgrelli – Sgrellina, wie wir sie alle nennen – seltsam ernsthaft ins Wort. »Man spricht innerlich, um den Ausdruck nicht zwingen zu müssen.«

»Ja richtig!« sagte Nuti, als hätte sie ihm das Wort aus dem Munde genommen. Und Sgrellina tippte sich mit dem Zeigefinger auf die Stirn und sah uns alle der Reihe nach mit einem drolligen Ausdruck an, als wollte sie fragen: »Bin ich nun klug oder nicht?«

Alles lachte, sogar Nuti. Polacco wäre ihr am liebsten um den Hals gefallen. Vielleicht hoffte er, Nuti werde als Nachfolger Gigetto Fleccias diesen auch in ihrem Herzen ablösen und sie werde das Wunder fertigbringen, ihn von der Nestoroff frei zu machen. In dieser Hoffnung hatte er ihm auch sämtliche jungen Schauspielerinnen der vier Gesellschaften vorgestellt. Aber es schien, als wolle Nuti auf nichts reagieren. Und die andern hätten sich auch wohl davor gescheut, der Sgrellina einen Tort anzutun, ebenso wie diese gewiss schon bemerkt hatte, dass sie ihrerseits dem kleinen Fräulein weh tun würde, das seit drei Tagen mit Nuti und mit »Herrn Kurbeln« zusammen in die »Kosmograph« kam.

Wer hätte das nicht bemerkt? Vielleicht Nuti. Und auch er scheint schon Verdacht zu haben. Aber das Seltsame daran ist – und das möchte ich einmal dem Fräulein zu verstehen geben –, dass sein Verdacht gerade eine gegenteilige Wirkung in ihm hervorruft. Er wird dadurch nur um so sicherer zur Nestoroff hingetrieben.

Ist es wohl möglich, dies dem Fräulein zu verstehen zu geben?

Mit dem Blute seines Herzens an zwei Frauen hängend, die ihn beide zurückstossen, kann Nuti für sie kein Auge mehr haben. Wohl kann er sie für ein Traumbild halten, für das Bild Duccellas, das ihm im Fieberwahn einen Augenblick erschien. Aber nun das Fieber vorüber ist, wird der Traum zu einer quälenden Erinnerung und Fräulein Luisetta treibt ihn durch diesen Schatten Duccella, anstatt ihn anzuziehen, nur um so sicherer in die Arme der Nestoroff.

Und nun sehe ich mit Rücksicht auf sie, auf ihn und schliesslich auch auf mich selbst nur einen letzten verzweifelten Ausweg: nach Sorrent zu fahren, nach so viel Jahren in »Grossvaters Haus« zu treten, in Duccella die Erinnerung an ihre erste Liebe zu wecken und sie dazu zu bringen, dass sie herkommt und jenem Schatten Fleisch und Blut verleiht, den eine andere nährt, mit all ihrer Liebe und all ihrem Mitleid.

 

§ 2

Heute morgen um Acht brachte man mir ein Briefchen der Nestoroff – eine überraschende und geheimnisvolle Aufforderung, mit Fräulein Luisetta zusammen zu ihr zu kommen, bevor wir in die »Kosmograph« gingen. So musste ich meine Abreise verschieben.

Eine Zeitlang betrachtete ich ratlos das Billett. Fräulein Luisetta, schon zum Ausgehen bereit, ging draussen auf dem Korridor vorüber, und ich rief sie an:

»Hier lesen Sie!« Sie überflog es bis zur Unterschrift, wurde – wie meistens – rot bis unter die Haarwurzeln, dann ganz blass, und ihre Augen nahmen einen feindseligen Ausdruck an. Zweifelnd und furchtsam fragte sie mich mit schwacher Stimme:

»Was kann sie wollen?«

Ich zuckte die Achseln und antwortete nicht. Ich wollte zuerst hören, was sie dazu sagte.

»Ich gehe nicht hin!« rief sie und machte ein zorniges Gesicht. »Was kann sie auch von mir wollen?«

»Sie wird erfahren haben,« erwiderte ich, »dass er – dass Herr Nuti hier wohnt, und – –«

»Nun und –?«

»Sie wird Ihnen vielleicht etwas sagen wollen – ich weiss nicht – seinetwegen.«

»Mir?«

»Ich denke mir, auch Ihnen, da sie Sie ja bittet, mich zu begleiten.«

Wieder befiel sie ein Zittern und auch ihre Stimme bebte, als sie fragte:

»Und was hat es denn mit mir zu tun?«

»Ich weiss nicht. Mit mir ja auch nichts. Und doch braucht sie offenbar uns beide.«

»Und was kann sie mir denn zu sagen haben wegen des Herrn Nuti?«

Ich zuckte wieder die Achseln und sah ihr fest in die Augen, als wollte ich ihr zu verstehen geben, dass sie, Fräulein Luisetta, zu Unrecht so abweisend gegen eine Dame sei, deren Zuneigung sie zuerst so beglückt hätte. Sie verstand mich und geriet in noch grössere Verwirrung.

»Ich vermute,« fügte ich hinzu, »dass sie Gutes im Schilde führt, wenn sie auch mit Ihnen sprechen will. Ich bin es sogar gewiss. Es braucht sie nicht so sehr aus der Fassung zu bringen.«

»Ja, das ist nur, weil ich mir gar nicht denken kann, was es sein mag, auch wenn es etwas Gutes ist. Ich, eine ganz Fremde, die doch gar nichts – –«

»Mit der ganzen Sache zu tun hat, nicht wahr? Nun, ich auch nicht,« fiel ich ihr kühl ins Wort. »Nun vielleicht glaubt sie, dass Sie ihr irgendwie helfen können –«

»Nein, nein! Ganz fremd, das ist das richtige Wort,« erwiderte sie hastig. »Ganz fremd will ich ihr bleiben und gar nichts damit zu tun haben, was mit Herrn Nuti und dieser Dame geschieht.«

»Tun Sie, was Sie für richtig halten,« sagte ich, »dann werde ich eben allein hingehen. Ich brauche Sie wohl nicht erst darauf aufmerksam zu machen, dass es ratsam ist, dem Nuti nichts von diesem Brief zu erzählen.«

»Ja, gewiss!« versicherte sie und ging in ihr Zimmer.

Ich aber blieb noch lange stehen, das Briefchen in der Hand und dachte darüber nach, welche Haltung ich wider meinen Willen in diesem kurzen Zwiegespräch gegen das Fräulein eingenommen hatte.

Der wahre Grund, weshalb ich der Nestoroff jene gütigen Absichten untergeschoben hatte, war ja nur die entschiedene Weigerung Fräulein Luisettas gewesen, mich zu einem Unternehmen zu begleiten, das, wie sie fühlte, heimlich gegen Nuti gerichtet war.

Nun aber, anstatt sich von Nuti zu entfernen, entfernte sich Fräulein Luisetta von mir und liess mich allein zur Nestoroff gehen. Auch nicht einen Augenblick war es ihr in den Sinn gekommen, dass sie doch mit mir zusammen, gleichsam als meine Verbündete, hätte hingehen sollen; nur an Nuti hatte sie gedacht und mich zählte sie jetzt gewiss auch zu der Partei der Nestoroff, zu Nutis und folglich auch zu ihren eigenen Feinden.

Mit solchen Gefühlen ging ich denn allein. Zudem trieb mich eine gewisse Neugierde, zu wissen, was die Nestoroff mir sagen wollte – ein Verlangen, sie aus der Nähe zu sehen in ihrem eigenen Hause, obgleich ich mir weder von ihr noch dem Hause intime Enthüllungen erwartete.

Ich wusste, dass die Nestoroff in der Via Mecenate eine kleine, vornehm möblierte Wohnung hatte. Eine Zofe – die sicher über meinen Besuch unterrichtet war – öffnete mir. Aber sie war sich nicht ganz klar über mich, sie erwartete offenbar in meiner Begleitung eine Dame zu sehen. Man hat ja für die Leute, die einen nicht kennen, keine andere Wirklichkeit als die der äusseren Merkmale, die hellen Beinkleider oder den dunkelbraunen Überzieher oder das englische Schnurrbärtchen. So hatte die Zofe von mir nur die Vorstellung, dass ich mit einer Dame zusammen kommen müsste. Ohne die Dame konnte ich ja auch jemand anderer sein; deshalb liess sie mich erst eine Weile vor der Tür stehen, ehe sie mich in den Salon führte.

»Allein? Und Ihre kleine Freundin?« kam mir die Nestoroff entgegen. Doch sie stockte mitten im Satz. Zwischen »Ihre« und »kleine Freundin« liess sie den Ton sinken, die Stimme versagte ihr fast in einem plötzlichen Umschwung des Ausdrucks.

Dieser Umschwung war wohl durch die Blässe und den Kummer auf meinem Gesicht veranlasst und durch meinen schweren, fragenden Blick. Sie sah mich an und begriff sofort, wie verstört ich war. Da verlor auch sie selbst alle Farbe. Ihre Augen wurden seltsam trübe, ihre Stimme versagte, und sie begann am ganzen Leibe zu zittern.

Dieses selben Leibes Verklärung zu einem wunderbaren Leben, sein Aufgehen in einem Licht, dessen Kraft und Wärme sie kaum im Traum hatte ahnen können, sein sieghaftes Einswerden mit allen Farben der ihn umgebenden Natur, war auf sechs grossen Bildern an den Wänden des Salons wiedergegeben – sechs Wunderwerken der Liebe und der Kunst – den Bildern des Giorgio Mirelli.

Dort war sie für immer festgehalten in der göttlichen Wirklichkeit, die er ihr gegeben. Die Frau dagegen, die nun vor mir stand, was war sie noch davon? Wie kläglich und elend war die Wirklichkeit des Lebens, in die sie nun gesunken war! Wie hatte sie es über sich bringen können, ihr Haar mit diesem seltsamen Kupferrot zu entstellen – dieses herrliche Haar, das dort auf den Bildern in seiner natürlichen Farbe ihr traumverzaubert lächelndes Gesicht mit soviel Reinheit umgab?

Sie wurde fast demütig unter meinen Blicken, die unwillkürlich eine gewisse Verachtung ausdrückten; es war, als zöge sie sich wie vor Scham in sich selbst zurück. Aber die Art, wie sie mich ansah, das schmerzhafte Zucken ihrer Brauen und ihrer Lippen, und ihre ungewisse Haltung sagten mir, dass sie meine Verachtung nicht nur als wohlverdient empfand, sondern mir sogar dafür dankbar zu sein schien, weil sie darin die Züchtigung für ihr Vergehen und ihren Fall erkannte und genoss. Sie hatte sich selbst zerstört, sich das Haar gefärbt, war gesunken bis in diese elende Wirklichkeit, wo sie mit einem rohen und ungebildeten Menschen zusammenlebte, um sich selbst zu quälen. Das war klar. Und niemand, der ihr nahe kam, sollte ihr diese Selbstverachtung nehmen. Sie hatte sich dazu verdammt – sie verbarg ihren Stolz darein. Denn nur durch diese heftige und stolze Selbstverachtung fühlte sie sich noch dieses leuchtenden Traumes wert, in dem sie einen Augenblick lang gelebt hatte und von dem jene sechs Bilder bleibendes Zeugnis ablegten.

Nicht die andern, nicht Nuti, sondern sie, sie selbst hatte diesen Traum gewaltsam zerstört, war gleichsam aus ihm herabgestürzt. Und weshalb? Der tiefste Grund dazu lag vielleicht weit in der Vergangenheit. Wer kennt die verschlungenen Pfade der Seele? Wer ihre dunkle Qual und ihre raschen unheilvollen Entschlüsse? Der Grund dazu – vielleicht war er in dem Leid zu suchen, das die Männer ihr seit ihrer Kindheit angetan, in den Lastern ihrer Heimat und ruhelosen Jugend, die ihr Herz so versehrt hatten, dass es sich der erlösenden Liebe dieses jungen Mannes nicht mehr würdig fühlte.

Wie klein, wie erbärmlich und verächtlich erschien mir plötzlich meine ganze Umgebung und alles, was mir sonst wichtig war, gegenüber dem tiefen Fall und Unglück dieser Frau! Wie albern dieser Nuti in seiner Geckenhaftigkeit, eine Puppe aus einem Modejournal ausgeschnitten! Wie plump die beiden Cavalena, er und sie – wie dumm Polacco mit seiner stolzen Schlachtenlenkermiene! Und wie dumm vor allem ich selbst in der Rolle des Trösters und Wächters, die ich mir angemasst, über ein armes, kleines Seelchen!

Mir war es, als rückten alle Menschen und auch ich selbst plötzlich in weite Ferne vor diesem Gefühl. Ich fühlte mich vor jeder Beteiligung an der Umwelt befreit und wieder ganz in meinem Amt als teilnahmsloser Kurbelmensch, beherrscht nur von der einen Einsicht, dass dieser ganze strudelnde und abgründige Mechanismus des Lebens nichts anderes als Stumpfsinn erzeugen kann. Hässlichen und plumpen Stumpfsinn! Was sind das für Menschen, was für Leidenschaften, was für ein Leben in einer Zeit wie der unseren? Tollheit, Verbrechen oder Stumpfsinn – ein einziger grosser Film! Hier vor mir die Frau mit dem kupferroten Haar. Dort auf den Bildern der leuchtende Traum eines Jünglings, der nicht in einer solchen Zeit zu leben vermocht hatte. Die Frau aus dem Traum herabgestürzt – von der Kunst zum Film gesunken. Schnell also einen Kurbelkasten her. Wenn dies kein Drama gibt! Die Hauptperson steht ja schon vor mir! »Achtung! Kurbeln!«

 

§ 3

Die Nestoroff verstand, so wie sie mir zuerst die Verachtung vom Gesicht gelesen hatte, jetzt auch meinen Abscheu und meine plötzliche Kälte. Die Verachtung hatte ihren Beifall gehabt. Aber es missfiel ihr offenbar, dass sie mich plötzlich wieder in die Teilnahmslosigkeit meines Berufes zurückversetzt sah. So sah auch sie mich kühl und streng an.

»Ich hoffte, Fräulein Cavalena bei Ihnen zu sehen.«

»Ja, ich gab ihr Ihren Brief,« erwiderte ich. »Sie wollte gerade in die ›Kosmograph‹ gehen. Ich bat sie, mitzukommen – –«

»– und sie wollte nicht?«

»Sie hielt es wohl nicht für richtig. Vielleicht weil sie die Wirtin ist – –«

»Ah!« Und sie warf den Kopf zurück. – »Gerade deshalb bat ich sie doch hierher – weil sie die Wirtin ist.«

»Darauf habe ich sie aufmerksam gemacht.«

»Und trotzdem hielt sie es nicht für recht, zu kommen?«

Ich zuckte die Achseln.

Sie blieb einen Augenblick in Gedanken. Dann sagte sie mit leichtem Seufzer:

»Ich habe mich getäuscht. An jenem Tag – erinnern Sie sich noch daran – als wir zusammen nach dem Bosco sacro fuhren, schien sie mir so liebenswürdig und schien auch so gerne mit mir zusammen zu sein – – aber freilich damals war sie noch nicht seine Wirtin. Doch entschuldigen Sie, sind Sie denn nicht auch Ihr Mieter?« Sie lächelte, wie um mich zu verletzen, als sie sich plötzlich mit dieser Frage an mich wandte. Und ich fühlte mich, trotz meines Vorsatzes, von allem unberührt zu bleiben, tatsächlich verletzt. Ich erwiderte:

»Ja, zwischen Mieter und Mieter ist eben ein Unterschied. Man interessiert sich für den einen vielleicht mehr als für den andern.«

»Ich glaubte das Gegenteil,« sagte sie. »Macht Ihnen das nicht Freude?«

»Weder Freude noch Ärger, gnädige Frau.«

»Nein, wirklich! Verzeihen Sie, ich habe ja eigentlich kein Recht, Aufrichtigkeit von Ihnen zu verlangen. Aber ich selbst nahm mir vor, heute aufrichtig gegen Sie zu sein.«

»Und ich kam ja auch –«

»Weil Fräulein Cavalena mehr Interesse für den anderen Mieter hat, nicht wahr?«

»Nein, gnädige Frau, Fräulein Cavalena sagte nur, sie wolle nichts mit dem Ganzen zu tun haben.«

»Und Sie auch nicht?«

»Aber ich bin doch gekommen.«

»Ja, und ich danke Ihnen dafür. Aber Sie sind allein gekommen. Und dies – – vielleicht täusche ich mich auch darin – macht mich etwas misstrauisch, nicht etwa, weil ich glaubte, dass auch Sie sich mehr für den anderen Mieter interessieren; nein, im Gegenteil –«

»Was meinen Sie?«

»Dass Ihnen gar nichts an diesem anderen Mieter gelegen ist. Und nicht nur das! Sie würden sich sogar freuen, wenn ihm irgend etwas Böses zustiesse. Weil Fräulein Cavalena Ihnen durch ihre Weigerung gezeigt hat, dass sie mehr zu ihm hält als zu Ihnen. Verstehen Sie mich recht?«

»Oh nein, gnädige Frau, Sie täuschen sich!« rief ich entschieden.

»Ist sie also nicht gegen Sie?«

»Nein! Das heisst – genau genommen – ist sie gegen mich. Aber jetzt eigentlich nicht mehr meinetwegen. Ich bin wirklich recht unbeteiligt.«

»Sehen Sie« – unterbrach sie mich, »das fürchtete ich gleich, als ich Sie allein hier eintreten sah. Geben Sie zu, dass Sie nicht so unbeteiligt wären, wenn das Fräulein mit Ihnen gekommen wäre?« –

»Aber ich bin doch trotzdem gekommen!«

»Als Unbeteiligter.«

»Nein, gnädige Frau, sehen Sie, ich habe mehr getan, als Sie vielleicht glauben. Ich habe sehr lange mit dem armen Nuti gesprochen und mit allen Mitteln versucht, ihm zu zeigen, dass er nichts mehr erwarten kann nach alledem, was geschehen ist, wenigstens so, wie er es mir erzählt hat.«

»Und was hat er Ihnen denn erzählt?« forschte die Nestoroff sogleich.

»Viele dumme Sachen, gnädige Frau, er redet irre und ich glaube, man muss ihn um so mehr fürchten, je weniger er eines wirklich ernsten und tiefen Gefühles fähig ist. Dafür sprechen schon gewisse Absichten, mit denen er herkam – –«

»Racheabsichten?«

»Nein, nicht gerade Rache. Er weiss es selbst nicht genau. Zum Teil sind es wohl Gewissensbisse, die er aber auch nicht wahr haben will und deren Stachel er auch nur oberflächlich fühlt. Denn, wie gesagt, einer wahren, aufrichtigen Reue, die ihn reifen und zur Vernunft bringen könnte, ist er nicht fähig. Zum Teil sind es Gewissensbisse, zum Teil ist's Wut oder sagen wir lieber Ärger – denn Wut ist auch ein zu starkes Wort für ihn – –. Der leise uneingestandene Ärger, sich betrogen zu fühlen – –«

»Von mir?«

»Das wollte er mir nicht eingestehen!«

»Aber Sie glauben es?«

»Ich glaube, gnädige Frau, dass Sie ihn nie ernst genommen haben, und dass Sie sich seiner nur bedient haben, um frei zu werden von – –«

Den Namen wollte ich nicht nennen – Ich hob die Hand und zeigte auf die Bilder an den Wänden. Die Nestoroff zog die Brauen zusammen und senkte den Kopf. Ich sah sie eine Weile schweigend an. Ich war nun entschlossen, den Dingen auf den Grund zu gehen. Und so fuhr ich fort:

»Er spricht von Verrat. Von einem Verrat Mirellis, der sich getötet habe nur wegen eines Beweises, den Nuti ihm erbracht – des Beweises, dass er von Ihnen – verzeihen Sie! mit Leichtigkeit das erlangen könnte, was Mirelli nie erlangt hatte.«

»Ach, sagt er das?« fragte sie rasch und heftig.

»Das sagt er. Aber er gesteht auch ein, nichts von Ihnen erlangt zu haben. Er redet irre. Er will sich an Sie hängen, denn wenn er so allein bliebe, würde er wahnsinnig werden.«

Die Nestoroff sah mich fast bestürzt an:

»Sie verachten ihn?«

» Sehr achte ich ihn gewiss nicht. Ein wenig Verachtung empfinde ich und ein wenig Mitleid.«

Sie sprang in heftiger Erregung auf:

»Ich aber« – rief sie – »ich hasse die Mitleidigen!«

»Das verstehe ich sehr wohl,« antwortete ich ruhig.

»Und Sie verachten mich deswegen?«

»Nein, gnädige Frau, ganz und gar nicht.«

Sie sah mich an und lächelte bitter und geringschätzig:

»Dann bewundern Sie mich also?«

»Ich bewundere an Ihnen das,« antwortete ich, »was ich an andern vielleicht verachten würde. Mit der gleichen Verachtung übrigens, die Sie vielleicht zu erwecken trachten, um vor Mitleid sicher zu sein.«

Sie sah mich schärfer an, trat ganz nahe an mich heran und sagte:

»Und wollen Sie damit nicht sagen, dass auch Sie in gewissem Sinn Mitleid mit mir haben?«

»Nein, gnädige Frau, »nur Bewunderung, weil Sie selbst sich zu bestrafen wissen.«

»Wirklich, haben Sie das verstanden?« sagte sie mit plötzlich verändertem Ausdruck und wie von einem Schauer geschüttelt.

»Schon seit einer Weile, gnädige Frau.«

»Obwohl alle andern mich verachten?«

»Vielleicht grade deswegen.«

»Auch ich habe es schon seit einer Weile bemerkt,« sagte sie und drückte mir herzlich die Hand. »Ich danke Ihnen! Aber ich kann auch strafen, glauben Sie mir das,« fügte sie rasch hinzu, indem sie mir ihre Hand wieder entzog und wie beschwörend die Finger hob. »Ich weiss auch zu strafen, mitleidslos, so wie ich für mich selbst nie Mitleid verlangt habe, noch verlange!« Sie ging erregt im Zimmer auf und ab und wiederholte:

»Mitleidslos, ja mitleidslos!«

»Aber wenn Sie so unbarmherzig sind, dann würden Sie ihm vielleicht noch mehr Böses antun, wenn er sich Ihnen nähern dürfte, nicht wahr? Sie wollen ihn fernhalten – –«

»Ja, weil ich die bleiben will, die ich bin. Ich würde ihm mehr Böses antun, jawohl. Aber mir würde es gut tun, weil ich mich dann an ihm rächen würde, statt an mir selbst. Ich will ihn nicht, verstehen Sie? Nicht weil ich Erbarmen mit ihm hätte, sondern weil ich keines mit mir selbst haben will. Er mag nur fortgehen und in der Einsamkeit weinen.«

»Ich fürchte,« sagte ich, »dass auch er dazu keine grosse Lust mehr verspürt.«

»Und was will er denn tun?«

»Tja! Ich sagte vorhin, er sei zu nichts fähig; man könnte vielleicht auch sagen, dass er in seiner jetzigen Verfassung zu allem fähig wäre.«

»Ich fürchte ihn nicht! Sehen Sie? Das ist es ja gerade, deswegen bat ich Sie ja, herzukommen, dass Sie ihm das sagen sollen. Ich fürchte nicht, dass er mir irgend etwas antun könnte. Auch wenn er mich töten würde, oder wenn ich seinetwegen ins Gefängnis kommen sollte. Auch dann nicht. Ein jedes Leid wäre für mich geringer als das Leid, das ich jetzt trage und das ich weitertragen will. Wehe ihm, wenn er versucht, ein wenig Mitleid in mir zu erwecken. Ich habe keines! Wenn Sie aber welches mit ihm haben, der Sie eine so mitleidige Seele sind, dann bringen Sie ihn dazu, fortzugehen! Das ist es, was ich von Ihnen verlange, eben weil ich vor nichts Furcht habe!«

Während sie so sprach, sah ich nur, wie sie sich mit verzweifelter Anstrengung bemühte, ihre eigentlichen Gefühle zu verbergen.

Ich blieb eine Zeitlang gebannt und verwirrt, voll Angst und doch voll Bewunderung für sie. Dann zuckte ich die Achseln und erzählte ihr, um keine leeren Versprechungen zu machen, von meinem Vorsatz, das kleine Landhaus in Sorrent aufzusuchen. Sie hörte mir verschlossen zu, wie um sich zu schützen gegen den Brand der Erinnerung. Sie schloss schmerzlich die Augen, schüttelte den Kopf und sagte: »Sie werden nichts erreichen.«

»Wer weiss,« seufzte ich, »ich will es wenigstens versuchen.«

Sie drückte mir bewegt die Hand: »Vielleicht werde auch ich etwas für Sie tun.«

Mehr überrascht als neugierig sah ich sie an: »Sie für mich? Und was wäre denn das?«

Sie zog die Schultern hoch und lächelte etwas mühsam: »Ich sage, vielleicht – – irgend etwas – – Sie werden schon sehen.«

»Ich danke Ihnen. Aber ich weiss wirklich nicht, was Sie für mich tun könnten. Ich habe nie grosse Ansprüche an das Leben gestellt und jetzt stelle ich fast gar keine mehr – wirklich gar keine, gnädige Frau.«

Ich verabschiedete mich und ging fort, ein wenig beunruhigt durch dieses geheimnisvolle Versprechen.

Was hatte sie vor? Sie hatte, wie ich richtig vermutet, Carlo Ferro mit kühler Besonnenheit fortgeschickt, obwohl sie voraussah, dass er jeden Augenblick zurückkehren und irgendein Unheil anstiften könne. Und trotzdem dachte sie daran, mir irgendetwas Gutes anzutun. Und was wohl? Was hatte ich denn zu tun mit diesen ganzen traurigen Verwicklungen? Wollte sie mich gewaltsam hineinverstricken? Mich verband mit alledem doch höchstens meine frühere Freundschaft mit Giorgio Mirelli und ein unbestimmtes Gefühl für das kleine Fräulein Luisetta. Aber damit konnte sie mich doch nicht fassen, mit der Freundschaft für Einen, der lange gestorben war oder mit einem Gefühl, das selbst schon wieder im Sterben lag.

Und doch, wer weiss? Es ist seltsam und lässt mir keine Ruhe!

 

§ 4

Grossvaters Haus! Ist es das wirklich?

Das heisst, eigentlich ist es gar nicht oder doch nur wenig verändert. Nur das Gatter ist ein wenig höher und zwei kräftige Pilaster an Stelle der beiden zierlichen, von denen Grossvater Carlo einst das Marmorschildchen mit seinem Namen entfernt hatte.

Aber konnte dieses neue Gatter so ganz und gar das Aussehen des alten Häuschens ändern? Ich erkannte es wieder und trotzdem schien es mir ganz fremd. Wie traurig ist das! Die Erinnerung versucht sich am Leben festzuhalten und doch verändern sich alle Dinge in ihr, weil das Gefühl sich verändert, mit dem wir sie ergreifen wollen. Und dabei hatte ich geglaubt, mit den gleichen Gefühlen wie einst, mich dem Landhäuschen zu nähern.

Ich zog die Klingel. Ein alter Gärtner öffnete mir, die Hemdärmel bis zu den Ellenbogen aufgekrempelt, eine Giesskanne in der Hand und einen Hut ohne Krempe, wie ein Priesterkäppchen auf dem Kopfe.

»Ist Donna Rosa Mirelli zu Hause?«

»Wer?«

»Ist sie gestorben?«

»Aber von wem sprechen Sie denn?«

»Von Donna Rosa.«

»Ob die gestorben ist, woher soll ich denn das wissen?«

»Sie wohnt also nicht mehr hier?«

»Aber ich weiss doch gar nicht, von was für einer Donna Rosa Sie sprechen. Hier wohnt sie nicht. Hier wohnt Persico, Cavaliere Filippo Persico.«

»Ist er verheiratet? Ist er der Mann von Donna Duccella?«

»Nein, Herr, er ist Witwer und lebt in der Stadt.«

»Hier wohnt also niemand?«

»Doch, hier wohne ich, Nicola Tavuso, der Gärtner.«

Die Blumen, die sich in allen Farben an den Hecken zu beiden Seiten des Gartenweges emporrankten, standen wie gläsern in der stillen Luft und tropften noch von dem Wasser aus seiner Giesskanne. Blumen, wohl gestern erst erblüht; doch an den gleichen, alten Hecken. Ich sah sie an und sie trösteten mich. Sie sagten mir, dass wirklich jetzt Tavuso hier wäre, dass er sie jeden Morgen gut begoss, und dass sie es ihm zu danken wussten, in frischem Tropfenglanze lachend.

Glücklicherweise kam jetzt ein altes Bauernweiblein dazu, mit einem Gemüsekorb auf dem Kopf.

»Donna Rosa? Ja doch, unsere alte Herrin – die wohnt schon lange nicht mehr hier. Sie lebt, mein Herr, aber natürlich lebt sie – die gute, alte Frau, mit ihrem Enkelkind, ja Herr, mit Fräulein Duccella. Gute Seelen das – ganz zu Gott gehört sie – nichts von der Welt will sie wissen, gar nichts – – hier das Haus haben sie verkauft. Ja Herr, schon lange Zeit. An den Don Filippo – –«

»An den Cavaliere Persico.«

»Aber so geht doch, Don Nico, wir kennen ihn doch alle nur als Don Filippo! Und jetzt Herr, wenn Ihr mit mir kommen wollt, bringe ich Euch zu Donna Rosa. Dort oben, neben der neuen Kirche.«

Bevor ich ging, betrachtete ich noch einmal das kleine Haus. Es bedeutete mir plötzlich nichts mehr. Da lag es armselig, alt und leer. Rein gar nichts – und einstmals vielleicht wandelte Donna Rosa und Duccella – – nein – nein – auch sie nicht mehr. Traumschatten, süsse teure Schatten, sonst nichts. Ich liess mich von der Bäuerin führen, die mir immerzu dabei von Don Filippo erzählte. Ich war müde und dachte schon daran, wieder zum Bahnhof zurückzukehren, da standen wir vor dem Hause. Eine schmale, feuchte, fast dunkle Treppe führte hinauf, und die Alte rief von unten hinter mir her: »Gerade zu, nur immer gerade zu – bis zum zweiten Stock, die Klingel ist kaput – Ihr müsst stark klopfen, sehr stark klopfen, sie ist taub.«

Auf dem Flur im zweiten Stock waren zwei niedrige, frisch gestrichene Türen. An einer hing ein abgegriffener Klingelzug. Welche Tür war nun die richtige? Ich klopfte zuerst laut an die eine: einmal, zweimal, dreimal – keine Antwort. Ich versuchte an der Klingel zu ziehen; es ging nicht. Dann klopfte ich auch hier, dreimal, viermal hintereinander. Ob Duccella auch taub war? Oder waren sie vielleicht nicht zu Hause? Ich wollte schon wieder gehen, da hörte ich schlürfende Schritte die Treppe heraufkommen und keuchendes Atmen, wie von jemand, dem das Steigen schwer fällt. Es war eine etwas untersetzte Frau, im braunen Karmeliterkleid, mit dem Büsserstrick gegürtet, einem schwarzen Kopftuch um die Schultern und einem grossen Gebetbuch und den Hausschlüssel in der Hand. Auf dem Treppenabsatz blieb sie stehen und wandte mir ihr weisses etwas gedunsenes Gesicht zu, aus dem ein Paar helle, aber erloschene Augen mich ansahen; um ihre Lippen, in der Gegend der Mundwinkel, sprossten hie und da ein paar Härchen. Duccella!

Ich hatte genug gesehen. Ich hätte auf und davonstürzen mögen. Wenn sie wenigstens so vor mir stehengeblieben wäre, ausser Atem, mit dem reglosen, stumpfen Gesicht! Aber nein, sie wurde lebendig, sie wollte liebenswürdig sein – sie, mit diesen Augen, die nicht mehr ihre Augen waren, mit diesem bleichen, dicken Nonnengesicht, mit einer Stimme und einem Lächeln, das ich nicht wieder erkannte. Ich wurde mit Komplimenten und Schmeicheleien bedacht, als ob mein Besuch eine ganz besondere Ehre bedeute. Ich müsse unbedingt eintreten und die Grossmutter begrüssen: »Beehren Sie uns doch, bitte beehren Sie uns doch.«

Und nun, welch erschütternder Anblick! Ein altes, taubes, zahnloses, hilflos vor sich hinmummelndes Frauchen mit spitz vorspringendem Kinn und runden Brillengläsern, die die toten, am grauen Star gestochenen Augen ins Riesige vergrösserten.

»Also einen schönen Posten habt Ihr jetzt,« sagte sie immer wieder in ihrem singenden, neapolitanischen Tonfall, »einen schönen Posten.« Etwas anderes wusste sie nicht.

Ich lief davon, ohne dass ich auch nur daran dachte, mit dem Zweck meines Kommens herauszurücken. Wozu auch davon sprechen? Wozu auch nur sich nach ihren Verhältnissen erkundigen? Man sah ja an dem ganzen Haushalt, wie elend und schlecht es ihnen ging! Aber sie schienen dumpf in ihr Schicksal ergeben und glücklich in Gott! Ach wie grauenvoll ist der Glaube!

Des Nachts im Zuge glaubte ich in den Wahnsinn selber hineinzufahren. In was für einer Welt lebte ich? Mein Reisegefährte, ein Mann in mittleren Jahren, mit eirunden, gläsernen Augen und schwarzen glänzend pomadisierten Haaren, ja, der war bestimmt von dieser Welt. So selbstbewusst schien er und so sicher in dem Gefühl seiner vollendeten, tierischen Dummheit. Alles verstand er prächtig, ohne sich über irgend etwas zu beunruhigen. Er kannte das Ziel seiner Reise, den Grund seiner Reise, das Haus, in dem er wohnen wollte und das Abendessen, das ihn erwartete. Aber ich? Gehörte ich denn zu der gleichen Welt? Seine Reise und die meine – seine Nacht und die meine – nein, für mich war keine Zeit und kein Raum, für mich gab es nichts. Der Zug gehörte ihm, er reiste in ihm. Wie konnte ich da auch in ihm reisen? Wie hatte ich Raum in derselben Welt, in der er lebte? In welchem Sinne war denn diese Nacht die meine? Sein war sie ja, und die ganze Zeit gehörte ihm, diesem Mann in mittleren Jahren, der sich jetzt ein wenig müde und gelangweilt den Kragen am Vorhemd aufknöpfte. Nein, nicht Zeit, nicht Welt; ich war ausserhalb von allem, war von mir selbst und vom Leben ausgeschlossen. Ich wusste nicht mehr, wo ich sei, noch warum ich da sei. Bilder trug ich in mir, die waren nicht meine eigenen; Erinnerungen an Dinge und Menschen, die in der Welt, in die jener Herr dort mit seinen Händen griff und sah, niemals existiert hatten. Auch ich hatte sie zu ergreifen geglaubt, aber es war nicht wahr gewesen! Ich fand sie nicht mehr, denn sie hatten ja nie bestanden. – Schatten waren es – Träume! Wie konnten sie mir in den Sinn kommen? Woher? Und warum? War ich vielleicht denn auch ein Ich? Nein, nein, der Herr in den mittleren Jahren sagte mir: Nein! Er sagte mir, dass es nur die andern gäbe, jeden nach seiner Art und mit seiner Welt und mit seiner Zeit. Mich aber, mich gäbe es gar nicht. Und wenn auch, so wüsste ich doch nicht, wo ich eigentlich sei und was ich eigentlich sei, so ganz ohne Zeit und ohne Welt.

Ich begriff nichts mehr. Und begriff auch nichts, als ich wieder in Rom war und gegen zehn Uhr abends nach Hause kam. Ich fand Fabrizio Cavalena, der sich besonnen hatte und wieder in den Schoss seiner Familie zurückgekehrt war, Aldo Nuti, Fräulein Luisetta und Frau Nene im Speisezimmer beim Abendessen fröhlich vereint, als hätte seit meiner Abwesenheit ein neues Leben für sie begonnen.

Weshalb wohl? Was war geschehen? Ich konnte mich des Eindrucks nicht erwehren, als täten sie nur vor mir so heiter und versöhnlich, um mir eine Freude zu machen und mich für die Mühe meiner Reise, die ich ihretwegen unternommen, zu entschädigen. Oder vielleicht gar, weil sie ahnten, in welcher Verfassung ich zurückkehren würde und sich verabredet hatten, mich vollends zu verwirren, indem sie mich auch hier eine niemals erwartete, ganz überraschende Wirklichkeit vorfinden liessen.

Vor allem ärgerte mich das Fräulein Luisetta, die die verliebte Duccella nachahmte, die süsse Duccella, von der ich ihr so viel gesprochen hatte. Ich hätte ihr ins Gesicht schreien mögen, wie ich jetzt diese Duccella dort unten wiedergefunden, und dass sie nun mit dieser unwürdigen Komödie aufhören solle. Und auch ihm, dem jungen Herrn, der plötzlich geheilt und wieder der alte schien, hätte ich zurufen mögen, was aus Duccella und Donna Rosa geworden war.

Nein, ihr guten Leute! Die beiden armen Frauen, von denen ich kam, sind glücklich in Gott – ihr hier seid glücklich im Teufel! Nein, ich danke; hier ist kein Platz für mich unter euch! Bleibt nur ruhig und lasst euch nicht stören. Ich mag weder essen noch trinken. Ich brauche gar nichts. Ich habe ja nur euretwegen ein wenig von dem verschwendet, was mir doch zu nichts nütze ist; ihr wisst schon, was ich meine: ein wenig von dem Herzen, das ich doch zu nichts gebrauchen kann. Denn ich brauche ja nur meine Hand. Kein Grund zum Dank also! Vielmehr verzeiht, wenn ich euch gestört habe. Ich tat unrecht daran, mich in eure Angelegenheiten einmischen zu wollen. Lasst euch ja nicht stören. Ja nicht. Und gute Nacht.


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